Fußnoten

Garcilaso de la Vega (15031536), berühmter spanischer Dichter.

{7}Vorwort an den Leser

WENN ES IRGEND ANGÄNGIG WÄRE, GELIEBTER LESER, so würde ich dieses Vorwort ungeschrieben lassen; denn mit dem, das ich meinem ›Don Quichote‹ vorausschickte, habe ich nicht so gute Erfahrungen gemacht, daß ich Lust verspürte, mit diesem hier noch einmal das gleiche zu erleben. Die Schuld daran, daß ich es nun doch schreibe, trägt einer der vielen Freunde, die ich mir im Verlaufe meines Lebens mehr durch meinen Charakter als durch mein Talent erworben habe. Dieser Freund hätte nun, wie es Sitte und Brauch ist, auf der ersten Seite dieses Buches mein Bild in Holz oder Kupfer bringen können; die Vorlage dazu hätte er von dem berühmten Don Juan de Jauregui bekommen. Damit wäre mein Ehrgeiz befriedigt gewesen und zugleich der Wunsch manches Lesers, der gern einmal erfahren hätte, wie denn eigentlich dieser Mann von Gestalt und Antlitz beschaffen sei, der es wagt, mit so vielen eigenen Erfindungen auf den Markt der Welt zu treten und sie vor den Augen der Leute auszubreiten. Unter das Bild hätte er dann schreiben können: »Da ist er, schaut ihn euch nur an: ein scharfgeschnittenes Gesicht, kastanienbraunes Haar, eine freie, offene Stirn, fröhliche Augen und eine gebogene, aber wohlproportionierte Nase, ein silbergrauer Kinnbart, der vor kaum zwanzig Jahren goldblond schimmerte, ein großer Schnurrbart und ein kleiner Mund. Die Zähne sind weder besonders zahlreich noch ansehnlich; er hat nur noch sechs davon, und auch die sind in schlechtem Zustand und stehen ihm zudem noch ungeschickt im Munde, da häßliche Lücken {8}zwischen ihnen sind. Die Gestalt hält etwa die Mitte zwischen groß und klein, die Gesichtsfarbe ist frisch, eher weiß als bräunlich, die Schultern sind etwas hochgezogen und die Beine nicht sehr flink. Das, ich versichere es dir, ist der Verfasser der ›Galatea‹ und des ›Don Quijote von der Mancha‹, der Mann, der in Anlehnung an Cesare Caporali aus Perugia die ›Reise auf den Parnaß‹ schrieb und dazu noch eine Reihe anderer Werke, die irgendwo in der Welt umherirren und vielleicht sogar den Namen ihres Autors verloren haben, der gemeinhin MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRA lautet. Lange Jahre hindurch war er Soldat, und fünfundeinhalbes Jahr verbrachte er in der Gefangenschaft, wo er lernte, auch im Unglück Geduld und Fassung zu bewahren. In der Seeschlacht bei Lepanto wurde ihm durch einen Musketenschuß die linke Hand verstümmelt, und wenn diese Wunde auch häßlich aussehen mag, so gilt sie ihm doch als schön, weil er sie bei dem denkwürdigsten und großartigsten Ereignis erwarb, das die Jahrhunderte je sahen und sehen werden, im Kampf unter den siegreichen Bannern jenes Feldherrn, der ein Sohn des Schlachtenblitzes, Karls V. glücklichen Angedenkens war.« Und wenn diesem Freund, über den ich mich hier beklage, nichts weiter eingefallen wäre, was er von mir berichten könnte, so hätte ich selbst wohl ein paar Dutzend Zeugnisse zusammengestellt und sie ihm im geheimen mitgeteilt, damit er meinen Namen berühmt machen und meinen Geist preisen könnte; denn man darf doch beileibe nicht denken, daß die Verfasser solcher Lobreden sich immer streng an die Wahrheit halten müßten, da bekanntlich Lob wie Tadel nicht an feste und bestimmte Grenzen gebunden sind.

Diese gute Gelegenheit ist ja nun leider verpaßt; das Titelblatt ist weiß geblieben und trägt nicht mein Bildnis, und so muß ich mich wohl oder übel meines eigenen Mundwerks bedienen. Und wenn es auch sonst etwas damit hapern mag, so wird es doch schnell ein paar {9}Wahrheiten stammeln, die auch in der Umschreibung verstanden zu werden pflegen. So wende ich mich denn noch einmal direkt an dich, liebenswürdiger Leser, und versichere dir, daß du aus den Novellen, die ich dir hier darbiete, auf keinen Fall ein wildes Gemengsel, sozusagen einen Geflügelsalat, machen darfst, denn sie haben weder Kopf noch Fuß noch Eingeweide noch sonst etwas Ähnliches. Damit will ich sagen, daß die süßen Liebesworte, die du in einigen dieser Novellen finden wirst, so ehrbar und so durchaus einem christlichen Denken und Reden angemessen sind, daß sie keinen Menschen auf schlechte Gedanken bringen können, mag er sie nun flüchtig oder sorgsam lesen.

›Beispielhafte Novellen‹ habe ich mein Buch genannt, und wenn du recht hinsiehst, so wirst du keine Novelle finden, aus der sich nicht irgendeine nützliche Lehre ziehen ließe. Wenn es mir nicht gegen den Strich ginge, dieses Thema noch weiter auszuspinnen, so könnte ich dir vor Augen führen, wie sich aus allen zusammen und aus jeder einzelnen ein gar köstlicher und ehrenhafter Gewinn ziehen läßt.

Es war meine Absicht, auf dem großen Marktplatz unseres öffentlichen Lebens einen Spieltisch aufzustellen, an den jedermann herantreten und sich ergötzen kann, ohne wie beim Ringspiel mit den Eckpfeilern in Konflikt zu geraten; dies ist so zu verstehen, daß er weder an seinem Körper noch an seiner Seele dabei Schaden leiden soll, wie denn überhaupt ein wohlanständiger und angenehmer Zeitvertreib eher nützt als schadet.

Ja, so ist es: man kann nicht alle Zeit in den Kirchen zubringen, nicht immer sind die Bethäuser besetzt und nicht immer liegt man seinen Geschäften ob, so wichtig sie sein mögen. Es muß auch Stunden der Erholung geben, in denen der müde Geist ausruhen kann. Zu diesem Zweck pflanzt man die schönen Alleen, zu diesem Zweck erschließt man die Quellen, ebnet das abschüssige Gelände und legt mit aller Sorgfalt zierliche Gärten an.

{10}Eins noch wage ich dir zu sagen: wäre es möglich, daß ein Leser meiner Novellen durch sie zu unredlichen Gelüsten oder Gedanken angeregt würde, so wollte ich mir lieber die Hand abhacken, mit der ich sie niederschrieb, als daß ich sie vor die Öffentlichkeit brächte. Mein Alter ist nicht dazu angetan, leichtfertig über das Jenseits zu spotten: denn es ist schon seine neun Jährchen her, seit ich fünfundfünzig war.

