Dirk Husemann
Vaterschaftstest für Pharao
Wie Genforschung archäologische Rätsel entschlüsselt
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Umschlaggestaltung: init, Bielefeld, unter Verwendung einer Abbildung von akg-images, Berlin (Pharao Echnaton/Amenophis IV., 1364-1347 v. Chr.; Büste, Fragment einer Kolossalstatue, gefunden im Aton-Tempel, Karnak).
© 2008 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Lektorat: Thomas Theise, Regensburg
Karthographie: Peter Palm, Berlin
Satz und Gestaltung: primustype Hurler, Notzingen
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
ISBN 978-3-8062-2143-5
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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-2360-6
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-2361-3
Vorwort: Gene mit Gedächtnis
Ein tiefer Blick ins Leben: Gentechnik gestern, heute und morgen
Augenwischerei im Bananenbrei
Heureka durch radioaktiven Brotschimmel
Frauenfeindliche Vererbungslehre
Sensation im Küchenmixer
Watson, Crick und die dunkle Dame der DNA
Zellen, Zytoplasma und ein zuverlässiger Kurier
Im Werkzeugschuppen der Gentechnik
Ritterschlag für den genetischen Fingerabdruck
Ein Code mit drei Milliarden Buchstaben
Wunder für die Welt – Wahnsinn der Wissenschaft
Zuchtstation für Dinosaurier – Fantasie und Realität der Paläogenetik
Menschenaffe, Affenmensch: Genetische Spurensicherung am Tatort Evolution
Die Stoppuhr der Vergangenheit
Vom Geröllgerät zur Genanalyse
Rauswurf für Rassenideologen
Affenzwilling auf zwei Beinen
Die Entdeckung des Menschenfresser-Gens
Die Trennkost der Evolution
Verräterische Vor-Verdauung
Neandertaler: Der erste Star der Paläogenetik
Das Traumpaar der Eiszeit
Kopf an Kopf zum Riesenhirn
Lautmalerei mit drei Vokalen
Genetik mit Haut und Haaren
Der Neandertaler der Zukunft
Gene auf grosser Fahrt: Der Mensch erobert den Globus
Wenn Geschichte durch den Magen geht
Die ersten Australier – kopfüber nach Down Under
Gauguins Urahn – der Mensch entdeckt die Südsee
Mischmasch in Melanesien
Schweine der Südsee
Pfadfinder mit Augenwülsten
Auf den Spuren des amerikanischen Adam
Lange vor Kolumbus – eine Bakterie entdeckt Amerika
Die Entdeckung des Toskana-Gens
Kreta – Invasion abgesagt
Germanische Heiratsmuffel
Die Kinder der Erfinder: Fahndung nach den ersten Bauern
Ackern im Erbgut
Vaterschaftstest für Mr. Y
Wissen aus dem Orient
Blaue Augen – Sexsignal der Jungsteinzeit
Forensik einer Eismumie
Wie die heilige Kuh nach Indien kam
Vaterschaftstest für Pharao: Die schwierige Entschlüsselung von Mumien-DNA
Wenn Mumien sprechen lernen
Beim Barte der Pharaonin
Lightning-Girl – die Mumie aus den Anden
Die besten Freunde: Geschichtsstunde im Erbgut der Tiere
Dinosaurier im Hühnerstall
Riesen mit Rüsseln
Von Läusen und Menschen
Juckreiz durch Gorilla-Sex
Schmarotzen bei Homo erectus
Das faule Ei des Kolumbus
Ein Sündenbock für Riesenvögel
Urwald unter dem Eis
Die Zukunft der Vergangenheit: Woran die historische DNA -Forschung von morgen arbeitet
Kulturgenetik – wenn Darwin sich ins Fäustchen lacht
Die Liebe der Kreuzfahrer
Ein tiefer Blick in Mozarts Schädel
Zank um Galileos Grab
Die DNA von Qumran
Erbgut von Gottes Sohn
Fazit
Anhang
Meilensteine der Genetik
Glossar
Literatur
Danksagung
Bildnachweis
Register
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[Informationen zum Autor]
Bislang nur Lückenbüßer der Geschichtsforschung, hat sich die molekulare Archäologie in den vergangenen zehn Jahren zu einem Zugpferd der Altertumswissenschaft entwickelt. Abseits von ethischen Debatten über Recht und Unrecht von Genmanipulation, von Stammzellenforschung, Chimären und Genfood lesen sich Biologen und Historiker gegenseitig aus dem Erbgut des Menschen vor. Die Geschichten, die sie zu hören bekommen, stehen wie Wegweiser im Labyrinth der Vergangenheit.
Der erste Einfall war nur eine Fantasie. Aus der Millionen Jahre alten DNA von Dinosauriern sollte Anfang der 1990er Jahre ein neuer Forschungszweig entstehen. Dino-Klone im Reagenzglas – die Realität erteilte diesem Traum eine Absage. Die zeitliche Grenze für die Untersuchung von Erbgut liegt bei 50.000 Jahren. Was jenseits davon geschah, blieb zunächst unantastbar. Dann aber entdeckten Naturwissenschaftler die „molekulare Uhr“, eine Methode, mit der Veränderungen im Erbgut berechnet werden können. Was im Labor nicht funktioniert, ist mit dem Rechenschieber möglich. Dank der molekularen Uhr kennen Anthropologen heute den Zeitpunkt, an dem sich Mensch und Affe voneinander trennten, sie wissen, wann der Mensch Australien besiedelte, wer der erste Amerikaner war und ob Neandertaler rote Haare hatten.
Heute gehört es bereits zu den Standards der Paläogenetik, Mumien-DNA zu entschlüsseln. Mit dem Schulterschluss im Genlabor haben Historiker und Biologen gemeinsam festgestellt, dass Pharaonen Rotwein tranken, wo die verschollene Mumie der Pharaonin Hatschepsut lag und wie die Henkersmahlzeit von Ötzi, der Mumie vom Similaungletscher, aussah.
