Frank Dikötter
Chinas
Kulturrevolution
Aus dem Englischen
von Marlies Glaser
und Jörn Pinnow
Für die englischsprachige Originalausgabe
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel The Cultural Revolution. A People’s History,
1962–1976 bei Bloomsbury Publishing. Ein Imprint von
Bloomsbury Publishing Plc.
© Frank Dikötter, 2016
Karte: John Gilkes
Für die deutschsprachige Ausgabe
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© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Übersetzung: Marlies Glaser und Jörn Pinnow
Lektorat: Gabriele Schneider und Birgit Albrecht, Berlin
Satz: schreiberVIS, Bickenbach
Einbandabbildung: akg-images
Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin
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ISBN 978-3-8062-3384-1
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3545-6
eBook (epub): 978-3-8062-3546-3
„Wer sind unsere Freunde? Wer sind unsere Feinde?
Das ist eine Frage, die für die
Revolution erstrangige Bedeutung hat.“
Mao Zedong
Vorwort
Chronologie
Karte
Teil eins Die frühen Jahre (1962–66)
1 Zwei Diktatoren
2 Den Klassenkampf nie vergesssen
3 Krieg an der Kulturfront
4 Viererclique
Teil zwei Die roten Jahre (1966–68)
5 Plakatkriege
6 Roter August
7 Zerstörung der alten Welt
8 Mao-Kult
9 Verbindungen knüpfen
10 Rebellen und Royalisten
11 Auftritt der Armee
12 Das Wettrüsten
13 Die Feuer löschen
Bildteil
Teil drei Die schwarzen Jahre (1968–71)
14 Säuberung der Klassenränge
15 Hinauf in die Berge, hinunter in die Dörfer
16 Vorbereitungen für den Krieg
17 Lernen von Dazhai
18 Weitere Säuberungen
19 Der Sturz eines Thronfolgers
Teil vier: Die grauen Jahre (1971–76)
20 Erholung
21 Die stille Revolution
22 Die zweite Gesellschaft
23 Umkehrungen
24 Nachwirkungen
Dank
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Register
Im August 1963 empfing der Vorsitzende Mao eine Gruppe afrikanischer Guerillakämpfer in der Versammlungshalle des Staatsrats, einem eleganten holzgetäfelten Saal im Herzen des Regierungsviertels in Beijing. Einer der jungen Besucher, ein kräftiger, breitschultriger Mann aus Südrhodesien, hatte eine Frage. Er glaubte, der rote Stern, der über dem Kreml geleuchtet hatte, sei verschwunden. Die Sowjets, die früher die Revolutionäre unterstützt hatten, verkauften jetzt Waffen an ihre Feinde. „Worüber ich mir Sorgen mache, ist Folgendes:“, sagte er, „Wird der rote Stern über dem Tiananmen-Platz in China ebenfalls erlöschen? Werdet ihr uns ebenfalls im Stich lassen und Waffen an unsere Unterdrücker verkaufen?“ Mao nahm nachdenklich ein paar Züge aus seiner Zigarette. „Ich verstehe deine Frage“, sagte er. „Es ist so: Die UdSSR hat sich dem Revisionismus zugewandt und die Revolution verraten. Kann ich dir garantieren, dass China die Revolution nicht verraten wird? Eine solche Garantie kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben. Aber wir versuchen mit allen Mitteln, China davor zu bewahren, korrupt, bürokratisch und revisionistisch zu werden.“1
Drei Jahre später, am 1. Juni 1966, rief ein agitatorischer Leitartikel in der Renmin Ribao, der Volks-Tageszeitung, die Leser auf: „Alle Monster und Dämonen wegfegen!“. Das war der Startschuss für die Kulturrevolution, die Bevölkerung wurde aufgefordert, Repräsentanten der Bourgeoisie zu denunzieren, die es darauf abgesehen hätten, „die Werktätigen zu täuschen, zu betrügen und zu betäuben, um ihre reaktionäre staatliche Macht zu festigen“. Als wäre das noch nicht genug, kam bald ans Licht, dass vier der obersten Parteiführer unter Arrest gestellt worden waren, angeklagt, ein Komplott gegen den Vorsitzenden geschmiedet zu haben. Unter ihnen der Bürgermeister von Beijing. Er hatte vor den Augen des Volkes versucht, die Hauptstadt in eine Hochburg des Revisionismus zu verwandeln. Konterrevolutionäre hatten sich in die Partei, in die Regierung und die Armee eingeschlichen und versuchten, das Land auf den kapitalistischen Weg zu führen. Jetzt begann eine neue Revolution in China. Das Volk wurde ermutigt, sich zu erheben und diejenigen aufzuspüren, die versuchten, die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur der Bourgeoisie zu verwandeln.
Wer genau diese Konterrevolutionäre waren und wie sie es geschafft hatten, ins Innere der Partei einzudringen, war unklar. Der Hauptvertreter des modernen Revisionismus war jedoch Nikita Chruschtschow, der sowjetische Staats- und Parteichef. In einer Geheimrede, die 1956 das sozialistische Lager bis ins Innerste erschütterte, hatte Chruschtschow die Reputation seines Vorgängers Josef Stalin zerstört, indem er Details seiner Schreckensherrschaft aufzählte und den Personenkult attackierte. Zwei Jahre später schlug Chruschtschow eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Westen vor. Dieses Konzept verstanden die wahren Gläubigen auf der ganzen Welt, einschließlich des jungen Guerillakämpfers aus Südrhodesien, als Verrat an den Prinzipien des revolutionären Kommunismus.
Mao, der sich an Stalin orientiert hatte, fühlte sich durch die Entstalinisierung persönlich bedroht. Er musste sich fragen, wie Chruschtschow in der mächtigen Sowjetunion, dem ersten sozialistischen Land der Welt, im Alleingang eine solch völlige Umkehr der Politik hatte bewirken können. Immerhin hatte Wladimir Lenin, ihr Gründer, nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 konzertierte Angriffe fremder Mächte erfolgreich abgewehrt und Stalin ein Vierteljahrhundert später den Überfall durch Nazideutschland überlebt. Die Antwort auf diese Frage war, dass zu wenig unternommen worden war, um das Denken der Menschen zu verändern. Die Bourgeoisie war verschwunden, doch die bourgeoise Ideologie war immer noch vorherrschend und ermöglichte es einigen wenigen ganz oben, das gesamte System zu untergraben und schließlich zu stürzen.
Nach kommunistischer Diktion war mit Vollendung der sozialistischen Transformation des Eigentums an Produktionsmitteln eine neue Revolution nötig, um sämtliche Überbleibsel der bourgeoisen Kultur endgültig auszulöschen, angefangen von privaten Gedanken bis hin zu privaten Märkten. Genauso wie der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus einer Revolution bedurfte, so bedurfte der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus ebenfalls einer Revolution: Mao gab ihr den Namen Kulturrevolution.