Geist und Neigung führten mich auf diesen Weg, und so kann ich nun mit Recht behaupten, daß ich der erste bin, der in kastilischer Sprache Novellen geschrieben hat. Denn all die vielen Novellen, die bisher bei uns gedruckt wurden, sind aus fremden Sprachen übersetzt; diese hier jedoch stammen von mir selbst, sie sind nicht abgeguckt und nicht gestohlen: mein Hirn erzeugte sie, meine Feder gebar sie und unter den Fittichen der Druckerpresse sollen sie nun heranwachsen. Hernach will ich dir, sofern mein Leben mir die Zeit dazu läßt, noch die ›Leiden des Persiles‹ darbringen, ein Buch, das sich anmaßt, mit Heliodor zu wetteifern, falls es nicht um dieser Anmaßung willen ein schlechtes Ende mit ihm nimmt. Vorerst aber wirst du in Kürze einen Band sehen, in dem die Heldentaten Don Quijotes und die witzigen Einfälle Sancho Pansas ihre Fortsetzung finden, und später kommen dann noch die ›Wochen im Garten‹ hinzu. Ich verspreche viel trotz meiner schwachen Kräfte, aber wer kann wohl seinen Wünschen Zügel anlegen? Nur das eine noch bitte ich dich zu bedenken: da ich die Kühnheit gehabt habe, diese Novellen dem hochgeborenen Grafen von Lemos zu widmen, muß in ihnen schon ein Geheimnis verborgen liegen, das ihnen solch hohen Wert verleiht. Jetzt wünsche ich nur noch, daß Gott dich behüten und mir die nötige Geduld verleihen möge, um all die scharfe Kritik zu ertragen, mit der die spitzfindigen Gecken nun über mich herfallen werden. Und damit gehab dich wohl!

{11}An Don Pedro Fernandez de Castro,

Graf von Lemos, von Andrade und von Villalba, Marquis von Sarria, Kammerherr Seiner Majestät, Vizekönig, Gouverneur und Generalkapitän des Königreichs Neapel, Komtur der Ordenspfründe La Zarza im Alcántara-Orden

DIEJENIGEN, DIE EINEM GROSSEN HERRN IHRE WERKE widmen, verfallen dabei gewöhnlich in zwei Fehler. Zum ersten lassen sie sich von den Tatsachen oder auch von ihrem Hang zur Schmeichelei verführen und verbreiten sich in ihrem Widmungsschreiben, das doch möglichst kurz und gedrängt sein muß, ausführlich und eingehend über die Taten nicht nur der Eltern und Voreltern, sondern auch der weiteren Verwandten, Freunde und Wohltäter ihres Gönners. Zweitens verkünden sie, daß sie ihre Werke unter den Schutz und Schirm des hohen Herrn stellen wollen, damit die spitzen Lästerzungen sich nicht an sie heranwagen, um sie zu zerstückeln und zu zersetzen. Ich will diese beiden Fehler vermeiden und übergehe daher mit Stillschweigen all die Großtaten und Ehrentitel des altehrwürdigen Fürstengeschlechtes, dem Ew. Exzellenz angehören. Ich will seine unendlichen, ihm von der Natur verliehenen oder durch eigenes Verdienst erworbenen Vorzüge hier nicht aufzählen, sondern überlasse es lieber einem neuen Phidias oder Lysipp, den Marmorblock oder die Bronzetafel zu finden, in dem er sie so verherrlichen kann, daß sie den Lauf der Zeiten überdauern. Auch bitte ich Ew. Exzellenz nicht, dieses Buch unter Dero Schutz zu nehmen; denn ich weiß wohl, wenn es nicht gut wäre, so könnte ich es getrost unter die Flügel des Musenrosses oder in den Schatten der Keule des Herkules legen, die Zoilosse, die Zyniker, {12}die Aretine und die Bernias würden darum doch ohne Rücksicht ihre scharfen Zungen daran wetzen. Nur mögen Ew. Exzellenz gnädigst bemerken, daß ich Euch hier mir nichts dir nichts zwölf Erzählungen übersende, die, wären sie nicht in der Werkstatt meines Geistes entstanden, wohl Anspruch darauf erheben dürften, den vortrefflichsten an die Seite gestellt zu werden. So wie sie sind, mögen sie nun hinausgehen, und ich will zufrieden sein in dem Glauben, daß ich mit ihnen ein wenig bewiesen habe, wie groß mein Wunsch ist, Ew. Exzellenz als meinem wahren Herrn und Wohltäter dienstbar zu sein. Gott möge Euch schützen.

Madrid, am vierzehnten Juli eintausendsechshundertunddreizehn.

 

Ew. Exzellenz ergebenster Diener

 

MIGUEL DE CERVANTES SAAVEDRA

{13}Die kleine Zigeunerin

MAN KÖNNTE FAST MEINEN, DASS DIE ZIGEUNER UND Zigeunerinnen nur auf die Welt kommen, um sich hier als Spitzbuben zu betätigen. Spitzbuben und Diebe sind ihre Eltern, unter Spitzbuben wachsen sie heran, zu Spitzbuben werden sie ausgebildet. So müssen sie unweigerlich mit allen Wassern gewaschene Halunken werden, mit deren Wesen der Drang zu stehlen und das Stehlen selbst so innig verbunden sind, daß sie diese Passion erst mit ihrem Tode aufgeben können.

Ein altes Weib vom Zigeunerstamme nun, das in der Diebskunst leicht ihre Meisterprüfung hätte ablegen können, zog ein Mädchen bei sich auf, das sie als ihre Enkelin ausgab. Sie unterrichtete die Kleine, die sie Preciosa nannte, in all ihren Zigeunerkünsten, Listen, Ränken und Diebeskniffen. Preciosa aber erwies sich mit der Zeit als die anmutigste Tänzerin im ganzen Zigeunervolke und war dazu nicht nur schöner und klüger als alle Zigeunerinnen, sondern auch als alle anderen Mädchen, die je um ihrer Schönheit und Klugheit willen gepriesen wurden. Weder Sonnenbrand noch Stürme, noch alle Unbilden der Witterung, denen die Zigeuner mehr als andere Menschen ausgesetzt sind, konnten ihrem Gesicht den Liebreiz und ihren Händen die Zartheit nehmen. Doch das war noch nicht alles: trotz der mangelhaften Erziehung, die sie genoß, wurde es immer wieder offenbar, daß sie bessere Anlagen hatte, als sie den Zigeunerinnen gemeinhin eigen sind; {14}denn sie legte ein ganz auffallend gesittetes und vernünftiges Wesen an den Tag. Zwar war sie ein wenig keck, doch ging das niemals so weit, daß man sie auf einer Unziemlichkeit hätte ertappen können. Bei aller Schärfe ihres Witzes war sie so sittsam, daß in ihrer Gegenwart keine Zigeunerin, mochte sie alt oder jung sein, es gewagt hätte, ein unzüchtiges Lied zu singen oder unanständige Reden zu führen.

