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Präsident Anwar al-Sadat, Präsident Jimmy Carter und Ministerpräsident Menachem Begin in Camp David am 6. September 1978.

Lawrence Wright

Dreizehn Tage
im September

Das diplomatische Meisterstück
von Camp David

Aus dem Englischen von
Susanne Aeckerle

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

 

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Inhalt

Karten

Vorbemerkung des Autors

Prolog

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Sechster Tag

Siebter Tag

Achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Elfter Tag

Zwölfter Tag

Dreizehnter Tag

Epilog

Danksagung und Anmerkungen zu den Quellen

Anmerkungen

Bibliografie

Register

Bildnachweise

 

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Vorbemerkung des Autors

Drei Männer, Vertreter von drei Religionen, trafen sich im Herbst 1978 für dreizehn Tage in Camp David, dem Landsitz des Präsidenten, um eine Kontroverse beizulegen, deren Hauptursache die Religion war. Auf alte Texte und Legenden gestützte Glaubensrichtungen hatten sich verschworen, einen der hartnäckigsten Konflikte moderner Zeiten aufzulösen, einen Konflikt, der den Nahen Osten in endloser Blutfehde ertränkte, die Supermächte jener Zeit an den Rand des Atomkriegs brachte, die Region mit Flüchtlingen überschwemmte und terroristische Bewegungen hervorbrachte, die auf der ganzen Welt Chaos und Leid verbreiteten. Dieses Buch ist ein Bericht darüber, wie es diesen drei fehlbaren Männern gelang – bestärkt, aber auch belastet durch ihren Glauben –, einen teilweisen und unvollständigen Frieden zu schließen, eine Leistung, die trotz allem als einer der größten diplomatischen Triumphe des 20. Jahrhunderts gilt und noch seinesgleichen sucht.

Als die Regierungschefs von Ägypten und Israel sich in Camp David trafen, hatten ihre beiden Länder innerhalb der letzten 30 Jahre vier Kriege gegeneinander geführt – fünf, wenn man den sogenannten Abnutzungskrieg dazuzählt, in den ihre Länder zwischen 1969 und 1970 verwickelt waren. Der Konflikt begann als Teil eines längeren Kampfes um die Existenz Israels, entwickelte sich aber zu einem Tauziehen um Gebiete – hauptsächlich die Sinai-Halbinsel – und das Recht der Palästinenser, in ihr früheres Heimatland zurückzukehren. Obwohl sich die Zusammenstöße zwischen Israel und seinen anderen Nachbarn fortsetzten, wurde durch das Camp-David-Abkommen der einzige arabische Gegner aus dem Spiel genommen, der eine echte militärische Bedrohung für die Zukunft Israels darstellte. Und doch wurde der zwischen Israel und den Palästinensern erhoffte Frieden nie vollständig in die Tat umgesetzt, was der Grund für das Fortbestehen des Aufruhrs in der Region ist.

Der Leser wird bemerken, dass dieses Buch durch drei chronologische Ebenen strukturiert ist. Die dreizehn Tage des Gipfeltreffens in Camp David bilden das Gerüst dieses Berichts. Darunter liegt die Geschichte des modernen Nahen Ostens, gesehen durch die Augen der außergewöhnlichen Männer, die bei den Verhandlungen zugegen und in vielerlei Hinsicht an dieser Geschichte beteiligt waren. Dem liegen die ‚tektonischen Platten‘ der drei Religionen zugrunde, die in den Texten der Tora, der Bibel und des Koran offenbart sind. Der Kampf um Frieden in Camp David ist ein Zeugnis der fortdauernden Macht der Religion im modernen Leben, was daran abzulesen ist, wie sie Geschichte formt und wie schwer es ihr fällt, Mythologien ad acta zu legen, die nach wie vor Gesellschaften zu Konflikten verleiten.

Kriege erreichen selten das, was von den Beteiligten erwartet oder erhofft wird; jeder Sieg trägt meist eine zukünftige Niederlage in sich. Von historischen Zeiten bis zum heutigen Tage ist der Nahe Osten ein warnendes Beispiel für das Versagen von Krieg als Mittel, dauerhaften und gerechten Frieden zu schaffen. Nie gibt es den perfekten Zeitpunkt oder das vorbildliche Volk, um blutige Konflikte zu beenden, und im Gegensatz zum Talent der Kriegsführung war die Fähigkeit, Frieden zu schaffen, schon immer selten. Ziel dieses Buches ist es, Einblicke zu liefern, wie dieser mühsame Einigungsprozess erreicht werden konnte, selbst von gewaltbereiten Männern, die aufgrund ihrer Herkunft voreingenommen, von nationaler Politik eingeschränkt und von ihrem Glauben verblendet sind. Camp David berichtet uns von den für Frieden erforderlichen Kompromissen und dem Mut und der Opferbereitschaft, die Staatenlenker aufbringen müssen, deren größte Herausforderung darin besteht, ihre eigenen Grenzen zu überwinden.