Es war ein gewagtes Projekt, das darauf zielte, sämtliche Spuren der Vergangenheit zu tilgen. Doch hinter all diesen theoretischen Rechtfertigungen stand die Entschlossenheit eines alternden Diktators, seinen Rang in der Weltgeschichte sicherzustellen. Mao war von seiner eigenen Größe, über die er ständig sprach, überzeugt und sah sich als führenden Kopf des Kommunismus. Das war nicht nur Hybris. Der Vorsitzende hatte ein Viertel der Menschheit zur Befreiung geführt, und im Koreakrieg gelang es ihm, im Kampf gegen das imperialistische Lager einen Stillstand des Bewegungskrieges zu erreichen.
Der erste Versuch des Vorsitzenden, die Sowjetunion zu übertrumpfen, war der „Große Sprung nach vorn“ im Jahr 1958, als die Menschen auf dem Land in riesigen Kollektiven, Volkskommunen genannt, zusammengetrieben wurden. Dadurch, dass er Kapital durch Arbeit ersetzte und das gewaltige Potenzial der Massen nutzte, glaubte er, sein Land an seinen Konkurrenten vorbeikatapultieren zu können. Mao war überzeugt, er habe die goldene Brücke zum Kommunismus gefunden, über die er als eine Art Messias die Menschheit in ein Schlaraffenland führen würde. Der „Große Sprung nach vorn“ war jedoch ein verheerendes Experiment, das viele Millionen Menschen das Leben kostete.
Die Kulturrevolution war Maos zweiter Versuch, zum historischen Fixstern zu werden, um den das sozialistische Universum kreiste. Lenin hatte die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ durchgeführt und so einen Präzedenzfall für das Proletariat der ganzen Welt geschaffen. Moderne Revisionisten wie Chruschtschow hatten jedoch die Führung der Partei usurpiert und die Sowjetunion auf den Weg der kapitalistischen Restauration zurückgeführt. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ war die zweite Etappe in der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung, welche die Diktatur des Proletariats vor dem Revisionismus bewahren sollte. Die Grundpfeiler der kommunistischen Zukunft wurden in China eingeschlagen, der Vorsitzende würde die unterdrückten und geknechteten Völker der Welt in die Freiheit führen. Mao war der Erbe, der den Marxismus-Leninismus verteidigte und auf eine neue Stufe hob, die der Marxismus-Leninismus-Mao-Zedong-Ideen.
Wie viele Diktatoren verquickte Mao grandiose Vorstellungen über seine eigene historische Bestimmung mit einer außerordentlichen Fähigkeit zur Boshaftigkeit. Er war schnell beleidigt und nachtragend, hatte dabei ein gutes Gedächtnis für Kränkungen. Gefühllos gegenüber menschlichem Verlust, gab er in den vielen Kampagnen zur Einschüchterung der Bevölkerung beiläufig Tötungsquoten aus. Mit zunehmendem Alter griff er seine Kollegen und Untergebenen, einige davon langjährige Kampfgenossen, immer häufiger an, unterwarf sie öffentlicher Demütigung, Folter und Inhaftierung. Daher ging es bei der Kulturrevolution auch um einen alten Mann, der am Ende seines Lebens persönliche Rechnungen beglich. Diese beiden Aspekte der Kulturrevolution – die Vision einer sozialistischen Welt ohne Revisionismus sowie das schmutzige, rachsüchtige Komplott gegen echte und imaginäre Feinde – schlossen einander nicht aus. Mao unterschied nicht zwischen seiner Person und der Revolution. Er war die Revolution. Der geringste Zweifel an seiner Autorität war eine unmittelbare Bedrohung der Diktatur des Proletariats.
Und seine Position wurde häufig infrage gestellt. 1956 hatten einige der engsten Verbündeten des Vorsitzenden die Geheimrede von Chruschtschow genutzt, um jegliche Bezugnahme auf die Mao-Zedong-Ideen aus den Parteistatuten zu entfernen und den Personenkult zu kritisieren. Mao kochte vor Wut, hatte aber kaum eine andere Wahl, als dies hinzunehmen. Doch der größte Rückschlag ereignete sich im Anschluss an den „Großen Sprung nach vorn“, eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes, die direkt durch seine starrköpfigen politischen Entscheidungen verursacht wurde. Mao war nicht paranoid, wenn er vermutete, dass viele seiner Kollegen seinen Rücktritt wünschten und ihn für den massenhaften Hungertod einfacher Menschen verantwortlich machten. Viele Gerüchte über ihn machten die Runde, ihm wurde vorgeworfen, er sei verblendet, nicht fähig zu rechnen und gefährlich. Sein gesamtes Vermächtnis war in Gefahr. Der Vorsitzende befürchtete, ihn könne dasselbe Schicksal treffen wie Stalin, der nach seinem Tod verurteilt wurde. Wer würde Chinas Chruschtschow werden?
Mehrere Kandidaten standen zur Wahl, angefangen mit Peng Dehuai, einem Marschall, der im Sommer 1959 in einem Brief den „Großen Sprung nach vorn“ kritisiert hatte. Doch Liu Shaoqi, die Nummer zwei der Partei, war ein noch plausiblerer Anwärter auf den Titel, denn er hatte im Januar 1962 vor einer Versammlung von Tausenden von Parteifunktionären die Hungersnot als eine von Menschen verursachte Katastrophe bezeichnet. Kaum war die Konferenz vorbei, begann Mao mit den Vorbereitungen für eine Säuberung. „Wir müssen unsere Partei bestrafen“, nannte er das im Dezember 1964.2
Doch Mao verbarg seine Strategie sorgfältig. Die Rhetorik der Kulturrevolution war absichtlich vage, denn „Klassenfeinde“, „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen“ und „Revisionisten“ wurden nur pauschal beschuldigt. Nur wenige führende Parteifunktionäre konnten sich bedroht gefühlt haben, denn es gab 1965 keine echten „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen“ innerhalb der oberen Ränge der Partei, schon gar nicht Liu Shaoqi oder Deng Xiaoping, der Generalsekretär der Partei. Obwohl sie die Hauptangriffsziele für den Zorn des Vorsitzenden waren, hatten sie keine Ahnung, was kommen sollte. Liu leitete von 1962 bis 1965 eine der bösartigsten Säuberungsaktionen der Kommunistischen Partei in der neueren Geschichte, bei der fünf Millionen Parteimitglieder bestraft wurden. Er versuchte verzweifelt, sich als würdiger Nachfolger des Vorsitzenden zu erweisen. Deng, seinerseits, war einer der lautstärksten Kritiker des sowjetischen Revisionismus. Leonid Breschnew, der 1964 die Macht übernahm, nannte ihn einen „anti-sowjetischen Zwerg“. Beide Männer waren lautstarke Unterstützer des Vorsitzenden und halfen ihm, die frühen Opfer der Kulturrevolution, einschließlich des ahnungslosen Bürgermeisters von Beijing, zu Fall zu bringen.