Die Großmutter erkannte wohl, welch einen Schatz sie da an ihrer Enkelin hatte, und so beschloß sie, ihr Adlerjunges bald flügge zu machen und es den Gebrauch seiner eigenen Klauen zu lehren. Preciosa wußte schon früh eine Unzahl von Marien- und Volksliedchen, von Seguidillen und Sarabanden auswendig, vor allem aber viele Romanzen, die sie ganz besonders anmutig vorzutragen verstand. Die schlaue Alte, die sich darüber klar war, daß solche Gaben und Fähigkeiten bei der großen Jugend und Schönheit ihrer Enkelin noch einen besonderen Reiz darstellen und sich auch günstig auf ihre Kasse auswirken mußten, suchte sich auf jede Weise immer neue Lieder zu verschaffen. Es fehlte nicht an Dichtern, die ihr solche brachten; denn es gibt auch Poeten, die sich den Zigeunern verdingen und ihnen ihre Werke verkaufen, genau wie es welche gibt, die Wundergeschichten für die blinden Bettler ersinnen, wenn sie dabei nur auf ihre Kosten kommen. In dieser Welt ist alles zu finden, und gar oft zwingt der Hunger den Geist, sich mit Dingen abzugeben, die eigentlich nicht in seinen Bereich gehören.

Preciosa wuchs in verschiedenen Gegenden Kastiliens auf, und als sie fünfzehn Jahre alt war, kehrte ihre angebliche Großmutter mit ihr auf die Felder der heiligen Barbara vor den Toren der Hauptstadt zurück, wo die Zigeuner gewöhnlich ihr Lager aufgeschlagen haben. In Madrid, wo alles seinen Käufer und Verkäufer findet, gedachte sie auch ihre Ware an den Mann {15}zu bringen. Am Tage der heiligen Anna, der Schutzpatronin der Stadt, trat Preciosa hier zum erstenmal auf, und zwar führte sie zusammen mit einem Zigeuner, der ein vortrefflicher Tänzer war, vier älteren Zigeunerinnen und noch drei jungen Mädchen von ihrem Stamme einen Tanz vor. Obgleich nun alle Tänzerinnen in sauberen, schmucken Gewändern steckten, stach Preciosa doch so unter ihnen hervor, daß die Augen aller Zuschauer wie verzückt an ihr hängenblieben. Und während das Tamburin ertönte, die Kastagnetten klapperten und die Mädchen sich im Tanze drehten, ging ein Raunen der Bewunderung in der Runde. Alles pries die Schönheit und Anmut der kleinen Zigeunerin, die jungen Leute strömten herbei, um sie anzustaunen, und die reifen Männer konnten sich kaum sattsehen. Als sie dann aber ihre Stimme erhob und das Lied sang, das zu dem Tanze gehörte, kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr. Der Ruhm der jungen Zigeunerin verbreitete sich mit Windesschnelle, und der Festausschuß erkannte ihr einmütig den Preis für den besten Tanz zu. Als dann in der St.-Marien-Kirche vor dem Standbild der heiligen Anna der Tanz wiederholt wurde, ergriff Preciosa, nachdem alle anderen getanzt hatten, ein Paar Metallklappern, begann sich federleicht in zierlichen Windungen im Kreise zu drehen und sang dazu die folgende Romanze:

Unfruchtbar geblieben,

Da er so viel Jahre

Wolken bang verhüllten;

Als sein Herz des Zweifels

Wunderbar erfüllte,

Die des Gatten Sehnsucht

Ihm die Frucht entsproßte;

Bis aus Not und Kummer

Dem der Schoß verschlossen,

Baum vom reichsten Stamme,

{16}Daß sie den Gerechten

Aus dem Tempel trieben;

Heilig Land, einst Wüste,

Deren Schoß am Ende

Uns der Erde höchste

Fruchtbarkeit gespendet;

Münze, deren Stempel

Jene Form uns prägte,

In der unter Menschen

Einst sich Gott bewegte;

Mutter einer Tochter,

Darin Gott sein Walten

Menschlichem Vermögen

Unfaßbar gestaltet:

Dein- und ihretwillen,

Anna, gib uns Gnade

Und voll Güte wende

Mißgeschick und Schaden!

Darfst gewiß als Ahne

Auch den heilgen Enkel,

Wo sich’s ziemt, mit Weisheit

Und mit Milde lenken!

Als der Herr des Himmels

Dich zu sich erkoren,

Grüßten dich vieltausend

Heilige im Chore:

»O der Tochter und des

Enkels und des Eidams!«

Und es war des Lobens

Ende nicht und Preisens!

Du in deiner Demut

Bist die Schule wesen,

Wo dein Kind die Fibel

Ihres Amts gelesen;

Sitzest ihr zur Linken

Nun am höchsten Throne,

{17}Wo, die kaum ich ahne,

Gottes Wunder wohnen.

Alle, die Preciosas Gesang gelauscht hatten, waren von Bewunderung ergriffen. »Gott segne dich, Mädchen!« sagten die einen. »Schade, daß die Kleine eine Zigeunerin ist!« meinten andere. »Wirklich, sie verdiente, die Tochter eines großen Herrn zu sein!« Wieder ein anderer, der etwas derber im Denken und Reden war, erklärte: »Laßt sie nur erst groß werden, die Dirne, sie wird uns noch manche Nuß zu knacken geben! Meiner Treu, sie knüpft sich da ein nettes Schleppnetz zurecht, um Herzen zu fischen!« Und ein gutmütiger, aber plumper und einfältiger Kerl schließlich, der staunend zusah, wie sie so leichtfüßig im Tanze dahinwirbelte, rief: »Immer hurtig, Kindchen, immer hurtig! Auf, ihr Amoretten, und hüpft auf der Stell wie diese so schnell!«

»Das laßt nur hübsch sein, ich kann es allein!« rief Preciosa zurück, ohne dabei ihren Tanz zu unterbrechen.

Als mit dem Gottesdienst auch das Fest der heiligen Anna vorüber war, fühlte Preciosa sich etwas erschöpft, aber sie hatte doch erreicht, daß man in ganz Madrid von ihrer Schönheit, ihrem scharfen Witz, ihrer Klugheit und ihrer Tanzkunst sprach.

Vierzehn Tage später kam sie mit drei jungen Zigeunerinnen wieder in die Hauptstadt. Die Mädchen trugen Metallklappern und hatten einen neuen Tanz einstudiert. Außerdem hatte jede von ihnen einen guten Vorrat an Romanzen und lustigen Liedchen, die sich jedoch alle in den Grenzen der Wohlanständigkeit hielten; denn Preciosa ließ es nicht zu, daß eines der Mädchen, mit denen sie zusammen auftrat, zweideutige Lieder sang. Sie selbst tat es auch nie und wurde darum von allen hoch angesehen und geschätzt. Die alte Zigeunerin wich keinen Augenblick von ihrer Seite und bewachte sie mit Argusaugen, voller Angst, daß sich einer an die Kleine heranwagen und sie entführen {18}könnte. Sie nannte Preciosa ihre Enkelin, und diese hielt die Alte für ihre Großmutter.