Weitere Einblicke in die menschliche Vergangenheit öffnen Vergleiche mit dem Erbgut von Tieren. Ein Blick auf die genetische Uhr der Kleiderlaus brachte die Erkenntnis, dass sich das Tier vor etwa 40.000 Jahren aus der Kopflaus entwickelte, als es eine neue ökologische Nische gefunden hatte: die Kleidung des Menschen. Die Suche nach den ersten Kleidern war damit über einen Umweg beendet.
Der nächste Schritt ist groß, aber Molekularbiologen nehmen mutig Anlauf. Wer die Verbreitung von Gengruppen auf der Weltkarte betrachtet, stößt auf Ähnlichkeiten mit der Entstehung kultureller Errungenschaften. Wo der Mensch vor 10.000 Jahren die ersten Häuser baute, taucht auch ein genetischer Marker in fossilen Knochen auf. Ist das Erbgut verantwortlich für den Ursprung der Zivilisation?
Den Möglichkeiten für den Einsatz von DNA-Tests in Archäologie, Anthropologie und evolutionärer Biologie scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein. Kostete es noch vor wenigen Jahren mehrere Milliarden Euro, ein vollständiges Genom – das gesamte Erbgut einer Art – zu entschlüsseln, prophezeien Fachleute für die nächsten Jahre das Tausend-Euro-Genom. Dank der Billig-DNA reiben sich Geschäftemacher die Hände. Wer den historischen Wurzeln seiner Vorfahren nachspüren will, kann darauf hoffen, von Phöniziern, Wikingern oder Etruskern abzustammen, vorausgesetzt, er liefert bei Privatunternehmen Speichelprobe und Honorar ab. Findige Firmen bewerben den DNA-Test als „Perfekte Geschenkidee“ neben Blumensträußen, Wellnesskisten und der Geburtstagszeitung – Goldgräberstimmung im Genlabor.
Abseits solcher Scharaden beißen sich Molekularbiologen und Archäologen an historischen Fragen fest und bisweilen die Zähne aus. Gemeinsam suchen die Forscher in den kleinsten Teilen des Lebens nach Antworten auf die großen Fragen der Geschichte, nach der Herkunft des Menschen und seinem Pfad in die Zivilisation. Die folgenden Kapitel führen zu den Sternstunden der Paläogenetik und zeichnen die Irrwege einer Wissenschaft nach, die es sich als jüngste Disziplin der Naturwissenschaft zur Aufgabe gemacht hat, eine der ältesten Substanzen der Erdgeschichte zu erforschen.
Ostbevern, im Sommer 2008
Gentechnik gestern, heute und morgen
Gerade 150 Jahre jung, ist die Genetik bereits eine Wissenschaft mit eigener Geschichte. Ihre Wurzeln legte 1856 ein Mönch im Klostergarten von Brünn. Dort beschnitt der Österreicher Johann Mendel unter dem Ordensnamen Gregor einige unscheinbare Gemüseranken. Mendel widmete sein Leben im Kloster erst in zweiter Linie dem Gottesdienst, seine Lebensaufgabe fand er in der der Religion oft zuwiderlaufenden Naturwissenschaft.
Der Sohn eines Kleinbauern hatte unter harten finanziellen Bedingungen das Gymnasium absolviert. Um ihm die Ausbildung zu ermöglichen, hatte seine Schwester auf ihr Erbe verzichtet. Aber alle Opfer fruchteten nicht. Die Universität verschlang ein Vermögen. Mendel winkte angesichts solch weltlicher Probleme ab und verwandelte sich vom Studenten zum Mönch. 1843 trat er ins Augustinerkloster Sankt Martin in Altbrünn ein und erhielt den Namen Gregor, unter dem er weltberühmt wurde. Dreizehn Jahre lang hatte Mendel Gelegenheit, zu studieren und als Lehrer in einer Schule zu arbeiten. Dann schob der Konvent einen Riegel vor. Bruder Gregor musste die Schule verlassen und bei den Arbeiten im Kloster helfen. Die Welt des Lernens drohte sich dem Wissbegierigen zu verschließen. Aber der hartnäckige Forscher fand auch in den Klostermauern ein Labor – zwischen Kreuzgang und Kapelle entdeckte Bruder Gregor eine Wissenschaft, mit der er die Welt veränderte: Erbsenzählen.
Mendel war ein Menschenkenner. Er hatte beobachtet, dass ein blonder Mann und eine blonde Frau ein dunkelhaariges Kind haben konnten. Dass Blond plus Blond eine andere Haarfarbe ergibt, widersprach den Vorstellungen der Mathematik. War es möglich, dass im menschlichen Körper Mechanismen eine Rolle spielten, von denen niemand etwas ahnte?
Zwischen Kamilleblüten und Melissepflanzen kreuzte der Mönch Erbsen. Die Hülsenfrüchte waren ein dankbares Studienobjekt. Sie wuchsen schnell nach und lieferten rasch Ergebnisse. Ihre roten oder weißen Blüten konnten gut vermischt werden. Die Merkmale waren ebenso gut voneinander zu unterscheiden und konnten sortiert, ausgezählt und statistisch erfasst werden. Überdies profitierte die Klosterküche von der Erbsenzucht.
Mendel muss eine ungefähre Vorstellung davon gehabt haben, was ihn erwartete. Er kreuzte Sorten, die sich nur in einem einzigen Merkmal voneinander unterschieden. Runde Erbsen und runzelige Erbsen, das ergab runde Nachkommen. Das überraschte den Mönch – er hatte eigentlich erwartet, dass sich die nächste Gemüsegeneration ebenfalls in runde und runzelige Erbsen einteilen lassen würde. Erst als Mendel die zweite Generation von runden Erbsen untereinander kreuzte, entstand die zu erwartende Mischung aus runden und runzeligen Nachkommen. Es musste folglich ein Naturgesetz geben, das Eigenschaften eines Lebewesens in der zweiten Generation verschwinden ließ, um sie dann in der dritten Generation wieder auftauchen zu lassen. Wie aber lautete diese Regel?