Mao brachte seine Gegner mit der Präzision eines Fallenstellers zur Strecke. Doch sobald alles vorbereitet war und die Kulturrevolution im Sommer 1966 ausbrach, verselbstständigte sie sich mit unbeabsichtigten Folgen, die selbst der meisterhafteste Stratege nicht hätte vorhersehen können. Mao wollte die höheren Machtebenen säubern, doch um dies zu erreichen, konnte er sich kaum auf den Parteiapparat verlassen. Er wandte sich stattdessen an junge, radikale Schüler und Studenten, einige von ihnen nicht älter als 14 Jahre, und erteilte ihnen die Genehmigung, Autoritäten zu denunzieren und „die Hauptquartiere zu bombardieren“. Doch die Parteifunktionäre hatten ihre Überlebensstrategien in jahrzehntelangen politischen Flügelkämpfen geschult, und nur wenige waren dazu bereit, sich einer Gruppe schreiender, selbstgerechter Rotgardisten geschlagen zu geben. Viele lenkten die Gewalt von sich weg, indem sie die Jugendlichen dazu ermutigten, die Häuser von Klassenfeinden zu überfallen, die als gesellschaftliche Außenseiter gebrandmarkt waren. Einige Kader brachten es sogar fertig, eigene Rote Garden aufzubauen, alles im Namen der Mao-Zedong-Ideen und der Kulturrevolution. Im Sprachgebrauch der Zeit hieß dies, „sie hielten die rote Fahne hoch, um die rote Fahne zu bekämpfen“. Die Roten Garden begannen einander zu bekämpfen, zerstritten über die Frage, wer innerhalb der Partei die wahren Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen, innerhalb der Partei seien. An einigen Orten versammelten sich Parteiaktivisten und Fabrikarbeiter zur Unterstützung ihrer bedrängten Anführer.
Als Reaktion darauf drängte der Vorsitzende die gesamte Bevölkerung, sich der Revolution anzuschließen, indem er sie dazu aufrief, „die Macht zu ergreifen“ und die „bourgeoisen Machthaber“ zu stürzen. Das Ergebnis war eine soziale Explosion beispiellosen Ausmaßes, sämtliche während der Jahre kommunistischer Herrschaft aufgestauten Frustrationen wurden freigesetzt. Es mangelte nicht an Menschen, die einen Groll gegen Parteifunktionäre hegten. Doch anstatt alle Anhänger der „bourgeois-reaktionären Linie“ säuberlich hinwegzufegen, spalteten sich die „revolutionären Massen“ ebenfalls. Unterschiedliche Splittergruppen drängten an die Macht und begannen, einander zu bekämpfen. Mao benutzte die Menschen während der Kulturrevolution; gleichzeitig aber manipulierten viele Menschen die Kampagne, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen.
Im Januar 1967 war das Chaos so weit fortgeschritten, dass die Armee intervenierte, um die Revolution durchzusetzen und die Situation durch Unterstützung der „wahren proletarischen Linken“ unter Kontrolle zu bringen. Da verschiedene Militärführer verschiedene Splittergruppen unterstützten, die sich alle gleichermaßen sicher waren, die wahre Stimme Mao Zedongs zu repräsentierten, schlitterte das Land in einen Bürgerkrieg.
Und doch setzte der Vorsitzende sich durch. Er war kalt und berechnend, aber auch sprunghaft, launisch und unbeständig, blühte auf im gewollten Chaos. Er improvisierte, und unterwarf und zerstörte dabei Millionen von Menschen. Er mochte nicht ganz Herr der Situation sein, doch er hatte die Befehlsgewalt, genoss das Spiel, dessen Regeln er ständig umschreiben konnte. Zeitweise schaltete er sich ein, um einen treuen Anhänger zu retten oder, umgekehrt, einen engen Mitstreiter den Wölfen vorzuwerfen. Eine einzige Äußerung von ihm entschied das Schicksal zahlloser Menschen, wenn er die eine oder die andere Splittergruppe als „Konterrevolutionäre“ bezeichnete. Sein Urteil konnte sich über Nacht ändern, so setzte er eine scheinbar endlose Spirale der Gewalt in Gang, in der die Menschen sich darum schlugen, dem Vorsitzenden ihre Loyalität zu beweisen.
Die erste Phase der Kulturrevolution endete im Sommer 1968, als neue sogenannte Revolutionskomitees die Partei und den Staat übernahmen. Sie wurden weitgehend von Militäroffizieren dominiert, und so konzentrierte sich die wahre Macht in den Händen der Armee. Die Komitees boten eine vereinfachte Befehlskette, an welcher der Vorsitzende Gefallen fand, denn seine Befehle konnten sofort und ohne weitere Fragen ausgeführt werden. Während der nächsten drei Jahre verwandelten sie das Land in einen Besatzungsstaat, in dem Soldaten die Schulen, Fabriken und Regierungseinheiten überwachten. Als Erstes wurden Millionen unerwünschter Elemente, darunter Schüler und Studenten und andere, die den Vorsitzenden beim Wort genommen hatten, aufs Land verbannt, um „von den Bauern umerzogen“ zu werden. Dann folgte eine Reihe brutaler Säuberungsaktionen, in denen die Revolutionskomitees diejenigen ausmerzten, die auf der Höhe der Kulturrevolution Kritik geäußert hatten. Die Rede war nicht mehr von „Machthabern, die einen kapitalistischen Weg verfolgen“, sondern von „Verrätern“, „Renegaten “ und „Spionen“. Spezielle Komitees wurden zur Untersuchung angeblicher Feindverbindungen einfacher Leute sowie ehemaliger Funktionäre eingesetzt. Auf eine landesweite Hexenjagd folgte eine umfassende Kampagne gegen Korruption, die die Bevölkerung bis zur völligen Unterwerfung einschüchterte, da fast jede Handlung und jede Äußerung potenziell kriminell waren. In manchen Provinzen war jeder Fünzigste von solchen Säuberungsaktionen betroffen.
Doch Mao misstraute dem Militär, insbesondere Lin Biao, der im Sommer 1959 das Verteidigungsministerium von Peng Dehuai übernommen und dem Studium der Mao-Zedong-Ideen in der Armee den Weg bereitet hatte. Mao hatte Lin Biao benutzt, um die Kulturrevolution in Gang zu setzen und am Laufen zu halten, doch Marschall Peng Dehnai nutzte im Gegenzug die Unruhen aus, um seine eigene Machtbasis auszuweiten, indem er seine Anhänger in der gesamten Armee in Schlüsselpositionen installierte. Er starb im September 1971 bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz, was dem Einfluss des Militärs auf das zivile Leben ein Ende bereitete.