Als die Zigeunerinnen an einer schattigen Stelle auf der Toledo-Straße ihren Tanz begannen, bildete sich sofort ein großer Kreis von Menschen um sie, die ihnen auf Schritt und Tritt gefolgt waren. Während die Mädchen tanzten, ging die Alte bei den Umstehenden sammeln. Die großen und kleinen Kupfermünzen regneten nur so auf sie herab; denn auch der Schönheit wohnt bekanntlich die Kraft inne, die Mildtätigkeit bei den Menschen zu erwecken.

Als der Tanz zu Ende war, sagte Preciosa: »Wenn ihr mir noch ein paar Groschen gebt, so will ich euch ganz allein noch eine allerliebste Romanze vorsingen. Sie handelt von unserer Königin Margarete und von dem ersten Kirchgang nach ihrem Wochenbett, den sie in Valladolid zur Kirche des heiligen Lorenz tat. Ich sage euch, es ist ein wunderschönes Lied, und es stammt von einem Dichter, der unter seinesgleichen hervorragt wie ein Hauptmann unter den Soldaten seines Bataillons«.

Kaum hatte sie das gesagt, als beinahe alle, die in der Runde standen, ihr zuriefen: »Sing es, Preciosa, du sollst deine Groschen haben!« Und schon hagelte es wieder Münzen, daß die Alte mit dem Einsammeln kaum nachkommen konnte. Nachdem Preciosa so eine reiche Ernte gehalten hatte, ließ sie ihre Kastagnetten wieder ertönen und begann in einem leichten, natürlichen Ton, der halb Sprechen, halb Gesang war, folgende Romanze vorzutragen:

Ausgefahren ist zum Kirchgang

Heut als Wöchnerin die erste

Königin Europens, einzig

Reich an Namen und an Werten.

Gleich wie sie die Augen fesselt,

Fesselt sie die Herzen alle,

Die ihr Prangen, ihre Andacht

Staunend sehn und voll Gefallen.

{19}Und zum Zeichen, wie die Himmel

Eine Irdische erhöhten,

Sitzt sie zwischen Habsburgs Sonne

Und der zarten Morgenröte.

Hinter ihr folgt hold ein Sternlein,

Das im düstern Abendgrauen

Aufging eines Stillen Freitags,

An dem Erd und Himmel trauern.

Wenn am Himmel tausend Leuchten

In dem Bild des Wagens flimmern,

Leuchten hier lebendge Sterne

Unter ihres Wagens Himmel:

Und Saturn, der greise Jüngling,

Zupft an seinem Bart, dem weißen.

Folgt behende und vergißt fast,

Daß ihn Gicht plagt und das Reißen.

Schmeichelnd fährt der Gott im Zuge

In galanter Unterhaltung,

Amor bringt ein Band von Perlen

Und Rubinen zur Entfaltung.

Mars ist kriegerisch vertreten

In den stürmischen Debatten

Manches jugendlichen Helden,

Den sein Schatten überschattet.

Aber dicht dort bei der Sonne

Waltet Jupiter: wer klüglich

Baut sein Amt auf gute Werke

Rühmt des Königs Huld sich füglich.

Luna auch ist in den Wangen

Ird’scher Göttinnen zu schauen,

So wie keusch die Venus leuchtet

In dem Himmel schöner Frauen.

Kleine, flinke Ganymede

Eilen, kehren, tauchen unter

In dem goldbeschlagnen Tierkreis

Dieser holden Welt der Wunder.

{20}Und damit des Schauns und Staunens

Nicht genug sei, fügt enthüllend

Pracht auf Pracht und Glanz auf Glanze

Die verschwenderische Fülle.

Mailand breitet reiches Linnen

Vor den Blicken, den verblüfften,

Indien steuert Edelsteine

Und Arabia zinst mit Düften.

Bei den ewig Unzufriednen

Sucht die Scheelsucht anzuschwärzen,

Aber siegreich pocht die Güte

An die treuen Spanierherzen.

Und ein Bacchanal der Freude

Weicht dem ängstlichen Beklemmen,

Alle Straßen, alle Plätze

Wie ein Sturzbach überschwemmend.

Tausend stummen Dankesworten

Ist der Mund nun laut erschlossen,

Und die Jugend greift den Ruf auf

Ihrer älteren Genossen.

Ruft der eine: »Blühnde Rebe,

Rank und schling im Glück der Gatten

Um den Ulmbaum dich, der tausend

Jahre lang dich mög beschatten,

Dir zu allerhöchstem Ruhme,

Spanien selbst zum Ehrenkleide,

Zum Gewinn der heilgen Kirche

Und Entsetzen aller Heiden!«

Und der andre ruft und preist sie:

»Lang noch, weiße Taube, throne,

Die als Frucht uns ihres Schoßes

Adler schenkt aus zweien Kronen,

Daß sie in den Lüften dräuend

Das ergrimmte Raubzeug schrecken

Und mit ihrem Flügelschlage

Die verhärmte Tugend decken.«

{21}Klug bedachtsam und gewichtig,

Wohl zu höhrer Einsicht taugend

Ruft ein andrer, und die Freude

Strahlt ihm hell aus Mund und Augen:

»Diese Perle, die du schenktest,

Mutter Habsburgs, Hehre, Eine,

Wieviel List macht sie zunichte,

Wieviel Ränke unsrer Feinde!

Wieviel Hoffnung darf sie wecken!

Wieviel Wünsche müssen scheitern!

Wieviel Furcht wird an ihr wachsen,

Wieviel Trug wird sie vereiteln!«

Vor dem Tempel war sie jetzo

Jenes Phönix’ angekommen,

Der, zu Rom verbrannt, voll Gnaden

Weiterlebt im Reich der Frommen.

Vor dem Gnadenbild des Lebens,

Vor der Herrscherin des Himmels,

Die als Lohn für ihre Demut

Wandelt überm Sterngewimmel,

Vor der Jungfrau und der Mutter,

Vor der Gottesbraut und Tochter

Auf den Knien liegt Margarete

Betend, und ihr Herz spricht pochend:

»Nimm zum Pfande, was du schenktest

Mit so übervollen Händen,

Denn wo deine Gnade mangelt,

Kann die Not sich nimmer wenden.

Meines Gartens Erstling bringe

Ich dir dar, du Reine, Echte:

Nimm ihn gnädig an und schütz ihn,

Leite, führe ihn zum Rechten!

Neig in Huld dich seinem Vater,

Dessen Schultern wie ein Riese

Vieler Reiche Lasten tragen

Und manch ferner Paradiese.

{22}Weiß ich auch, das Herz des Königs

Ist in Gottes Hand gelegen,

Weiß ich doch, an deinem Fürspruch

Hängt des Himmels milder Segen.«

Als sie aufsteht vom Gebete

Hallt ein Hymnus in der Runde,

Der verkündet, daß die Gnade

Niederstieg zu dieser Stunde.