Im nächsten Schritt zählte der Klosterforscher die Mischlinge, so genannte Hybride, genau aus. Stets war genau ein Viertel der Erbsen runzelig. Was auf den ersten Blick wie ein Durcheinander von Erbsen, Ranken und Notizen erschien, brachte dem Mönch die Erleuchtung in Form von drei Naturgesetzen. Mit ihnen beschrieb Mendel, dass nur deshalb unterschiedliche Kombinationen von Erbmerkmalen möglich sind, weil das Erbgut aus Einheiten aufgebaut ist, die unabhängig voneinander kombinierbar sind. Diese Einheiten nannte Mendel Faktoren – heute heißen sie Gene. Aber das war für Mendel Zukunftsmusik.
Im Klostergarten von Brünn experimentierte er in den nächsten Jahren mit den Faktoren. Immer wieder musste er seine Forschungen unterbrechen – zum einen, um den Aufgaben des Ordenslebens nachzukommen, zum anderen, weil Erbsen sich im Herbst und Winter nicht züchten lassen. Schließlich gelang Mendel der erste Einblick in die Funktionsweise der Genetik. Er erkannte, dass jeweils zwei Faktoren für die Ausprägung eines Merkmals verantwortlich waren. Jeder Elternteil gibt jeweils einen Faktor für die Ausprägung derselben Eigenschaft in der Folgegeneration weiter. In den Nachkommen der rätselhaften Erbsen trafen demnach ein Faktor für rund und ein Faktor für runzlig zusammen. Wieso aber setzte sich einer öfter durch als der andere?
Einige von Mendels Faktoren waren dominant und erschienen zu drei Vierteln in den Nachkommen, andere waren rezessiv und zeigten sich lediglich in einem Viertel der Folgegeneration. Mendel konnte damals nur ahnen: Was bei Erbsen funktioniert, gibt es auch beim Menschen. Von der Herkunft der Sommersprossen bei einem Kind, dessen Eltern niemals Sommersprossen hatten, bis zum Auftreten von Erbkrankheiten bei Nachkommen gesunder Eltern lassen sich heute viele genetische Phänomene dank der unbändigen Neugier Bruder Gregors erklären.
Zunächst aber stieß der Geniestreich des Geistlichen auf taube Ohren. Als der Mönch, Lehrer und Naturwissenschaftler 1865 zwei Vorträge in Brünn hielt, die er „Versuche über Pflanzenhybriden“ nannte, applaudierte das Publikum zwar wohlwollend, ignorierte allerdings die Tragweite der Mendelschen Forschung. Ein Aufsatz in der Fachzeitschrift „Verhandlungen des Naturforschenden Vereins in Brünn für das Jahr 1865“ blieb unbeachtet, obwohl das Blatt alle namhaften Naturwissenschaftler im deutschsprachigen Raum erreichte.
Mendel gab nicht auf. Er gab vierzig Sonderdrucke seines Aufsatzes in Arbeit und schickte sie an die Spitzenkräfte der Fachwelt. Charles Darwin, der mit seiner zu dieser Zeit noch vorsichtig formulierten Evolutionstheorie als Revolutionär der Biologie galt, erhielt einen davon. Das Papier wurde nach Darwins Tod im Nachlass des britischen Forschers gefunden – ungeöffnet. Alle Welt erteilte der Vererbungslehre eine Absage. Bruder Gregor zog sich wieder ins Kloster zurück, wo er am 6. Januar 1884 starb.
Erst 1900, sechzehn Jahre nach Mendels Tod, entdeckten drei Forscher unabhängig voneinander, welcher Wissensschatz in den Katakomben der Universitäten schlummerte. Hugo de Vries, Carl Correns und Erich von Tschernak fanden in den Ideen des Augustinermönches ein Sprungbrett für eigene Forschungen und verliehen den Mendelschen Regeln die Bedeutung, die sie verdienten. Gregor Mendel hatte im Gemüse das Tor zum Geheimnis des Lebens entdeckt. Den Schlüssel aber fanden andere.
Mendels Faktoren verwandelten sich in Gene. Dafür sorgte 1909 der dänische Botaniker Wilhelm Johanssen, der den später weltbewegenden Begriff einführte. Von der Bedeutung der Genetik aber war noch lange nichts zu spüren. Im Gegenteil: An vielen Universitäten herrschte Unglaube gegenüber der Vererbungslehre, die ebenso als Scharlatanerie verurteilt wurde wie die Evolutionslehre Charles Darwins. Zu den größten Kritikern sowohl Mendels als auch Darwins gehörte Thomas Hunt Morgan, Embryologe an der Columbia-Universität in New York. Morgan aber war anders als die meisten seiner Kollegen, die den neuen Theorien über die Entstehung des Lebens und die Vererbung rigoros die kalte Schulter zeigten. Für ihn war eine Theorie ohne Beweis so wertlos wie eine Kritik ohne Gegenbeweis. Er begann intensive Studien, um die wilden Theorien aus Europa ein für allemal aus der Welt zu schaffen.
Erbsen kamen nicht infrage. Um eventuelle Fehler in Mendels Theorien aufspüren zu können, suchte Morgan nach einem anderen Studienobjekt. Er fand Drosophila melanogaster, die Taufliege. Das Insekt stach die Erbsen Mendels in vielerlei Hinsicht aus. Unabhängig von Wind und Wetter pflanzte sich die winzige Fliege in Bananenbrei unablässig fort, schon nach wenigen Wochen konnte Morgan die Nachfolgegeneration untersuchen. Überdies produzierte Drosophila nicht nur eine handvoll Erben, sondern gleich mehrere Hundert. Eine Menge Tiere bedeutete eine Menge Daten.
Der Biologe versuchte, die Experimente Mendels nachzuvollziehen. Dessen Methoden erschienen dem Forscher unzuverlässig, sie basierten auf Interpretation. Keine Spur von der unbestechlichen Arbeit eines echten Wissenschaftlers, meinte der Amerikaner. Trotzdem versprach die Vererbungslehre Gregor Mendels die Wissenschaft zu revolutionieren – vorausgesetzt, sie erwies sich als zutreffend.