Mittlerweile hatte der revolutionäre Rausch fast alle erschöpft. Selbst auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution zeigten viele einfache Menschen aus Misstrauen gegenüber dem Einparteien-Staat nicht mehr als eine äußerliche Zustimmung, behielten aber ihre innersten Gedanken und persönlichen Gefühle für sich. Jetzt erkannten viele von ihnen, dass die Partei durch die Kulturrevolution schwer beschädigt worden war. Sie nutzten die Gelegenheit, um ihr Leben in Ruhe weiterzuleben, selbst als der Vorsitzende während seiner letzten Jahre an der Macht weiterhin eine Splittergruppe gegen die andere ausspielte. Wenn der „Große Sprung nach vorn“ insbesondere auf dem Land die Glaubwürdigkeit der Partei zerstört hatte, so zersetzte die Kulturrevolution ihre Organisation. In einer schweigenden Revolution ließen Abermillionen von Landbewohnern heimlich traditionelle Gepflogenheiten aufleben, eröffneten Schwarzmärkte, verteilten kollektives Eigentum, teilten das Land auf und betrieben Untergrundfabriken. In vielen ländlichen Gebieten hatte man sogar schon vor Maos Tod im September 1976 die Planwirtschaft aufgegeben.
Dies sollte eines der beständigsten Vermächtnisse eines Jahrzehnts voll Chaos und tief sitzender Furcht werden. Keine kommunistische Partei hätte organisierten Widerstand toleriert, doch waren die Kader auf dem Land gegen unzählige tägliche Aktionen voll stillem Widerstand und endloser Tricks wehrlos, während die Menschen versuchten, die ökonomische Dominanz des Staates zu schwächen und durch eigene Initiative und Einfallsreichtum zu ersetzen. Deng Xiaoping, der wenige Jahre nach Maos Tod die Macht ergriff, versuchte, kurz die Planwirtschaft wiederzubeleben, erkannte jedoch bald, dass er kaum eine andere Wahl hatte, als mit dem Strom zu schwimmen. Die Volkskommunen, das Rückgrat der kollektivierten Wirtschaft wurden 1982 aufgelöst.3
Die schrittweise Aushöhlung der Planwirtschaft war ein unbeabsichtigtes Ergebnis der Kulturrevolution. Ein weiteres Ergebnis war die Zerstörung der Überreste des Marxismus-Leninismus und der Mao-Zedong-Ideen. Als Mao starb, drängten die Menschen auf dem Land nicht nur auf größere wirtschaftliche Chancen, sondern viele hatten sich auch von den ihnen in den Jahrzehnten des Maoismus aufgezwungen ideologischen Fesseln befreit. Endlose ideologische Umerziehungskampagnen hatten, sogar unter den Parteimitgliedern selbst, eine weitverbreitete Skepsis hervorgerufen.
Doch es gab ein noch viel dunkleres Erbe. Auch wenn die Kulturrevolution auf menschliche Verluste bezogen längst nicht so mörderisch war wie frühere Kampagnen, insbesondere die Katastrophe, die während Maos großer Hungersnot entfesselt worden war, hinterließ sie eine Spur zerstörten Lebens und kultureller Verwüstung. Nach allem was man weiß, wurden während der zehn Jahre andauernden Kulturrevolution zwischen 1,5 bis 2 Millionen Menschen umgebracht, doch noch viel mehr Menschenleben wurden durch endlose Denunziationen, falsche Geständnisse, Kampfversammlungen und Verfolgungskampagnen zerstört. Anne Thurston hat überzeugend dargelegt, dass die Kulturrevolution weder eine plötzliche Katastrophe noch eine Massenvernichtung war, sondern eine extreme Situation, die sich durch Verluste auf vielen Ebenen auszeichnete, „Verlust von Kultur und spirituellen Werten, Verlust von Status und Ehre, Verlust der Karriere, Verlust der Würde“ und natürlich, der Verlust von Vertrauen in menschliche Beziehungen und deren Berechenbarkeit, als die Menschen sich feindlich gegeneinander wandten.4
Das Ausmaß des Verlusts unterschied sich von Person zu Person enorm. Einige Leben wurden zermalmt, während andere es schafften, aus dieser Mühle relativ unbeschadet herauszukommen. Einigen wenigen gelang es sogar, geschäftlich erfolgreich zu sein, insbesondere während der letzten Jahre der Kulturrevolution. Die Vielfalt menschlicher Erfahrung während des letzten Jahrzehnts der maoistischen Ära, die sich pauschalen theoretischen Erklärungen entzieht, wird umso klarer, wenn wir die Korridore der Macht verlassen und uns auf die Menschen aus allen Gesellschaftsschichten konzentrieren. Wie der Untertitel des Buches andeutet, stehen die Menschen im Mittelpunkt.
Eine Geschichte des Volkes während der Kulturrevolution wäre noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar gewesen, da damals die meisten Zeugnisse aus offiziellen Parteidokumenten und Publikationen der Roten Garden stammten. Doch während der letzten Jahre haben Historiker vermehrt Zugang zu riesigen Mengen von Primärmaterial in den Parteiarchiven Chinas erhalten. Dieses Buch ist Teil einer Trilogie, und wie seine beiden Vorgänger bedient es sich Hunderter von Dokumenten aus den Archiven, die meisten von ihnen wurden hier zum ersten Mal benutzt. Darin finden sich Details zu den Opfern der Rotgardisten, Statistiken zu politischen Säuberungen, Untersuchungen über die Zustände auf dem Land, Datenerhebungen zu Fabriken und Werkstätten, Polizeiberichte über Schwarzmärkte, sogar Beschwerdebriefe von Dorfbewohnern und vieles mehr.
Natürlich wurden viele Memoiren über die Kulturrevolution publiziert, und auch sie haben Eingang in dieses Buch gefunden, so zum Beispiel bekanntere Werke wie Nien Chengs Leben und Tod in Schanghai oder Jung Changs Wilde Schwäne. Zur Ergänzung las ich mich durch Dutzende im Eigenverlag veröffentlichte Autobiografien, eine relativ neue Art der Publikation. Auf Chinesisch werden sie ziyinshu genannt, eine wörtliche Übersetzung von Samisdat, obwohl sie mit den Dokumenten, die von Dissidenten in der Sowjetunion umhergereicht wurden, nicht viel gemein haben. Viele sind von Mitgliedern der Parteibasis geschrieben, oder sogar von einfachen Menschen, und ermöglichen Einblicke, die aus offiziellen Berichten nicht gewonnen werden können. Eine weitere wichtige Quelle sind Interviews, einige offen zugänglich, andere speziell für diese Untersuchung durchgeführt.