Ausgeklungen ist das Hochamt

Würdig eines Königssprosses,

Und sie kehrt vom Himmel Gottes

In den Himmel ihres Schlosses.

Kaum hatte Preciosa ihre Romanze beendet, als es aus der würdigen Versammlung, die ihr zugehört hatte, wie mit einer Stimme erscholl: »Sing noch einmal, Preciosa, und du sollst Groschen haben wie Sand am Meer!«

Über zweihundert Menschen standen so beisammen, um den Tanz der Zigeunerinnen zu sehen und ihrem Gesang zu lauschen, als zufällig einer der Amtmänner der Stadt vorbeikam. Als er die Ansammlung bemerkte, fragte er, was es denn da gäbe, und erhielt die Antwort, daß hier die schöne junge Zigeunerin sänge. Neugierig trat er näher und lauschte ein wenig, doch hörte er sich die Romanze nicht bis zu Ende an, weil sich das nicht recht mit seiner Würde vertragen hätte. Da die kleine Zigeunerin ihm jedoch ganz außerordentlich gefiel, schickte er einen seiner Pagen zu der Alten und ließ ihr sagen, sie solle am Abend mit ihren Mädchen in sein Haus kommen, damit auch Doña Clara, seine Gattin, sie hören könne. Der Page richtete den Auftrag aus, und die Alte versprach zu kommen.

Als Gesang und Tanz beendet waren, schickten die Zigeunerinnen sich zum Weitergehen an. In diesem Augenblick trat ein schmuck gekleideter Knappe zu Preciosa, überreichte ihr ein zusammengefaltetes {23}Papier und sagte: »Preciosa, ich bitte dich, sing die Romanze, die ich hier aufgeschrieben habe, sie ist wirklich schön. Ich werde dir auch mit der Zeit noch mehr geben, und du wirst dir damit den Ruf erwerben, die beste Romanzensängerin der Welt zu sein.«

»Ja, Herr, ich will sie gern lernen«, erwiderte Preciosa, »und vergeßt ja nicht, mir auch noch die anderen zu bringen! Nur eine Bedingung ist dabei: sie müssen wohlanständig sein. Wenn Ihr wollt, daß ich sie Euch bezahle, so können wir ja einen Preis für das Dutzend ausmachen. Für jedes Dutzend, das ich gesungen habe, zahle ich Euch; denn daß ich sie im voraus bezahle, könnt Ihr natürlich nicht verlangen.«

»Wenn mir das Fräulein Preciosa nur den Preis für das Papier zahlen will«, entgegnete der Knappe, »so bin ich’s zufrieden. Und wenn Euch eine Romanze nicht gut und wohlanständig dünkt, so soll sie nicht mit auf die Rechnung kommen.«

»Schön, es soll mir überlassen bleiben, sie auszuwählen«, antwortete Preciosa.

Unter diesem Gespräch waren sie ein Stück weitergegangen, als von einem Fenstergitter her ein paar Herren nach den Zigeunerinnen riefen.

Preciosa trat an das niedrige Gitter heran und blickte in einen schön ausgestatteten, kühlen Raum, in dem sich eine Anzahl Herren befanden. Einige gingen im Gespräch auf und ab, andere unterhielten sich mit verschiedenen Spielen.

»Wollen die Herren mir ihren Spielgewinn abgeben?« fragte Preciosa mit ihrem etwas gekünstelten andalusischen Akzent, wie ihn die Zigeunerinnen an sich haben.

Als die Herren Preciosas Stimme hörten und ihr Gesicht am Gitter erblickten, ließen sie ihr Spiel und ihre Unterhaltung beiseite und eilten herbei, um sie näher anzusehen, denn sie hatten schon manches von ihr gehört.

{24}»Kommt herein, Mädchen, kommt herein!« riefen sie. »Hier gibt es etwas zu gewinnen!«

»Wenn wir nur nicht etwas anderes dabei verlieren!« entgegnete Preciosa.

»Nein, bei meiner Ritterehre«, erwiderte einer, »du kannst ruhig hereinkommen, Kind. Keiner von uns wird auch nur deine Schuhsohle berühren, das schwöre ich dir bei diesem Ordenszeichen, das ich auf der Brust trage.« Und damit legte er seine Rechte auf das Calatrava-Kreuz an seinem Gewand.

»Wenn du willst, Preciosa«, sagte eine der drei jungen Zigeunerinnen, die mit ihr gekommen waren, »so geh nur hinein. Ich mag nicht dahin, wo so viele Männer sind.«

»Höre, Christina«, erwiderte Preciosa, »hüten mußt du dich nur, mit einem Mann allein zusammen zu sein, nicht aber mit vielen. Gerade weil es viele sind, brauchen wir keine Angst zu haben, daß sie uns zu nahe kommen. Und eins mußt du dir merken, Christinchen: eine Frau, die es sich ernstlich vorgenommen hat, ihre Ehre zu bewahren, kann sich getrost unter eine ganze Armee von Soldaten begeben, sie wird ihrem Vorsatz doch treu bleiben können. Natürlich ist es immer ratsam, die Gefahr zu meiden, aber wirklich gefährlich sind nur die heimlichen Zusammenkünfte und nicht die, die in aller Öffentlichkeit vor sich gehen.«

»Schön, Preciosa, gehen wir hinein«, meinte Christina, »du weißt ja mehr als ein Studierter!«

Da auch die alte Zigeunerin einverstanden war, betraten die Mädchen das Haus. Kaum war jedoch Preciosa drinnen, als der Herr mit dem Ordenskreuz das Papier bemerkte, das sie vorn in ihre Bluse gesteckt hatte. Schnell trat er auf sie zu und nahm es ihr weg.

»Nein, Herr«, rief Preciosa, »gebt es mir wieder! Es ist eine Romanze, die ich eben erst bekommen und noch nicht einmal gelesen habe.«

»Was, du kannst lesen?« fragte einer.

{25}»Lesen und schreiben!« versicherte die Alte. »Ich habe meine Enkelin so sorgfältig erzogen, wie wenn sie ein gebildetes Fräulein wäre.«

Der Herr faltete das Papier auseinander und erblickte einen Golddukaten, der darin eingewickelt war.

»Nanu!« rief er erstaunt. »Sieh her, Preciosa, dieser Brief hier enthält ja auch gleich den Botenlohn. Da, nimm den Dukaten, der mit der Romanze gekommen ist.«

»Aha«, meinte Preciosa, »der Herr Dichter hat mich für ein armes Mädchen gehalten. Aber immerhin ist es ein größeres Wunder, daß ein Dichter einen Dukaten verschenkt, als daß ich einen bekomme. Wenn alle seine Romanzen so einen hübschen Zusatz haben, dann mag er meinetwegen gern das ganze große Romanzenbuch abschreiben und mir die Lieder einzeln zuschicken. Ich will ihnen schon den Puls fühlen, und wenn er hart schlägt, will ich sie weich und liebevoll aufnehmen.«

Alle, die die kleine Zigeunerin so reden hörten, waren erstaunt über die geistreiche und schalkhafte Art, mit der sie sich auszudrücken verstand.