Morgans Skepsis wich bald Verwunderung. Schon nach wenigen gezüchteten Generationen trat bei den Taufliegen eine Mutation auf. Im Vergrößerungsglas erkannte der New Yorker Biologe bei einigen Exemplaren von Drosophila melanogaster weiße Augen. Mendels Versuche im Blick, kreuzte Morgan die Mutation mit einer Fliege, welche die üblichen roten Augen hatte. Zwei Wochen später gab die erste Generation Fliegen Auskunft: Alle hatten rote Augen. Das passte genau zu den Beobachtungen Mendels. Nun blieb dem US-Biologen nichts anderen übrig, als die Merkmale der zweiten Generation abzuwarten. Zwei weitere Wochen gingen ins Land. Dann schlüpften die Enkel der weißäugigen Taufliegen. Thomas Hunt Morgan traute seinen Augen nicht: Einige Fliegen trugen das rote, einige das weiße Merkmal. Mendel hatte Recht.
Aber Thomas Morgan sah noch etwas: Alle Fliegen mit weißen Augen waren männlich. Zu dieser Zeit war bereits bekannt, dass das Geschlecht eines Individuums von einem Paar jener kaum bekannten Teilchen bestimmt wird, die im Zellkern zu finden sind – den Chromosomen. Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom. Morgan vermutete, dass die weißen Augen einiger männlicher Taufliegen mit dem Phänomen in Verbindung zu bringen waren, dass männliche Fliegen nur ein X-Chromosom tragen. Das wiederum würde bedeuten, dass das Gen für weiße Augen auf einem X-Chromosom zwar auch bei weiblichen Fliegen vorkommen kann, aber von dem zweiten X-Chromosom überlagert wird. Tausende Taufliegen brüteten und schlüpften in den folgenden Monaten im Labor an der Columbia-Universität, um schließlich die Vermutung Thomas Hunt Morgans zu bestätigen: Die Gene eines Lebewesens liegen auf den Chromosomen und werden nach einem Muster aneinander gekoppelt, dass heute „Crossing Over“ heißt. Es ist einer von vielen Mechanismen, die für die Neukombination von Genen in einem Lebewesen verantwortlich sind.
Anders als Gregor Mendel blieb Thomas Hunt Morgan die Anerkennung seiner Arbeit nicht verwehrt. 1933 erhielt er den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin – zum ersten Mal wurde ein Genetiker mit einer solchen Auszeichnung geehrt. Die Wissenschaft der Vererbungslehre war salonfähig geworden.
Mit den Augen der Taufliege hatte sich die Genetik zum Überflieger der Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert entwickelt. Es dauerte allerdings noch weitere dreißig Jahre, bis George Beadle und Edward Tatum den nächsten großen Schritt auf dem Weg zur Entschlüsselung des Erbgutes gingen. Sie fanden heraus: Gene können mehr als nur Erbfaktoren mischen.
Die Biologen verzichteten als erste auf Drosophila melanogaster und setzten einen neuen Testkandidaten auf das genetische Karussell. Nach der Erbse und der Fliege sollte nun schimmeliges Brot das Geheimnis des Lebens entschlüsseln helfen. Praktisch: Um Kulturen des Schimmelpilzes Neurospora crassa zu züchten, brauchten Beadle und Tatum nicht einmal mehr Glasbehälter. Brot, Luft und Wasser waren genug. Überdies ist Neurospora ein einfach gestricktes Lebewesen. Bei nur einem einzigen Satz Chromosomen sind genetische Veränderungen leicht zu erkennen – eine Chance für die Genetik.
An der Stanford University in Kalifornien bestrahlten Beadle und Tatum den Schimmel radioaktiv. Ende der 1930er Jahre war bereits bekannt, dass radioaktive Strahlen Mutationen hervorrufen können – ein Schreckgespenst aus dem Atomzeitalter. Für die Biologen aber öffnete die radioaktive Bestrahlung von Neurospora crassa die Tür zu einem tieferen Verständnis genetischer Zusammenhänge.
Beadle, ein Schüler von Thomas Hunt Morgan, entdeckte bei dem bestrahlten Schimmelpilz tatsächlich einen Defekt. Die Kulturen waren nicht mehr in der Lage, die Nährstoffe zu produzieren, die den Pilz wachsen ließen. Als Beadle die Nährstoffe jedoch künstlich auf den Schimmel gab, begannen einige Pilze wieder zu sprießen. Zusammen mit seinem Kollegen Edward Tatum kam er zu dem Schluss, dass die Pilze keine Nährstoffe mehr produzieren konnten, weil ihre Gene defekt waren. Gene, so lautete die Erkenntnis in Kalifornien, geben nicht nur Erbinformationen von einer Generation an die nächste weiter, sie steuern auch die Enzyme eines Lebewesens. Zum ersten Mal keimte in den Köpfen der Biologen der Verdacht, dass die Genetik die Wissenschaftler zu den tiefsten Geheimnissen des Lebens führen könnte. Dafür gab es 1959 zum zweiten Mal einen Nobelpreis in der jüngsten Disziplin der Biologie.
Der fortschrittlichste Zweig der Naturwissenschaften blieb zunächst in konservativen Zwängen gefangen – jedenfalls in den USA. Das bekam Barbara Mc-Clintock zu spüren, die als Frau in die Männerdomäne Genetik einzudringen versuchte.
Daraus wäre um ein Haar nichts geworden. Als junge Frau versuchte Barbara McClintock sich in den 1920er Jahren als Studentin für Genetik an der Universität einzuschreiben – das aber war nur Männern erlaubt. McClintock fand einen Umweg über die Botanik. In dieser Disziplin waren Frauen zugelassen. So kam es, dass Barbara McClintock Maiskörner zählte wie einst Gregor Mendel Erbsen.