Interessierten Lesern steht daneben eine Fülle von Sekundärliteratur zur Verfügung. Ab dem Moment, als die Rotgardisten die Szene betraten, beschäftigten sie die Fantasie sowohl der Sinologen, als auch der breiteren Öffentlichkeit. Standardbibliografien zur Kulturrevolution verzeichnen allein auf Englisch Tausende von Artikeln und Büchern, und diese Werke haben unser Verständnis der maoistischen Ära unendlich erweitert.5 Doch einfache Menschen kommen in diesen Untersuchungen meist nicht vor. Dieses Buch versucht den größeren historischen Kontext mit den Geschichten der realen Männer und Frauen, die im Zentrum dieses menschlichen Dramas standen, zusammenzubringen. Von den Führern an der Spitze des Regimes bis hinab zum verarmten Landbewohner waren die Menschen mit ungewöhnlich schwierigen Umständen konfrontiert, und allein die Komplexität der von ihnen getroffenen Entscheidungen untergräbt das Bild der absoluten Konformität, die oft als charakteristisch für das letzte Jahrzehnt der Mao-Zeit gesehen wird. Die Summe der Entscheidungen bewegte das Land schließlich in eine Richtung, die im starken Widerspruch zu dem stand, was der Vorsitzende geplant hatte: Anstatt die Überbleibsel bourgeoiser Kultur zu bekämpfen, unterliefen die Menschen die Planwirtschaft und höhlten die Parteiideologie aus. Kurz gesagt, sie trugen den Maoismus zu Grabe.
25. Februar 1956:
Nikita Chruschtschow verurteilt beim XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die brutalen Säuberungen, Massendeportationen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren unter Stalin.
Herbst 1956:
Beim VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas wird jegliche Bezugnahme auf die Mao-Zedong-Ideen aus den Parteistatuten gestrichen und der Personenkult verurteilt.
Winter 1956 bis Frühling 1957:
Gegen den Willen der meisten Mitglieder der Parteiführung fördert Mao mit der „Hundert-Blumen-Kampagne“ ein offeneres politisches Klima. Im ganzen Land kommt es zu Demonstrationen, Protesten und Streiks.
Sommer 1957:
Die Kampagne erweist sich als kontraproduktiv, die als wachsende Kritik sogar den Herrschaftsanspruch der Partei infrage stellt. Mao vollzieht eine Kehrtwende und bezeichnet die Kritiker als „schlechte Elemente“, die beabsichtigten, die Partei zu zerstören. Er betraut Deng Xiaoping mit einer „Kampagne gegen rechts“, die zur Verfolgung von einer halben Million Menschen führt. Die Partei schließt sich hinter ihrem Vorsitzenden zusammen, der wenige Monate später den „Großen Sprung nach vorn“ ins Rollen bringt.
1958–1961:
Während des „Großen Sprungs nach vorn“ wird die Landbevölkerung in riesigen Kollektiven, sogenannten Volkskommunen, zusammengetrieben. In den darauffolgenden Jahren sterben zehn Millionen Menschen an Folter, Erschöpfung, Krankheit und Hunger.
Januar 1962:
Bei einer Versammlung Tausender Parteikader in Beijing bezeichnet Liu Shaoqi die Hungersnot als eine von Menschen verursachte Katastrophe. Die Unterstützung für Mao erreicht ein Rekordtief.
Sommer 1962:
Mao verurteilt die Aufteilung kollektiven Landbesitzes und propagiert die Parole „Den Klassenkampf nie vergessen!“.
Herbst 1962:
Eine „Sozialistische Erziehungskampagne“ wird vorbereitet, um die Menschen über die Vorzüge des Sozialismus aufzuklären und um scharf gegen ökonomische Aktivitäten außerhalb der Planwirtschaft vorzugehen.
1963–1964:
Liu Shaoqi unterstützt die „Sozialistische Erziehungskampagne“ und schickt seine Frau Wang Guangmei aufs Land, um eine Arbeitsgruppe zu leiten. Ganze Provinzen werden beschuldigt, den „kapitalistischen Weg“ eingeschlagen zu haben. Mehr als fünf Millionen Parteimitglieder werden bestraft.
16. Oktober 1964:
China testet seine erste Atombombe.
Oktober bis November 1964:
In Moskau wird Chruschtschow durch einen unblutigen Putsch abgesetzt. Bei einem Empfang im Kreml einige Wochen später gibt ein betrunkener sowjetischer Minister einer Delegation unter Führung von Premierminister Zhou Enlai den Rat, Mao loszuwerden.
Januar 1965:
Mao lässt die Richtlinien der „Sozialistischen Erziehungskampagne“ umschreiben. Damit zielt er auf „Machthaber innerhalb der Partei, die den kapitalistischen Weg einschlagen“.
10. November 1965:
Yao Wenyuan veröffentlicht einen Aufsatz, in dem er behauptet, das Theaterstück „Die Entlassung des Hai Rui“ aus der Feder des berühmten Historikers und stellvertretenden Bürgermeisters von Beijing, Wu Han, kritisiere indirekt den „Großen Sprung nach vorn“.
8.–15. Dezember 1965:
Auf Lin Biaos Rat entlässt Mao Luo Ruiqing als Stabschef der Armee.
7. Mai 1966:
Mao schreibt einen Brief an Lin Biao, mit dem Entwurf einer utopischen Vision von militärischer Organisation und politischer Indoktrination, in der Armee und Volk zunehmend miteinander verschmelzen. Dieser Brief wird später als „Direktive vom 7. Mai“ bekannt.
4.–27. Mai 1966:
Peng Zhen, Bürgermeister von Beijing und Vorgesetzter Wu Hans, sowie Luo Ruiqing, Lu Dingyi und Yang Shangkun werden Verbrechen gegen die Partei vorgeworfen. Ein innerparteiliches Dokument, „Mitteilung vom 16. Mai“ genannt, beschuldigt „Repräsentanten der Bourgeoisie“, in die Reihen der Partei und in den Staat eingedrungen zu sein.
25. Mai 1966:
Nie Yuanzi hängt in der Peking-Universität eine Wandzeitung auf und beschuldigt deren Leitung, sie seien „ein Haufen revisionistischer Elemente vom Schlage Chruschtschows“.
28. Mai 1966:
Gründung der „Gruppe Kulturrevolution des Zentralkomitees (ZK)“ unter Leitung von Chen Boda. Dazu gehören Madame Mao (Jiang Qing), Kang Sheng, Yao Wenyuan und Zhang Chunqiao.
1. Juni 1966:
Renmin Ribao agitiert die Nation: „Alle Monster und Dämonen wegfegen!“ Im ganzen Land wird der Schulunterricht ausgesetzt.
Juni bis Juli 1966:
Liu Shaoqi und Deng Xiaoping schicken Arbeitsgruppen in die Sekundar- und Hochschulen, um die Kulturrevolution anzuleiten. Bald geraten sie mit einigen der kritischeren Studenten aneinander, die daraufhin als „Rechtsabweichler“ denunziert werden.
16. Juli 1966:
Mao schwimmt im Yangzi, um seine Entschlossenheit, die Kulturrevolution durchzuführen, zu signalisieren.
1. August 1966:
Mao unterstützt in einem Brief eine Studentengruppe, die sich, inspiriert von der „Direktive vom 7. Mai“, Rote Garden nennen und die geloben, diejenigen zu bekämpfen, die ein Komplott schmieden, um das Land zum Kapitalismus zurückzuführen. In ganz China gründen Schüler und Studenten Einheiten von Roten Garden, die Menschen mit einem schlechten Klassenhintergrund angreifen.