»Und nun lest, Herr«, sagte sie, »aber lest laut, damit wir sehen können, ob dieser Dichter ebenso mit Einfällen um sich wirft wie mit Dukaten.«

Und der Herr las:

Hei, Zigeunerin, das Gleißen

Deiner Schönheit, wie es blendet!

Wer Pretiosen so verschwendet,

Darf mit Recht Preciosa heißen!

Und es lehrt mich auch das eine

Dieses Beispiel wieder neu:

Stets ist Stolz und holde Scheu

Mit der Schönheit im Vereine.

Wenn du dich von ihm berauschen

Läßt und gibst ihm täglich Nahrung,

Möcht ich diese Offenbarung

Nicht um deine Jugend tauschen.

{26}Einen Basilisken nährst du,

Mädchen, dessen Blicke töten;

Huld, die keine Fürsten böten,

Doch viel gnädiger, gewährst du.

Sag, wie wuchs solch offenbares

Wunder im Zigeunertume?

Wie erblühte solche Blume

Am bescheidnen Manzanares?

Wird der Ruhm ihn nicht umkreisen

Gleich dem Tajo jetzt, dem stillen,

Und ihn um Preciosas willen

Mehr noch als den Ganges preisen?

Meinst du aus der Hand zu lesen,

Liest in Herzen du, die brennen,

Denn gar unversehens trennen

Schönheit und Beruf ihr Wesen.

Wenn wir bitten, voll Gewähren

Unsre Blicke zu erdulden:

Dein Beruf wird dich entschulden,

Deine Schönheit uns verzehren.

Hexen wärt ihr, sagen viele,

Die sich gern an euch berücken,

Doch bei deinen Hexenstücken

Ist viel Ernsteres im Spiele.

Sie an dich heranzuwinken,

Die schon ganz dir hörig sind,

Läßt du deine Augen, Kind,

Wie ein Zauberspiegel blinken.

Seine Macht ist ungeheuer:

Denn dein Tanz wird uns zur Falle,

Deine Blicke töten alle,

Deine Lieder sind wie Feuer.

Tausendfältig ist dein Zauber,

Und je mehr dein Schweigen bald,

Bald dein Ruf im Kreise hallt,

Wird mein Ohr der Warnung tauber.

{27}Selbst verhärtete Gesellen

Fesselst du in deinen Bann:

Willig biete ich dir an,

Mich als Beispiel darzustellen.

Der voll Demut dies geschrieben,

Allerlieblichste Pretiose,

Wird, ergeben seinem Lose,

Arm dich, doch in Demut lieben.

»Arm nennt er sich im letzten Vers«, meinte Preciosa, »ein schlechtes Zeichen! Verliebte Leute dürfen nie sagen, daß sie arm sind, denn mir scheint, die Armut ist, im Anfang wenigstens, ein eingeschworener Feind der Liebe.«

»Wer hat dich das gelehrt, Mädchen?« fragte einer. »Wer soll mich das wohl lehren?« erwiderte Preciosa. »Glaubt Ihr vielleicht, ich hätte kein Gefühl dafür? Bin ich nicht fünfzehn Jahre alt? Ich bin weder krumm noch lahm, und auch mein Verstand ist nicht zu kurz weggekommen. Bei den Zigeunerinnen entwickelt sich der Geist nach einem anderen Maßstab als bei den übrigen Menschen: sie sind stets ihren Jahren voraus. Einen dummen Zigeuner oder eine beschränkte Zigeunerin gibt es nicht. Gerade weil sie, um ihr Leben zu fristen, schlau und gerissen sein und sich auf allerhand Kniffe verstehen müssen, schärfen und putzen sie die Klinge des Geistes bei jeder Gelegenheit, damit sich kein Rost ansetzt. Seht Euch zum Beispiel meine Gefährtinnen an: da stehen sie und tun den Mund nicht auf, so daß man sie für töricht halten könnte. Aber steckt ihnen nur einmal den Finger in den Mund und fühlt nach ihren Weisheitszähnen: Ihr werdet Euer blaues Wunder erleben! Bei uns weiß ein zwölfjähriges Mädchen so viel wie anderswo eine von fünfundzwanzig, denn unsere Lehrmeister sind der Teufel und das Leben selbst, die uns in einer Stunde mehr beibringen, als man gewöhnlich in einem Jahr lernt.«

Überrascht hatten alle den Worten der kleinen {28}Zigeunerin gelauscht, und als sie geendet hatte, gaben ihr die Spieler ihren Spielgewinn ab, und auch die anderen griffen in den Beutel. Mehr als dreißig Realen wanderten in die Sparbüchse der Alten, die nun strahlend vor Freude ihre Lämmchen wieder einsammelte und mit ihnen zum Hause des Amtmanns wanderte, nachdem sie versprochen hatte, demnächst mit ihrer Herde wiederzukommen, um die freigebigen Herrn mit ihren Künsten zu erfreuen.

Doña Clara, die Gattin des Amtmanns, hatte schon den Bescheid erhalten, daß die Zigeunerinnen zu ihr kommen würden. Sie hatte daher alle ihre Zofen und Kammerfrauen um sich versammelt, und auch eine Nachbarin war mit ihren Mädchen herübergekommen, um Preciosa zu sehen. So saßen sie und harrten sehnsüchtig auf den angekündigten Besuch. Kaum hatten die Zigeunerinnen das Gemach betreten, als Preciosa schon aller Augen auf sich zog wie eine hellstrahlende Fackel zwischen kleinen, schwachen Flämmchen. Alle stürzten auf sie zu, umarmten und streichelten sie und überschütteten sie mit Liebkosungen und Segensworten.

»Seht nur«, rief Doña Clara, »hier kann man doch einmal mit Recht von goldenem Haar sprechen! Und diese Augen: wie Smaragde schimmern sie!«

Entzückt betrachtete auch die Nachbarin die Kleine von Kopf bis Fuß und fand für alles, was sie sah, die überschwenglichsten Lobreden. Als sie endlich auf Preciosas Kinn ein Grübchen gewahrte, rief sie: »Ach, und das Grübchen hier! Alle Blicke werden da hineinfallen!«

Ein älterer Herr mit langem Bart, ein naher Freund des Hauses, der zufällig auch anwesend war, hörte diese Worte und sagte: »Ein Grübchen nennt Ihr das, edle Frau? Entweder ich verstehe nichts von solchen Dingen, oder es ist kein Grübchen, sondern eine Grube, ein Grab, in dem die Wünsche zur ewigen Ruhe bestattet werden. Bei Gott, die kleine Zigeunerin ist so {29}lieblich, daß sie nicht reizender sein könnte, wenn sie aus Silber oder aus Zuckerteig gegossen wäre. Kannst du auch wahrsagen, Kindchen?«

»Oh, auf drei oder vier verschiedene Arten!« erwiderte Preciosa.