Karriere aber war verboten. Trotz beachtenswerter Erfolge in der Forschung wurden dem Talent hohe akademische Titel und entsprechende Positionen in der Forschung mehrfach verweigert. Barbara McClintock galt bei ihren Kollegen als schwierig und eigenbrötlerisch, sie setzte sich über die Bürokratie der Universitäten hinweg, blieb lange nach den Öffnungszeiten noch in ihren Arbeitsräumen und brach an Sonntagen in das Labor ein, um die Untersuchung fortsetzen zu können. Schließlich kehrte sie der Cornell-Universität in Ithaca, New York, den Rücken. McClintock suchte ihr Glück 1941 in einer privaten Forschungseinrichtung, dem Cold Spring Harbor Labor auf Long Island. Dort setzte sie aus Tausenden von Maiskörnern das Mosaik des Erbgutes zusammen.
Wenn Maispflanzen die Leinwand von McClintocks Theorien zur Vererbungslehre bildeten, so waren radioaktive Strahlen Pinsel und Palette. Mit ihnen versuchte die Biologin die Vorgänge in den Pflanzen sichtbar werden zu lassen. Wie Beadle und Tatum den Schimmelpilz, so bestrahlte auch Barbara McClintock ihr Untersuchungsmaterial, um Mutationen hervorzurufen und daran Gesetzmäßigkeiten im Erbgut zu erkennen. Eines Tages beobachtete sie, dass eine neue Generation von Maispflanzen merkwürdige Streifen und Flecken auf den Körnern zeigte. Es schien sich um ein Muster zu handeln, aber es sah anders aus als jene, die von der radioaktiven Strahlung hervorgerufen wurden. Barbara McClintock kannte ihr Maisfeld ganz genau, sie hatte Jahre ihres Lebens damit zugebracht, kleinste Veränderungen auf Maiskörnern zu katalogisieren. Diese seltsame Zeichnung gehörte nicht zum üblichen Bild. Entweder war etwas Außergewöhnliches geschehen oder Barbara McClintock war dank ihrer langjährigen Hingabe an die Maiskörner derartig sensibilisiert für die Pflanze, dass sie als erste mit bloßem Auge sehen konnte, was allen anderen verborgen war – eine Veränderung, die anders aussah als all jene, die durch Strahlung hervorgerufen worden waren.
Zunächst stach die Zeichnung der Blätter ins Auge. Zeigte ein Blatt mehr grüne Streifen als üblich, so trug ein benachbartes Blatt weniger. Dieses Verhältnis galt auch für andere Zeichnungen, Farben und Formen von Blättern und Körnern. Stets tauchten Farbmuster in gegensätzlichen Paaren auf. Was für einen weniger aufmerksamen Beobachter nur eine Laune der Natur gewesen wäre, verblüffte Barbara McClintock. Sie erntete die Maispflanzen ab und verbrachte die nächsten sechs Jahre ihres Lebens damit, nach einem Mechanismus für die rätselhafte Mutation zu suchen.
Noch während die Biologin über den Maiskörnern brütete, bekam sie erstmals Anerkennung für ihre hartnäckige Arbeit. Die Amerikanische Akademie der Wissenschaften nahm Barbara McClintock 1944 in ihre Reihen auf. Die Forscherin war verblüfft: „Juden, Frauen und Neger sind es gewöhnt, diskriminiert zu werden und erwarten nicht viel. Ich bin keine Feministin, aber ich freue mich immer, wenn unlogische Barrieren durchbrochen werden – es hilft uns allen.“ Eine Professur aber ließ weiter auf sich warten.
Die Pforten der Universitäten blieben ihr verschlossen, dafür öffnete sich jene zum Verständnis des Erbguts. McClintock entdeckte springende Gene. Sie vermutete – und bewies später –, dass Gene auf einem Chromosom verschiedene Positionen einnehmen konnten. Lag in einer Maispflanze das Gen für grüne Streifen auf einer Position der Chromosomen, die für die Blattfarbe zuständig war, tauchte es in einer anderen Pflanze an der Position auf, welche die Körnerfarbe bestimmte. Bisher war die Biologie davon ausgegangen, dass bestimmte Gene stets dieselbe Position auf einem Chromosom einnehmen. Dass nun ausgerechnet eine Frau an diesem Dogma der Vererbungslehre rüttelte, passte den männlichen Kollegen nicht. Barbara McClintock präsentierte ihre Beweise 1951 der Öffentlichkeit und bekam eine Abfuhr.
„Sie ist nur eine alte Schachtel, die seit Jahren in Cold Spring Harbor herumhängt“, lautete der Kommentar eines männlichen Kollegen, nachdem die so genannte Fachwelt Babara McClintocks Forschungsergebnisse in der Luft zerrissen hatte. Die Biologin zog sich in die Abgeschiedenheit ihres Labors zurück. Es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis die springenden Gene, heute als Transposons allgemein anerkannt, zum Basiswissen jedes Biologiestudenten gehörten. Heute gilt: Transposons ermöglichen Genen zu mutieren, um zum Beispiel auf Veränderungen in der Umwelt zu reagieren.
Nach der öffentlichen Ablehnung ihrer Theorien hielt sie nie wieder eine Vorlesung. Nur einmal noch tauchte die Biologin in der Öffentlichkeit auf. 1983 nahm Barbara McClintock den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin in Stockholm entgegen. Nach dem Rezept für ihre Hartnäckigkeit und ihr Durchhaltevermögen befragt, antwortete sie: „Wenn man weiß, dass man Recht hat, ist es nicht so schlimm. Man weiß, früher oder später kommt die Wahrheit ans Licht.“ Barbara McClintock starb am 2. September 1992.
Doch der Weg zur Entschlüsselung des Erbguts war mit Hürden verstellt. Gene und Chromosomen waren keineswegs das gesamte Rüstzeug der Vererbungslehre. Unter der Spitze des molekularen Eisbergs entdeckten erst die US-Biologen Alfred Hershey und Martha Chase die Basis der Chromosomen: DNA.
Alles, was die Forscher für ihre Entdeckung benötigten, waren eine Idee und ein Rührgerät. Den Mixer lieferte die Institutskantine – Hershey und Chase arbeiteten wie Barbara McClintock im Cold Spring Harbor Labor. Die Idee lieferte ein Virus.