5. August 1966:
Renmin Ribao veröffentlicht Maos eigene Wandzeitung mit dem Titel „ Die Hauptquartiere bombardieren“. Mao beschuldigt „führende Genossen“, die Arbeitsgruppen losgeschickt hatten, den „reaktionären Standpunkt der Bourgeoisie“ eingenommen und eine Herrschaft des „weißen Terrors“ organisiert zu haben. Überall werden zuvor als „Rechtsabweichler“ bezeichnete Studenten rehabilitiert.
12. August 1966:
Auf einem Plenum des Zentralkomitees löst Lin Biao Liu Shaoqi als stellvertretenden Parteivorsitzenden ab.
18. August 1966:
Mao heißt eine Million Studenten auf dem Tian’anmen-Platz willkommen. Er trägt eine Militäruniform mit einer Armbinde der Roten Garden. Während der folgenden Monate nimmt Mao in Beijing Paraden von insgesamt zwölf Millionen Rotgardisten ab.
23. August 1966:
Renmin Ribao lobt die Gewalt der Roten Garden und ihre Kampagne, alle Relikte der alten Gesellschaft zu zerstören.
5. September 1966:
Rote Garden erhalten kostenlosen Transport und freie Unterkunft. Viele kommen nach Beijing, um am Vorsitzenden vorbeizumarschieren. Andere reisen durchs Land, um revolutionäre Netzwerke zu gründen und attackierten lokale Parteifunktionäre als „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg verfolgen“.
3. Oktober 1966:
Von Rotgardisten belagerte Parteiorganisationen bitten die Parteiführung um Hilfe, doch statt sie zu unterstützen, veröffentlicht die Parteizeitung Hongqi, die Rote Fahne, herausgegeben von Chen Boda, einen Leitartikel, der „konterrevolutionäre Revisionisten“ anprangert, die innerhalb der Reihen der Partei einer „bourgeois-reaktionären Linie“ folgen.
1. November 1966:
Ein weiterer Leitartikel in der Hongqi beschuldigt führende Parteimitglieder „die Massen zu behandeln, als seien sie unwissend und unfähig“, das einfache Volk werden gegen Parteifunktionäre aufgehetzt und dazu ermutigt, Rebellenorganisationen zu gründen.
26. Dezember 1966:
Madame Mao trifft Vertreter einer neu gegründeten landesweiten Allianz von Zeitarbeitern und verlangt, alle seit Beginn der Kulturrevolution aufgrund ihrer Kritik an der Parteiführung Entlassenen sollten wieder eingestellt werden. An diesem Abend, es ist sein dreiundsiebzigster Geburtstag, bringt der Vorsitzende einen Trinkspruch aus, in dem er „die Entwicklung eines landesweiten Bürgerkriegs“ willkommen heißt.
6. Januar 1967:
Eine Million rebellierende Arbeiter entreißen dem städtischen Parteikomitee in Shanghai die Macht, was später als „Januarsturm“ bezeichnet werden wird. Der Vorsitzende ermuntert die Rebellen, auch anderenorts die „Macht zu ergreifen“.
23. Januar 1967:
Die Armee erhält den Befehl, die „revolutionären Massen“ zu unterstützen.
11. und 16. Februar 1967:
Bei einem Treffen der zentralen Führung unter dem Vorsitz von Zhou Enlai, greifen mehrere altgediente Marschälle Mitglieder der „Gruppe Kulturrevolution des ZK“ an. Mao verurteilt sie umgehend und veranlasst eine noch umfassendere Machtverschiebung hin zu Lin Biao und der „Gruppe Kulturrevolution des ZK“.
6. April 1967:
In einigen Landesteilen unterstützt die Armee, trotz des Befehls, der „proletarischen Linken“ beizustehen, stattdessen die Führungskader. Am 6. April verbieten neue Direktiven der Armee, auf Rebellen zu schießen, Massenorganisationen aufzulösen oder für Überfälle auf Militärkommandos Vergeltung zu üben.
Mai 1967:
Landesweit kommt es zwischen Splittergrupen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, an denen häufig das Militär beteiligt ist.
20. Juli 1967:
In Wuhan entführen Soldaten vor Ort zwei Gesandte der „Gruppe Kulturrevolution des ZK“, denen vorgeworfen wird, sie favorisierten bei ihrer Vermittlung eine der sich dort bekämpfenden Rebellengruppen. Lin Biao stellt den Vorfall als Meuterei des regionalen Militärkommandeurs dar und drängt den Vorsitzenden, der sich auf einem Geheimbesuch in der Stadt befindet, sofort nach Shanghai abzureisen.
25. Juli 1967:
Nach ihrer Rückkehr werden die in Wuhan festgenommenen Mitglieder der „Gruppe Kulturrevolution des ZK“ in Beijing begrüßt. Der Vorfall wird als „konterrevolutionäre Revolte“ verurteilt. Lin Biao nutzt die Gelegenheit, um seinen Einfluss auf die Armee auszuweiten.
1. August 1967:
Ein Leitartikel in der Hongqi lobt Lin Biao als den treusten Anhänger des Vorsitzenden und verlangt, „Machthaber, die einen kapitalistischen Weg gehen“ aus der Armee zu entfernen. Während des Sommers kommt es zunehmend landesweit zu bewaffneten Konflikten zwischen verschiedenen Splittergruppen.
22. August 1967:
Eine Rebellengruppierung beim Außenministerium, die Zhou Enlai kritisch gegenübersteht, setzt die Britische Botschaft in Beijing in Brand.
30. August 1967:
Der Vorsitzende zügelt die Gewalt und lässt mehrere Mitglieder der „Gruppe Kulturrevolution des ZK“ verhaften. Einige Tage später wird es Massenorganisationen erneut verboten, Waffen des Militärs zu beschlagnahmen.
September 1967:
Während einer dreimonatigen Reise durchs Land fordert Mao eine „Große Allianz“ aller revolutionären Kräfte.
22. März 1968:
Lin Biao weitet seinen Einfluss auf die Armee aus, indem er mehrere Militärführer verhaften lässt.
27. Juli 1968:
Ein Propagandatrupp für Mao-Zedong-Ideen wird zur Tsinghua-Universität geschickt. Das bedeutet das Ende der Roten Garden, die unter Kontrolle gebracht und diszipliniert werden.
7. September 1968:
Nachdem Revolutionskomitees in allen Provinzen und größeren Städten gegründet worden sind, verkündet Zhou Enlai einen umfassenden Sieg.
Sommer 1968 bis Herbst 1969:
Die neuen Revolutionskomitees nutzen eine Kampagne zur Säuberung der Klassenreihen, um ihre Feinde als „Spione“ und „Verräter“ anzuprangern.
