Der ehemalige Sohn

Für meine Großmutter

Vorwort

Das Buch, das Sie in Händen halten, hat ein glückliches Los. Kaum war es 2014 erschienen, erhielt ich als blutjunger Schriftsteller von 29 Jahren einen der renommiertesten russischen Literaturpreise. Der Roman wurde mehrmals neu aufgelegt, als Theaterstück inszeniert, in verschiedene Sprachen übersetzt, und das alles freut mich als Autor, macht mich als Staatsbürger aber traurig …

 

Nach dem ›Russkaja Premija‹ für Der ehemalige Sohn wurde der Roman nicht nur gelobt, sondern es hagelte, wie üblich, auch Kritik. Der häufigste Vorwurf lautete kurz und bündig: So etwas gibt es nicht. Zum Glück oder zum Unglück haben die Ereignisse von 2020 wieder einmal gezeigt, dass ich bei meiner Beschreibung des ins Koma gefallenen Belarus ehrlich mit mir selbst und mit meinen Lesern war. Dieses Buch ist ein Versuch zu analysieren, warum mein Land eines Tages in einen lethargischen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte. Dieses Buch ist (zumindest hoffe ich das) eine Erklärung dafür, warum die Belarussen 2020 nicht mehr weiterschlafen wollten und aus ihrem Koma erwachten. Dieses Buch ist ein Versuch zu begreifen, warum wir zu ehemaligen Söhnen und Töchtern des eigenen Landes und ehemaligen Kindern der eigenen Eltern wurden. Dieses Buch ist im Grunde ein Lexikon von Anlässen, ein Wörterbuch von Gründen für die Belarussen, ihre Häuser zu verlassen.

 

Zum Glück für den Autor, aber zum Leidwesen der Belarussen sind ganze Seiten aus meinem Roman Wirklichkeit geworden, und es kommen immer noch mehr dazu.

Es ehrt mich, dass nicht nur Kritikerinnen und Leser auf mein Buch aufmerksam wurden, sondern auch die Staatsmacht: In den meisten Minsker Buchläden ist Der ehemalige Sohn zwar erhältlich, aber nur unter der Hand, er steht nicht in den Regalen. Und der belarussischen Nationalbibliothek wurde dringend empfohlen, das Buch nicht in den Katalog aufzunehmen.

Dieses Buch erzählt von einem Land mitten in Europa, in dem das oben Beschriebene möglich ist. Vor allem aber handelt es von der Liebe – von der Liebe, die die Kraft hat, einen Menschen zu heilen und ein ganzes Land aus dem Tiefschlaf zu wecken.

Meine inständige Hoffnung ist, dass dieses Buch in meinem Land eines Tages nicht mehr aktuell sein wird …

 

Sasha Filipenko

Der ehemalige Sohn