Prolog

In einer rustikalen Lodge am Ufer des Jackson Lake im Grand Teton Nationalpark unterbrach Jimmy Carter an einem späten Abend seinen Urlaub, um ein für ihn von der Central Intelligence Agency zusammengestelltes dickes Dossier zu öffnen. Er hatte einen letzten herrlichen Tag, den 29. August 1978, mit Fliegenfischen im Snake River und Ausreiten durch den Park verbracht, hatte dann mit seiner Tochter Amy Blaubeeren gepflückt, die in den Kuchen zum Nachtisch wanderten. Es war eine kurze Flucht vor der Hektik Washingtons und seiner schwachen und unbeliebten Präsidentschaft. Das Dossier enthielt psychologische Profile von zwei Regierungschefs, Anwar al-Sadat, dem Präsidenten von Ägypten, und Menachem Begin, dem Premierminister von Israel, die in ein paar Tagen mit dem wenig wahrscheinlichen Ziel in die Vereinigten Staaten kommen würden, Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Die Art, in der Carter auf diese beiden Regierungschefs eingehen würde – und sie aufeinander –, würde über Erfolg oder Scheitern dieses historischen Wagnisses entscheiden.

Der Mann, der das Dossier las, hatte die Präsidentschaft mit wenig Erfahrung in der Außenpolitik begonnen. Er war im ländlichen Süden aufgewachsen und hatte nur eine einzige Amtszeit als Gouverneur von Georgia absolviert. Er war nie einem Araber begegnet, bis er bei einem Stockcar-Rennen in Daytona neben einem saß. Der einzige Jude, den er als Kind gekannt hatte, war Louis Braunstein, ein Versicherungsvertreter in Chattanooga, der Carters Tante geheiratet hatte. Onkel Louis liebte professionelles Wrestling und konnte einen Klimmzug mit einem Arm machen – ein Kraftakt, der den jungen Carter begeisterte. Es gab ein paar jüdische Kaufleute in Americus, Georgia, nicht weit von Carters Heimatstadt Plains, und Carter hielt sie immer für „erhaben“1, was auch an seinen Bibelstudien lag, die ihn davon unterrichteten, dass Gott die Juden über alle anderen erhoben hatte. Erst als er Gouverneur wurde und nach Atlanta zog, wurde Carter mit dem versteckten, aber tief verwurzelten Antisemitismus des urbanen Südens vertraut, der Juden aus Country Clubs und Regierungsgremien ausschloss.

Während seiner Amtszeit als Gouverneur unternahm Carter mit seiner Frau Rosalynn 1973 eine Pilgerreise ins Heilige Land. Premierministerin Golda Meir stellte ihnen einen alten Mercedes-Kombi mit Fahrer zu Verfügung und sie fuhren durch das winzige Land – nicht mal ein Achtel so groß wie der Staat Georgia. Rosalynn weinte über die Kommerzialisierung der heiligen Stätten2, aber Jimmy versicherte ihr, es sei genauso gewesen, als Jesus die Tische der Geldwechsler im Tempel umwarf. Sie überquerten die Grenze ins besetzte Westjordanland, wo sie eine spezielle Genehmigung bekamen, sich im Jordan zu waschen, in dem Jesus getauft worden war. Der Fluss war nicht viel breiter als ein Bach im Süden Georgias, doch er fand Widerhall in Carters Vorstellung. Er hatte die Bibel seit seiner Kindheit studiert3, und die Geografie des historischen Palästina war ihm vertrauter als die eines Großteils der Vereinigten Staaten. Im Geiste konnte er die Reise Abrahams von der mesopotamischen Stadt Ur bis in das dürre und felsige Kanaan nachvollziehen, 2000 Jahre vor Christi Geburt. Auf denselben Straßen zu gehen, auf denen Jesus gegangen war, an den geheiligten Stätten zu stehen und im Jordan zu waten, erfüllte Carter mit Ehrfurcht und einer erwachenden Zielstrebigkeit.