Ein Bakteriophage ist ein einfach zu durchschauender Organismus, der nicht einmal einen eigenen Stoffwechsel besitzt. Stattdessen infizieren sie Bakterien, vermehren sich in ihnen und verändern den Stoffwechsel ihrer Wirte dergestalt, dass die zur Vermehrung notwendigen Enzyme nun vom Wirt selbst produziert werden. Die Bakterie unterstützt damit unfreiwillig ihren blinden Passagier, indem sie die Produktion von immer mehr Viren anregt. Der Bakteriophage selbst besteht nur aus zwei Bausteinen: einer Hülle aus Eiweiß und einer darin liegenden Substanz, die Biologen schon seit Jahrzehnten als Desoxyribonukleinsäure kannten, kurz: DNS. Wer die Säure durch das englische Wort „acid“ ersetzt, erhält Desoxyribonucleic acid, den vollen Namen der berühmten DNA.
Auch Viren geben Erbgut weiter. Das fand Alfred Hershey 1946 heraus, als er entdeckte, dass zwei Bakteriophagen, die dieselbe Bakterienzelle infiziert hatten, genetisches Material untereinander ausgetauscht hatten. Der Austausch der Erbinformationen musste über den Wirt gelaufen sein. Aber welche Substanz hatte die Erbinformationen der Bakteriophagen weitergegeben: Protein oder DNA? Mit nur zwei möglichen Varianten war der winzige Organismus der perfekte Kandidat, um eine Antwort zu geben. Hershey und Chase nahmen zwei Gruppen von Phagen und bestrahlten sie radioaktiv. Deutlich war danach das Protein bei der einen und die DNA bei der anderen Gruppe zu erkennen. Die Biologen ließen die Phagen auf eine Gruppe von Bakterien los und beobachteten, was geschah.
Wie erwartet, infizierten die Phagen die Bakterien. Die Biologen gaben den Organismen Zeit, ihre Arbeit zu erledigen. Dann mussten die Phagen von den Bakterien wieder getrennt werden. Von Hand war das kaum möglich. Also steckten Hershey und Chase ihre Probanden 1952 in ein Rührgerät und schleuderten sie darin so lange herum, bis sie sich in Teilen wieder voneinander gelöst hatten. Durch die zentrifugalen Kräfte im Mixer wirbelten die Zellen in der Nährlösung zu einer Masse zusammen und ließen sich so gut von den Fragmenten der Phagen unterscheiden. Das Ergebnis war bahnbrechend. Hershey und Chase erkannten, dass es nicht das Protein war, das die Hülle der Bakterie durchbrochen hatte. Stattdessen fanden sie im Innern der Bakterie die radioaktive DNA der Phagen. Demnach musste die rätselhafte Säure die Informationen an die Zelle liefern, die dann begann, die Viren mit den lebenswichtigen Enzymen zu versorgen. DNA war die Blaupause des Lebens.
DNA – was ist das? Der nächste Schritt führte noch tiefer hinein in das Rätsel der Vererbung. Dank des Experiments im Kantinenmixer war die Funktion der DNA nun immerhin zu erahnen. Welche Funktionen sich aber in der Substanz verbargen, war eine Frage, die weltweit die Neugier von Biologen weckte. Ein Wettlauf um die Entschlüsselung des Erbguts begann. Forscher in den USA und Großbritannien tüftelten um die Wette.
Favorit in Nordamerika war der Biochemiker Linus Pauling. Er entschlüsselte die Struktur vieler Proteine und kam 1953 zu dem Ergebnis, dass die DNA die Form einer Helix hat – die Moleküle sind auf ihr wie auf einer Spirale aneinandergereiht, so Paulings Vermutung. Die Erkenntnis war richtig, aber Pauling unterlief ein Fehler. Er behauptete, die DNA bestünde aus drei Spiralsträngen, die sich umeinander winden. Falsch, erkannten der Physiker Francis Crick und der Biologe James Watson. Sie gehörten zu den ersten Menschen, welche die DNA-Struktur mit eigenen Augen sahen.
Sichtbar wurde die Spirale in einem Labor im Londoner King’s College. Dort arbeitete die Röntgenspezialistin Rosalind Franklin daran, DNA optisch abzubilden. Während sich Crick und Watson in ihrem Labor in Cambridge hitzige Debatten lieferten, herrschte in London eisiges Schweigen. Zwischen Rosalind Franklin und ihrem Chef, dem Biologen Maurice Wilkins, tobte ein Kleinkrieg. Trotz sensationeller Erfolge verschloss sich Franklin jeder wissenschaftlichen Diskussion und behielt die Ergebnisse ihrer Arbeit für sich. Was aber in den Aufzeichnungen der Forscherin steckte, war der entscheidende Hinweis – eine durch Röntgenstrahlen ermöglichte fotografische Aufnahme der DNA-Doppelspirale, nur verschwommen zu erkennen, aber für den Eingeweihten so eindeutig sichtbar wie ein Bild vom letzten Weihnachtsfest. Während Wilkins darauf drängte, das Foto anderen Wissenschaftlern zu zeigen, um gemeinsam zu einer Lösung des DNA-Rätsels zu gelangen, hatte Franklin Bedenken. Ihrer Meinung nach war es zu früh, von einem Ergebnis zu sprechen. Sie hatte zwar die DNA sichtbar gemacht, aber sie vermutete, dass die Form der Säure sich unter verschiedenen Bedingungen – etwa Feuchtigkeit – anders darstellen könnte und wollte weitere Tests abwarten. Dazu aber kam es nicht.