22. Dezember 1968:
Renmin Ribao veröffentlicht eine Direktive des Vorsitzenden, in der für die Schüler und Studenten in den Städten die Umerziehung auf dem Land angeordnet wird. Zwischen 1968 und 1980 werden ungefähr 17 Millionen Schüler und Studenten aus den Städten verbannt werden.
März 1969:
Wochen vor dem IX. Parteitag kommt es am Fluss Ussuri zu einem Zusammenstoß zwischen chinesischen und sowjetischen Truppen. Lin Biao nutzt diesen Vorfall zur weiteren Militarisierung des Landes.
April 1969:
Beim IX. Parteitag wird Lin Biao zum Nachfolger Maos designiert.
Februar bis November 1970:
Zwei sich überschneidende Kampagnen, „Ein Schlag, drei Anti“ genannt, nehmen „konterrevolutionäre Aktivitäten“ und „wirtschaftliche Übel“ ins Visier. Jeder fünfzigste Bürger ist davon betroffen, eine massive Einschüchterung der Bevölkerung ist die Folge.
Sommer 1970:
Mao nutzt eine Debatte über das Präsidentenamt, um Lina Biaos Loyalität zu hinterfragen.
April 1971:
Der Vorsitzende lädt das Tischtennisteam der USA zu einem Besuch in China ein.
Sommer 1971:
Der Vorsitzende reist durch den Süden des Landes und schwächt dabei Lin Biaos Position, ohne überhaupt seinen Namen zu erwähnen.
12. September 1971:
Mao kehrt nach Beijing zurück. Kurz nach Mitternacht besteigen Lin Biao, seine Frau und sein Sohn eilig ein Flugzeug außerhalb des Seebads Beidaihe. Das Flugzeug stürzt in der Mongolei ab, alle an Bord kommen ums Leben.
21.–28. Februar 1972:
Präsident Nixon besucht China.
August 1972:
Das Militär kehrt in die Kasernen zurück. Während der folgenden Monate werden viele Regierungsbeamte und Parteikader rehabilitiert.
November 1973 bis Januar 1974:
Madame Mao, Zhang Chunqiao, Wang Hongwen und Yao Wenyuan schließen sich gegen Zhou Enlai zusammen und werden bald als „Viererbande“ bezeichnet. Eine landesweite gegen Zhou gerichtete Kampagne wird gestartet.
April 1974:
Der vom Vorsitzenden beförderte Deng Xiaoping leitet die chinesische Delegation bei den Vereinten Nationen.
Januar 1975:
Mit Zustimmung des Vorsitzenden initiiert Zhou Enlai das Programm der „Vier Modernisierungen“, um Chinas Landwirtschaft, Industrie, nationale Verteidigung sowie Wissenschaft und Technik zu reformieren.
November 1975 bis Januar 1976:
Mao befürchtet, Deng Xiaoping werde sein Vermächtnis zugrunde richten. Deng wird bei mehreren Parteitreffen angegriffen und verliert die meisten seiner offiziellen Ämter.
Januar 1976:
Premierminister Zhou Enlai stirbt.
4.–5. April 1976:
Eine Welle öffentlicher Unterstützung für Zhou Enlai kulminiert in einer gewaltigen Demonstration auf dem Tian’anmen-Platz, die von Polizei und Armee brutal niedergeschlagen wird.
9. September 1976:
Mao Zedong stirbt.
Im Herzen Beijings wirft ein gewaltiges, monolithisches Gebäude mit Pfeilern und Säulen aus Marmor seinen Schatten über den Tian’anmen-Platz, so wie die Kommunistische Partei Chinas das politische Leben des Landes dominiert. Die Große Halle des Volkes wurde in Rekordzeit errichtet, um für den zehnten Jahrestag der Chinesischen Revolution fertig zu sein, der mit großem Trara im Oktober 1959 gefeiert wurde. In diesem großartigen und einschüchternden, stark von sowjetischer Architektur beeinflussten Bauwerk befindet sich ein großer Versammlungsraum, der über zehntausend Delegierten Platz bietet. Ein riesiger roter Stern umgeben von Hunderten von Lichtern scheint von der Decke herab. Alles ist in Rot getaucht, von den Bannern und Vorhängen auf dem Podium bis zu den dicken Teppichen auf der Galerie und den Balkonen. Daneben gibt es Dutzende höhlenartiger, nach den Provinzen des Landes benannter Räume, sodass das Gebäude eine größere Grundfläche hat als die Verbotene Stadt, jenes ausgedehnte alte Viertel mit seinen Pavillons, Höfen und Palästen für die Kaiser der Ming- und Qing-Dynastien, das ebenfalls am Tian’anmen-Platz liegt.
Im Januar 1962 reisten etwa 7000 Kader aus allen Landesteilen an, um an der größten Konferenz teilzunehmen, die je in der Großen Halle des Volkes stattgefunden hatte. Sie waren nach Beijing gerufen worden, da die Führung ihre Unterstützung benötigte. Seit mehreren Jahren hatten sie unter schonungslosem Druck gearbeitet, während der Vorsitzende Mao von der Stahlerzeugung bis zur Getreideproduktion immer höhere Planziele gesetzt hatte. Wer diese nicht erfüllen konnte, wurde als „Rechtsabweichler“ bezeichnet und aus der Partei ausgeschlossen. Ersetzt wurden sie durch harte, skrupellose Männer, die ihre Segel nach dem rauen Wind setzten, der aus Beijing blies. Viele logen über ihre Leistungen, erfanden Produktionszahlen, die sie ihren Herren in den höheren Rängen der Macht berichteten. Andere implementierten eine Terrorherrschaft, unter der die von ihnen beaufsichtigten Landbewohner sich zu Tode schufteten. Jetzt wurden sie für die Katastrophe verantwortlich gemacht, die Mao mit dem „Großen Sprung nach vorn“ ausgelöst hatte.
Vier Jahre zuvor, 1958, hatte Mao sein Land in einen Rausch versetzt. Die Landbevölkerung wurde in riesigen Volkskommunen zusammengetrieben und so der große Sprung vom Sozialismus in den Kommunismus eingeläutet. Die Menschen wurden zum Fußvolk einer permanenten Revolution, dazu gezwungen, eine Aufgabe nach der anderen anzupacken, von riesigen Wasserbauprojekten in den eher ruhigen Wintermonaten bis zur Stahlproduktion in Hinterhöfen im Sommer. „Drei Jahre harter Kampf, um das Gesicht Chinas zu verändern“ war ein Motto des „Großen Sprungs nach vorn“, während die Aussicht auf ein Schlaraffenland für alle lockte. „Großbritannien einholen und die USA überholen“, war ein anderes. Bei aller Propaganda, die kapitalistischen Volkswirtschaften hinter sich zu lassen, war das eigentliche Ziel Maos, die Sowjetunion zu überflügeln. Schon seit Stalins Tod im Jahr 1953 wollte Mao die Führung im sozialistischen Lager übernehmen.