»Mehr nicht?« sagte Doña Clara. »Beim Leben des Amtmanns, meines Gatten, du mußt mir wahrsagen, Goldkindchen, Silberkindchen, Perlenkindchen, Karfunkelkindchen, Himmelskindchen oder wie ich dich sonst nennen soll!«

»Nur zu, reicht der Kleinen Eure Hand und etwas, womit sie das Kreuz darüber schlagen kann«, meinte die Alte, »Ihr werdet staunen, was sie Euch alles verkündet! Sie weiß mehr als ein Doktor der Medizin!«

Die Frau Amtmännin griff in ihre Tasche, aber sie fand keinen blanken Heller darin. Sie bat daher ihre Dienerinnen, ihr eine Kupfermünze zu leihen, doch keine konnte ihr aushelfen, und auch die Nachbarin hatte kein Geld bei sich. Als Preciosa das sah, meinte sie: »Jedes Kreuz, das man schlägt, ist gut, eben weil es ein Kreuz ist; aber die, die man mit Gold- oder Silbermünzen schlägt, sind die besten. Euer Gnaden müssen jedoch wissen, daß ein Kreuz, das ich mit einer Kupfermünze auf der Handfläche ziehe, dem Glück nicht zuträglich ist – zum mindesten nicht dem meinen. Ich habe daher den Ehrgeiz, das erste Kreuz stets mit einem Golddukaten zu ziehen oder doch wenigstens mit einem größeren oder kleineren Silberstück. Mir geht es darin wie den Sakristanen, die auch ihre Freude daran haben, wenn eine reiche Opfergabe dargebracht wird.«

»Wahrhaftig, Kindchen, du bist nicht auf den Kopf gefallen!« sagte die Nachbarin. Dann wandte sie sich an den danebenstehenden Herrn und fragte: »Und Ihr, Herr Contreras, habt Ihr nicht zufällig einen Real bei Euch? Gebt ihn mir doch bitte; sobald mein Mann, der Doktor, kommt, sollt Ihr ihn wiederhaben.«

{30}»Ich habe schon einen«, versetzte Contreras, »aber ich habe ihn gestern beim Abendessen gegen zweiundzwanzig Maravedi verpfändet. Gebt mir die Summe, und ich will Euch flugs den Real holen.«

»Wir haben alle zusammen keine vier Maravedi, und Ihr wollt gleich zweiundzwanzig haben!« rief Doña Clara empört. »Geht mir, Contreras, Ihr seid immer ein wenig unverschämt gewesen!«

Nun wandte sich eine der anwesenden Kammerzofen, die bemerkte, daß im ganzen Hause Ebbe herrschte, an Preciosa: »Sag doch, Kindchen«, meinte sie, »wird es wohl etwas ausmachen, wenn man das Kreuz mit einem silbernen Fingerhut zieht?«

»Im Gegenteil!« antwortete Preciosa, »mit silbernen Fingerhüten zieht man die prächtigsten Kreuze der Welt, vor allem, wenn es recht viele sind!«

»Ich habe hier einen«, sagte die Zofe, »wenn er genügt, sollst du ihn bekommen; doch unter der Bedingung, daß du mir dann auch wahrsagst.«

»So viel Weisheit für einen einzigen Fingerhut?« rief die alte Zigeunerin. »Nun mach zu, Preciosa, daß du damit zu Ende kommst, es wird ja schon dunkel.«

Preciosa ergriff den Fingerhut und die Hand der Frau Amtmännin und sagte:

Schöne Dame, schöne Dame,

Daß dein Mann in dich vernarrt ist,

Ärger – sagt dies Silberhändchen –

Als der Herr der Alpujarren;

Daß du sanft wie eine Taube,

Oft indes, man sieht dir’s an ja,

Wie die Löwin von Orán bist

Und die Tigrin von Ocaña.

Lange freilich ihm zu zürnen

Liegt dir fern, verliebtes Evchen;

Nennt er dich sein Zuckermäulchen,

Hältst du stille wie ein Schäfchen.

{31}Schmollst zwar öfter, issest wenig,

Bist ein bißchen eifersüchtig,

Denn der Amtmann mag gern schäkern

Und ist nicht im Amt nur tüchtig.

Als du noch ein Fräulein warest,

Kam ein stattlicher Bewerber –

Hol der Teufel die Vermittler,

Die uns den Geschmack verderben!

Wärst du damals Nonne worden,

Hättst du jetzt das Heft in Händen,

Denn zur Domina Äbtissin

Dünkt mich, eignest du dich blendend.

Jetzt kommt etwas, was ich lieber

Dir verschwiege; doch, was tut es?

Du verwitwest – aber zweimal

Heiratst du: das ist was Gutes!

Weine nicht, du schöne Dame:

Glaubst du, wir Zigeunerinnen

Blieben immer bei der Wahrheit?

Stopf die Tränen, halte inne!

Solltest du vor dem Herrn Amtmann

Noch das Zeitliche einst segnen,

Brauchst du ob des Wittibtumes

Dich nicht weiter aufzuregen.

Doch du erbst, und zwar in Bälde,

Ein paar hunderttausend Taler,

Und dein Sohn wird Pfründner werden

Einer hübschen Kathedrale,

Wenn auch gerade nicht Toledos.

Eine Tochter, seh ich, ziere

Bald die Eh’ euch, und als Nonne

Wird sie alle kommandieren.

Sollte nicht dein Eheliebster

Just im nächsten Monat sterben,

Kann er noch in Salamanca

Oder Burgos Schultheiß werden.

{32}Und ein Schönheitsfleckchen hast du,

Himmel! wie die Sonnenflecken,

Die noch bei den Antipoden

In den Tälern Licht erwecken!

Mancher blinde Schlucker gäbe,

Es zu sehn, den letzten Kreuzer –

Ja, man macht so dumme Witze,

Und es gibt so schnurrge Käuze!

Hüte ängstlich dich, zu fallen,

Ganz besonders auf den Rücken,

Denn bei so illustren Damen

Will das Aufstehn oft nicht glücken.

Vieles könnt ich dir noch sagen:

Komme doch am Freitag wieder,

Manches wird dir da gefallen,

Manches drückt ein bißchen nieder.

Als Preciosa ihren Spruch beendet hatte, brannten alle Anwesenden darauf; nun auch ihr Schicksal zu hören und bestürmten das Mädchen mit Bitten; sie vertröstete sie jedoch auf den kommenden Freitag und mahnte sie, auch ja Silbermünzen bereitzuhalten, damit sie die Kreuze ziehen könne. Inzwischen war auch der Herr Amtmann gekommen, dem man wahre Wunderdinge von der kleinen Zigeunerin berichtete. Er forderte die Mädchen auf, ihnen noch etwas vorzutanzen und bestätigte dann, daß alles Lob, das man Preciosa gespendet hatte, durchaus berechtigt sei. Daraufhin griff er mit der Hand in die Rocktasche, um den Zigeunerinnen ihren Lohn zu geben; nachdem er jedoch eine ganze Weile darin herumgesucht und -gekratzt und alles durcheinandergeschüttelt hatte, zog er die Hand leer wieder heraus.