Wilkins, Crick und Watson waren Freunde. In einem Brief von Wilkins an Crick aus dem Jahr 1952 findet sich folgende Zeile: „Franklin bellt oft, es gelingt ihr aber nicht, mich zu beißen. Seitdem ich meine Zeit neu eingeteilt habe, so dass ich mich auf die Arbeit konzentrieren kann, geht es mir nicht mehr so nahe.“ Eines Tages besuchte James Watson seinen Kollegen in London. Rosalind Franklin war zuvor auch mit Watson persönlich aneinandergeraten. Als der Kollege aus Cambridge erschien, verließ sie das Labor. Ihr Vorgesetzter Wilkins nutzte die Gunst der Stunde. Wohl wissend, dass Watson kurz davor war, die DNA-Struktur zu entschlüsseln, ihm aber der entscheidende Hinweis fehlte, holte er die Aufnahme von Rosalind Franklin hervor und zeigte Watson das Ergebnis, ohne ihre Zustimmung einzuholen. James Watson erkannte, was er bereits vermutet hatte. „Mir klappte der Unterkiefer herunter und mein Puls flatterte“, schrieb der Wissenschaftler später in seinen Erinnerungen. Auf dem Foto war eine Doppelspirale zu erkennen. Das Bild war der letzte Baustein, der Watson und Crick fehlte. Die Forscher hatten die DNA-Doppelhelix gefunden, das räumliche Spiralmodell der menschlichen Gene, das „einen möglichen Kopiermechanismus für das genetische Material unmittelbar nahe legt“. Mit diesem berühmten Nachsatz schlossen Watson und Crick 1953 einen Aufsatz in der US-Zeitschrift „Nature“. Das Rennen um eine der bedeutendsten Entdeckungen des 20. Jahrhundert war beendet.
Die Doppelspirale der DNA ähnelt einer schraubenförmig gedrehten Strickleiter. Zwischen den beiden Strängen liegen die vier Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T) wie Leitersprossen. DNA liegt im Zellkern und besteht aus drei Arten von Molekülen. Phosphor und Zuckermoleküle bilden die Stränge der Leiter, die Basen verbinden die Stränge wie Leitersprossen. Zwischen den Basen jedes Stranges befindet sich eine Brücke aus Wasserstoff. Eine freie Kombination der Basen ist jedoch nicht möglich. Adenin liegt stets nur Cytosin gegenüber, Thymin stets Guanin. Die Reihenfolge, in der die Basen auf den Strängen liegen, legt die Reihenfolge der Aminosäuren in einem Protein fest – dieser Schlüssel ist der genetische Code, der für alle Lebewesen gilt.
Zunächst schien die DNA keine große Bedeutung zu haben. Selbst der berühmte Genetiker Max Delbrück hatte sie ein „dummes Molekül“ genannt. Erst ein tieferer Blick in die Zellen offenbarte, welche Arbeit die DNA beim Aufbau des Lebens wirklich leistet. Aus den von der DNA codierten Aminosäuren setzen sich die Proteine zusammen. Diese wiederum bauen die Zellbestandteile auf, aus denen der Organismus besteht. Die in der DNA gespeicherten Informationen entscheiden über die Gestalt eines Lebewesens, über seine Lebensprozesse wie den Enzym- und Hormonhaushalt sowie sämtliche anderen Merkmale. Wer den Schlüssel zum Inneren der DNA in Händen hält, kann das Leben an seinem Ursprung erforschen.
Als 1962 der Nobelpreis für Medizin an Francis Harry Crick, Maurice Hugh Wilkins und James Dewey Watson vergeben wurde, stand Rosalind Franklin nicht mit auf der Ehrentribüne in Stockholm. Die Wissenschaftlerin war 1958 im Alter von 37 Jahren an Krebs gestorben, den sie sich vermutlich durch die Anwendung der Röntgenstrukturanalyse zugezogen hatte. Noch postum blieb Franklin die Anerkennung ihrer Arbeit verwehrt. In seinem Buch „Die Doppelhelix“ verewigte James Watson die Kollegin 1968 als übellaunigen Drachen, der auf einem Hort aus Daten hockte. Tatsächlich hatte sich Rosalind Franklin kurz nach dem Eklat mit Wilkins und Watson aus dem King’s College zurückgezogen, um andernorts einen Tabakvirus zu studieren. Ihre Biografin Brenda Maddox studierte die Aufzeichnungen der Forscherin und erklärte in ihrem Buch „The Dark Lady of DNA“ 2003: „Rosalinds Notizbücher belegen deutlich, dass sie selbst wenig später zu derselben Erkenntnis gelangt wäre wie Watson und Crick.“
Mit der Entdeckung der DNA-Doppelhelix endete eine fast hundert Jahre lange Forschungsodyssee, die mit den Arbeiten Mendels in Brünn begonnen hatte. Noch aber ahnte nur ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern, welche Möglichkeiten die Entdeckung der Nobelpreisträger eröffnete.
Woraus besteht DNA? Schon Jahre bevor Watson und Crick das Modell der Doppelhelix vorstellten, wussten Biochemiker, dass DNA Proteine codierte, die im Zytoplasma liegen, der Grundsubstanz der Zelle. DNA hingegen befindet sich im Zellkern, abgeschirmt vom Rest der Zelle. Die Frage, wie es der DNA vom Zellkern aus gelingt, die Proteine im Zytoplasma zu codieren, wurde heiß diskutiert. Weltweit untersuchten Biologen Tausende von Zellen und fanden eine auffallende Übereinstimmung: In Zellen mit hoher Proteinproduktion fiel stets eine merkwürdige Struktur auf. Sie ähnelte der DNA-Doppelhelix, doch war diese noch nicht erkannt. Erst nach der Publikation der Spirale durch Watson und Crick nahm die Erforschung der Mechanismen in der Zelle Fahrt auf.