Sogar zu Stalins Lebenszeiten hatte Mao sich selbst als einen besseren Revolutionär angesehen. Er und nicht Stalin hatte 1949 ein Viertel der Menschheit ins sozialistische Lager gebracht. Ein Jahr später hatte er und nicht Stalin die Amerikaner in Korea bis zum Stillstand des Bewegungskrieges bekämpft. Aber Mao war auch ein treuer Anhänger seines Meisters in Moskau. Aus gutem Grund. Von Anfang an war die Kommunistische Partei Chinas von der finanziellen Hilfe und den politischen Leitlinien der Sowjetunion abhängig. Stalin persönlich unterstützte Maos Aufstieg zur Macht. Die Beziehung zwischen den beiden Männern war oft turbulent, doch sobald 1949 die rote Fahne über Beijing wehte, führte Mao sofort eine strenge kommunistische Ordnung nach dem Modell der Sowjetunion ein. Mao war ein Stalinist, der fasziniert war von der Kollektivierung der Landwirtschaft, einem grenzenlosen Führerkult, der Abschaffung des Privateigentums, einer alles durchdringenden Kontrolle der gewöhnlichen Bevölkerung und riesigen Ausgaben für die Landesverteidigung.1
Ironischerweise war es Stalin selbst, der, da er den Aufstieg eines mächtigen Nachbarn fürchtete, der seine Dominanz bedrohen könnte, die Stalinisierung Chinas behinderte. In den Jahren 1929–30 hatte Stalin eine gnadenlose Kampagne der „Entkulakisierung“ in Gang gesetzt, in deren Folge Tausende als „reiche Bauern“ eingestufte Menschen exekutiert und nahezu zwei Millionen in Arbeitslager nach Sibirien und ins sowjetische Zentralasien deportiert wurden. Doch 1950 gab Stalin Mao den Rat, die Wirtschaft der reichen Bauern unbehelligt zu lassen, um Chinas Erholung nach Jahren des Bürgerkriegs zu beschleunigen. Mao ignorierte diesen Rat und forderte die Landbevölkerung auf, sich an der Denunziation, manchmal auch der Ermordung traditioneller Dorfvorsteher zu beteiligen. Das gesamte Vermögen der Opfer wurde der Menge ausgehändigt. Das Land wurde vermessen und an die Armen verteilt. Indem Mao eine Mehrheit in die Ermordung einer sorgfältig bestimmten Minderheit verwickelte, schaffte er es, die Menschen permanent an die Partei zu binden. Für die Anzahl der Ermordeten während der Umverteilung von Land gibt keine verlässlichen Zahlen, doch sehr wahrscheinlich waren es in den Jahren 1947 bis 1952 mehr als 1,5 bis 2 Millionen Menschen. Millionen andere wurden als Ausbeuter und Klassenfeinde gebrandmarkt.
Nach Vollendung der Landreform 1952 wandte sich Mao an Stalin mit der Bitte um einen großen Kredit, um die Industrialisierung Chinas voranzubringen. Stalin, ewiger Gegenspieler, wies seine Bitte zurück mit der Bemerkung, die Wachstumsrate, die China erreichen wollte, sei „übertrieben“. Er ordnete tief greifende Einschnitte an, untersagte mehrere Projekte im Zusammenhang mit der Landesverteidigung und reduzierte die Anzahl der Industrieanlagen, die mit sowjetischer Hilfe gebaut werden sollten. Doch hatte Stalin selbst die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion zwischen 1929 und 1933 geleitet und das den Agrarkollektiven auf dem Land entzogene Getreide dazu benutzt, um eine wachsende Zahl von Industriearbeitern zu ernähren und den Import von Maschinen aus dem Westen zu bezahlen. Diese Praxis führte zu einer Hungerkatastrophe in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion. Die Zahl der Todesopfer wird auf fünf bis zehn Millionen Menschen geschätzt.
Stalin war der Einzige, der Mao zurückhalten konnte. Nach dem Tod seines Meisters im März 1953 in Moskau, erhöhte Mao das Tempo der Kollektivierung. Zum Ende des Jahres wurde ein Getreidemonopol eingeführt, das die Bauern zwang, ihre Ernte zu staatlich festgelegten Preisen zu verkaufen. Von 1955 bis 1956 wurden Kollektive, ähnlich den Staatsgütern in der Sowjetunion, eingeführt. Den Bauern wurde das Land wieder weggenommen und die Landbevölkerung zu Schuldknechten im Dienste des Staates gemacht. In den Städten wurden Handel und Industrie zu Staatsaufgaben, da die Regierung private Unternehmen, kleine Geschäfte oder große Industrien gleichermaßen, enteignete. Mao nannte das die „Sozialistische Flutwelle“.
Doch 1956 erlebte Maos Programm der gewaltsamen Kollektivierung einen riesigen Rückschlag. Am 25. Februar, dem letzten Tag des XX. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, verurteilte Nikita Chruschtschow die brutalen Säuberungen, Massendeportationen und die Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren unter Stalin. In einer stundenlangen Rede ohne Unterbrechungen vorgetragen im Großen Kremlpalast, der ehemaligen Moskauer Residenz der russischen Zaren, kritisierte Chruschtschow Stalins Personenkult und beschuldigte seinen früheren Meister, die Landwirtschaft in den frühen 1930er-Jahren zugrunde gerichtet zu haben. Stalin, so sagte er, „ging nirgendwo hin, traf sich nie mit Arbeitern oder Kolchosbauern“ und kannte das Land nur aus „Filmen, in denen die Situation auf dem Land verbrämt und schöngefärbt wurde“. Mao verstand dies als persönlichen Angriff auf seine eigene Autorität. Immerhin war er der Stalin Chinas, und Chruschtschows Rede musste Fragen zu seiner eigenen Führung aufwerfen, insbesondere zu dem Personenkult, der ihn umgab. Innerhalb von Monaten benutzten Premier Zhou Enlai und andere Chruschtschows Kritik der Staatsgüter, um die Geschwindigkeit der Kollektivierung zu drosseln. Es schien, als geriete Mao ins Abseits.
Maos Reaktion auf die Entstalinisierung kam am 25. April 1956. Bei seiner Rede auf einer Sitzung des Politbüros machte er sich zum Fürsprecher des einfachen Mannes. Der Vorsitzende gab sich als Schutzherr demokratischer Werte aus, um die moralische Führung der Partei zurückzugewinnen. Mao überbot Chruschtschow. Zwei Monate zuvor war er in die Defensive gedrängt worden, scheinbar ein alternder realitätsferner Diktator, der sich an ein Modell klammerte, das in der Vergangenheit versagt hatte. Jetzt gewann er die Initiative zurück und schlug dabei einen viel liberaleren und versöhnlicheren Ton an als sein Gegenspieler in Moskau. Eine Woche später, am 2. Mai, ermunterte er die Intellektuellen zur freien Meinungsäußerung und forderte die Partei auf „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“.
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