»Mein Gott«, sagte er, »ich habe keinen blanken Heller! Doña Clara, gebt doch der kleinen Preciosa bitte einen Real, ich gebe ihn Euch später wieder.«

»Nun, mein Gemahl«, erwiderte sie, »ich muß sagen, {33}das trifft sich gut! Einen Real! Wir alle hier haben nicht einmal eine Kupfermünze auftreiben können, um ein Kreuz zu ziehen, und Ihr verlangt gleich einen Real von uns!«

»Gut, dann gebt ihr doch eine Halskrause oder sonst eine Kleinigkeit! Preciosa kommt ja nächstens wieder, und dann wollen wir sie besser bezahlen.«

»Nein«, versetzte Doña Clara darauf, »ich will Preciosa heute nichts geben, damit sie auch bestimmt wiederkommt.«

»Aber wenn Ihr mir nichts gebt«, fiel Preciosa ein, »dann komme ich auch nicht wieder. Oder doch, ich werde wiederkommen, um so hochgeborenen Herrschaften gefällig zu sein, aber ich werde dann schon im voraus wissen, daß hier nichts zu erben ist und mir die Mühe sparen, etwas zu erwarten. Ihr müßt Euch bestechen lassen, Herr Amtmann! Laßt Euch bestechen und Ihr habt Geld. Aber wenn Ihr neue Sitten einführen wollt, werdet Ihr Hungers sterben. Schaut, edle Frau, ich habe sagen hören – und obgleich ich noch ein halbes Kind bin, so habe ich doch bemerkt, daß es eigentlich nicht recht ist – ein Mann, der ein Amt hat, müsse auch Geld daraus ziehen. Nur so könne er nach seinem Rücktritt die Strafsummen zahlen und sich in Ruhe um einen neuen Posten bewerben.«

»So reden und handeln nur gewissenlose Menschen«, entgegnete der Amtmann. »Ein Beamter, der seine Aufgaben ordentlich erfüllt hat, braucht auch keine Strafe zu zahlen, und wenn er seinen Posten gut verwaltet hat, so muß dieser Umstand schon genügen, um ihm einen neuen zu geben.«

»Ach, Herr Amtmann«, erwiderte Preciosa, »Euer Gnaden sprechen wie ein Heiliger. Wenn Ihr so weitermacht, werden wir eines Tages noch Eure Lumpen in kleine Fetzen reißen, um sie als Reliquien zu bewahren.«

»Du bist ein schlaues kleines Ding, Preciosa!« sagte {34}der Amtmann darauf. »Paß auf, ich werde es einrichten, daß du einmal bei Hofe auftrittst; denn an einem Mädchen wie dir haben auch Könige ihre Freude.«

»Sie werden mich als Hofnärrin anstellen wollen«, antwortete Preciosa, »aber dazu tauge ich nicht, und damit ist der Plan hinfällig. Wenn sie mich als Ratgeberin brauchen könnten, so würde ich mir’s eher gefallen lassen; doch an manchen Höfen gedeihen die Narren besser als die Weisen. Ich fühle mich ganz wohl als arme Zigeunerin, und so mag mein Schicksal ruhig den Lauf nehmen, in den der Himmel es lenkt.«

»So, nun hör aber auf, Kind«, fiel hier die alte Zigeunerin ein. »Du hast schon viel zuviel geschwatzt und weißt ja mehr, als ich dich gelehrt habe! Spitz deinen Witz nicht allzusehr, sonst bricht ihm eines Tages die Spitze ab. Und rede du von Dingen, die zu deinem Alter passen, aber versteig dich nicht zu solch hochtrabenden Redensarten! Hochmut kommt vor dem Fall!«

»Diese Zigeunerinnen haben wahrhaftig den Teufel im Leib!« meinte der Amtmann erstaunt.

Nun verabschiedeten sich die Mädchen, und als sie sich schon zum Gehen wandten, rief die Zofe, die den Fingerhut gegeben hatte: »Preciosa, nun wahrsage mir aber oder gib mir den Fingerhut wieder! Denn ich habe jetzt keinen mehr, mit dem ich nähen kann.«

»Mein schönes Fräulein«, erwiderte Preciosa, »bildet Euch nur ein, ich hätte Euch schon gewahrsagt. Entweder besorgt Euch einen anderen Fingerhut oder rührt bis zum Freitag keine Nadel an. Dann will ich wiederkommen und Euch mehr Glückszufälle und Abenteuer voraussagen, als in einem Ritterroman stehen.«

Damit gingen die Zigeunerinnen hinaus und schlossen sich dem Schwarm der Bäuerinnen an, die täglich zur Stunde des Angelusläutens aus den Toren Madrids strömen, um in ihre Dörfer zurückzukehren. Es waren stets ein paar Frauen dabei, die mit den Zigeunerinnen {35}gut bekannt waren, so daß diese sicher und ungefährdet ihres Weges ziehen konnten; denn die alte Zigeunerin lebte in ständiger Furcht, man könne ihr ihre Preciosa rauben.

Eines Morgens nun, als die Zigeunerinnen wieder nach Madrid hineingingen, um sich dort etwas zu verdienen, erblickten sie in einem kleinen Tal, etwa fünfhundert Schritte vor den Toren der Stadt, einen stattlichen jungen Mann in schmucker Reisekleidung. Degen und Dolch an seinem Gürtel glänzten wie lauteres Gold, und der Hut war mit einer kostbaren Schnalle und wallenden, bunten Federn geziert. Erstaunt blieben die Zigeunerinnen stehen und musterten ihn von oben bis unten, denn sie wunderten sich, einen so vornehmen und hübschen jungen Mann allein und zu Fuß an einem solchen Ort anzutreffen. Der Fremde trat auf sie zu und wandte sich an die alte Zigeunerin.

»Ach, meine Gute«, sagte er, »tut mir doch einen Gefallen. Ich bitte, hört Euch ein paar Worte an, die ich Euch und Preciosa insgeheim zu sagen habe, und es soll Euer Schade nicht sein.«

»Wenn wir dabei nicht zu weit vom Wege abkommen und zuviel Zeit verlieren«, meinte die Alte, »so soll es mir recht sein.«

Damit rief sie Preciosa herbei und ging mit ihr und dem jungen Mann etwa zwanzig Schritte vom Wege ab. Dann blieben sie stehen, und der Fremde begann zu sprechen.

»Ich stehe hier«, so sagte er, »weil mich die Klugheit und Schönheit Preciosas ganz und gar in ihren Bann geschlagen haben. Ich habe mir Mühe genug gegeben, dagegen anzukämpfen, aber schließlich war alles umsonst: es wurde eher noch schlimmer, und nun bin ich ihr rettungslos verfallen. Ich, meine Herrinnen – denn wenn der Himmel meinen Vorsatz begünstigt, werde ich Euch stets diesen Namen geben müssen – ich bin ein Ritter, wie dieses Gewand Euch offenbaren kann.« {36}{37}