Die merkwürdige Struktur im Zytoplasma war RNA, ein Verwandter der DNA, jedoch mit nur einem Strang statt zweien. Bald schon ahnten die Forscher, dass RNA dafür zuständig ist, die Proteinfabriken im Zytoplasma zu steuern. Ein Beleg musste her. Noch einmal sollten Bakteriophagen die Antwort liefern, Viren, die nur aus Protein und DNA bestanden und ihr Geheimnis im Küchenmixer offenbart hatten. Dieses Mal sollten die Bakteriophagen auch Auskunft über jene Prozesse geben, die nach dem Befall des Wirtes in dessen Innerem ablaufen. Das Ergebnis war erstaunlich. Schon kurz nachdem der Virus die Bakterie befallen hatte, gab er seine DNA in den Wirt. So weit war der Vorgang bekannt. Nun aber erkannten die Biologen noch etwas: In der befallenen Zelle entstanden Spuren jener Struktur, die bereits bei der Produktion von Proteinen aufgefallen war. Es war die RNA des Virus, die plötzlich in der Bakterienzelle schwamm – und tatsächlich begann die Produktion von Protein plötzlich zuzunehmen. Was hier in den kleinsten Lebewesen geschah, war eine Miniatur des Bauplans allen Lebens: Der einzelne Strang der RNA drang in die Ribosomen, die Proteinfabriken, ein und lieferte Informationen aus der Virus-DNA an die Wirtszelle. Alles künftig hergestellte Protein im Zytoplasma der Zelle entstand nun nach dem Bauplan, den der Bote an die Ribosomen geliefert hatte. Die Messenger-RNA (mRNA) oder Boten-RNA war entdeckt. Heute glauben die meisten Wissenschaftler, dass mRNA und andere RNA-Moleküle die Nachfahren der ersten primitiven Chemiebausteine der Erde sind, Teile jener Ursuppe, in welcher die ersten Organismen schwammen.
Noch aber war der genetische Code nicht vollständig geknackt. Das versuchte 1962 der US-Biochemiker Marshall Warren Nirenberg. Zu dieser Zeit war bereits bekannt, dass die Art eines Proteins davon abhängt, aus welcher Kombination von drei Basen die Aminosäuren des Proteins zusammengesetzt sind. Nirenberg wusste: An der Produktion von Protein sind zwanzig Aminosäuren beteiligt. Wie kam diese Vielfalt zustande? Für seine Experimente nutzte Nirenberg mRNA. Wie DNA besteht auch RNA aus den vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Der Biochemiker entdeckte: Wenn drei dieser Basen in einer bestimmten Reihenfolge zusammenkommen, formen sie ein Triplet. Dieses Triplet ist der Code für die Produktion einer bestimmten Aminosäure. Die Reihenfolge, in welcher die Triplets auf der mRNA und der DNA liegen, ist der Bauplan für die Produktion von Proteinen. Die Reihenfolge wird von der DNA an die mRNA weitergegeben, die wiederum nach diesem Muster Proteine codiert. Nirenberg erkannte auf molekularer Basis, was Gregor Mendel an den millionenfach größeren Erbsenkörnern entdeckt hatte. Was Mendel aber nur mit dem Begriff Faktoren umschreiben konnte, erkannte Nirenberg als eine der 64 möglichen Kombination aus vier Buchstaben. Welche Anlage Vater und Mutter ihren Kindern auch weitergeben mögen, stets sind A, C, G und T im Spiel. Mit diesem Vokabular gelang es Nirenberg 1964, die Funktionsweise der DNA, der mRNA, der Proteine und Aminosäuren zu erklären. Der genetische Code war geknackt.
„Es war mir, als öffne sich eine Tür in ein Spielzeuggeschäft“, erinnerte sich Nirenberg in einem Interview mit dem US-amerikanischen Discovery-Channel. Die Möglichkeiten, die sich der Wissenschaft mit dem kleinsten Baukasten der Welt eröffneten, waren gewaltig. In den folgenden Jahren sollten A, C, G und T zum neuen Alphabet der Biochemiker werden. Jedes Lebewesen auf der Erde war nach dem Prinzip Base – Aminosäure – Protein entstanden. Das ließ sich leicht feststellen. A, C, G und T gab es in der DNA von Säugetieren, von Pflanzen, Pilzen und Insekten, von Einzellern und Mehrzellern. Die Schlussfolgerung musste deshalb lauten: Alle Lebewesen sind miteinander verwandt. Neben Mendels Vererbungslehre bewies die Biochemie damit auch noch Teile der Evolutionstheorie Charles Darwins.
Nun fehlten noch die Werkzeuge, um DNA zu manipulieren. Noch einmal beriefen sich die Molekularbiologen auf die erfolgreichen Bakteriophagen. Obwohl die Viren nur aus Protein und DNA bestehen, lag noch immer ein Geheimnis in ihnen verborgen. Ließen Biologen die Viren auf Bakterien los, infizierten zwar die meisten Phagen planmäßig ihre Wirte, aber das gelang bei weitem nicht allen. Diese Beobachtung erschien während der frühen Experimente mit Bakteriophagen nebensächlich, immerhin ging es damals um die Entdeckung des Erbgutträgers und nicht um Randerscheinungen. Nun aber war der genetische Code geknackt, und die Wissenschaft schaute noch einmal bei den Bakteriophagen nach. Wie gelang es einigen Bakterien, die Invasoren abzuwehren? Diesmal kam die Antwort aus Europa.
Der Schweizer Molekularbiologe Werner Arber entdeckte 1962 in einigen Bakterien ein Enzym, das sich gegen die eindringende DNA des Virus zur Wehr setzte. „Restriktionsenzym“ nannte Arber den kleinen Helfer der Bakterie. Wie sich herausstellte, lagerte sich das Enzym an der fremden DNA des Virus an, sobald diese in die Bakterie eingedrungen war. Dann schnitt das Enzym die DNA in Stücke. Die Folge: Die DNA war nicht mehr vollständig und konnte die Bakterie nicht mehr veranlassen, in ihrem Sinne Nährstoffe zu produzieren. Die Übernahme war fehlgeschlagen. An der Universität von Michigan ging der Mikrobiologe Hamilton Smith den nächsten Schritt in Richtung Genetik und den ersten in Richtung Gentechnik. Smith fand heraus, welches Enzym in dem Bakteriophagen wirkte und an welcher Stelle es die DNA des Virus zerschnitt. Dabei entdeckte er, dass die DNA nicht zufällig in beliebig große Teile geteilt wurde. Vielmehr ging das Enzym stets an derselben Stelle der DNA zu Werke. Das Ergebnis ließ sich mit anderen Restriktionsenzymen wiederholen, jede Art von Enzym schnitt die DNA an einer anderen Stelle entzwei. Mit ihren Forschungen gaben Arber und Smith der Biologie eine molekulare Schere in die Hand – bis heute sind die Restriktionsenzyme das Grundwerkzeug in den Laboren der Gentechnik.