Wenige Menschen wussten, dass er heimlich plante, für die Präsidentschaft zu kandidieren – in der Tat hatte kaum jemand außerhalb von Georgia je von ihm gehört –, doch sich mit Israel und dessen Problemen vertraut zu machen, war unerlässlich für jeden aufstrebenden nationalen Politiker. Carter besuchte etliche jüdische Siedlungen in den Gebieten, die seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 durch Israel besetzt waren. Den Israelis war immer noch schwindlig vor Begeisterung nach dem Blitzsieg über vier arabische Armeen, der ihnen die Kontrolle über die Golanhöhen von Syrien, die gesamte Sinai-Halbinsel von Ägypten, den Gazastreifen, das Westufer des Jordans sowie den Hauptpreis eingebracht hatte – die Altstadt von Jerusalem. Die Resolution 242 der Vereinten Nationen, angenommen nach Ende des Krieges, enthielt Richtlinien zur Beendigung des Konflikts, einschließlich der Beendigung jeder Geltendmachung des Kriegszustands, Anerkennung der Souveränität der Staaten in der Region und Achtung vor dem Recht der Anwohner, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen ohne Androhungen von Gewalt in Frieden zu leben. Sie verpflichtete Israel ebenfalls zum Rückzug aus den Gebieten, die während des Krieges besetzt worden waren, doch die Regierungsführer hatten es nicht eilig damit, die 11.200 Hektar besetzter Gebiete aufzugeben, durch die sich die Größe des Landes verdreifacht hatte. Die Frage, was mit den anderthalb Millionen Arabern geschehen sollte, die in diesen Gebieten lebten, wurde kaum angesprochen, obwohl sie eine potenziell verhängnisvolle demografische Bedrohung des jüdischen Staates darstellten, der zu jener Zeit 2,285 Millionen Juden umfasste, dazu 100.000 Christen und 290.000 arabische Muslime, die nicht geflohen waren4.

Menachem Begin, damals Vorsitzender einer Minderheitskoalition namens Likud, gehörte zu jenen, die sich am schärfsten für die Notwendigkeit einsetzten, an den Kriegsgewinnen festzuhalten, vor allem an der West Bank, für die er stets deren biblische Namen Judäa und Samaria benutzte. Zu Begins Ideologie gehörte ein stark vergrößertes Israel; er erkannte nicht einmal die Existenz des Königreichs Jordanien an, das seiner Meinung nach erobert werden und in einer ausschließlich jüdischen Nation5 aufgehen sollte – ein Traum, den er nie vollkommen aufgab. Viele Israelis hielten ihn für einen Spinner, einen Faschisten6 oder auch nur für eine peinliche Erinnerung an den terroristischen Untergrund, der die Legende des glorreichen Kampfs um die Unabhängigkeit des Landes befleckte. „Begin ist ein eindeutig hitlerischer Typ“, schrieb David Ben-Gurion, der verehrte Gründer und erste Premierminister Israels, über seinen lebenslangen politischen Gegner. „Er ist ein Rassist, der bereit ist, alle Araber umzubringen, um die Kontrolle über ganz Israel zu erlangen.“7 Prominente amerikanische Juden wie Hannah Arendt und Albert Einstein verurteilten Begins Karriere als Terroristenanführer. „Lehrer [wurden] geschlagen, weil sie sich gegen diese Terroristen ausgesprochen haben, Erwachsene [wurden] erschossen, weil sie verhinderten, dass sich ihre Kinder jenen anschlossen“, schrieben sie 1948 an die New York Times, als Begin seinen ersten Besuch in den Vereinigten Staaten machte. „Mit Gangstermethoden, Schlägen, Fenstereinschlagen und weitverbreitetem Diebstahl schüchterten diese Terroristen die Bevölkerung ein und verlangten einen hohen Tribut.“8

Als Gouverneur Carter das Heilige Land besuchte und Begin sich noch an den Randzonen der israelischen Politik befand, hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass diese beiden Außenseiter nur vier Jahre später die Geschicke ihrer jeweiligen Länder lenken würden.

Das Israel, das Carter damals erlebte, war hoffnungsvoll, blühend und erstaunlich selbstzufrieden. Die einzigen Männer in Uniform waren Verkehrspolizisten. Araber von der West Bank reisten frei nach Israel ein9, und das hohe Aufkommen jüdischer Touristen, zusammen mit großzügigen Investitionen, hatten den Lebensstandard der Palästinenser weit über das gehoben, was sie unter jordanischer Herrschaft hatten erdulden müssen. Allerdings gab es einige beunruhigende Anzeichen. Carter schätzte, dass es zu der Zeit etwa 1500 jüdische Siedler10 auf der West Bank und im Gazastreifen gab, doch er konnte bereits erkennen, dass sie eine erhebliche Bedrohung für den Frieden darstellten. Zusammen mit Rosalynn besucht er einen Gottesdienst in einer Synagoge am See Genezareth und war schockiert, dass außer ihnen nur zwei weitere Menschen teilnahmen. Als sie den Kombi an Golda Meir zurückgaben, fragte diese, ob Carter irgendwelche Anliegen habe. Er wusste, dass Meir, wie all ihre Vorgänger an der Regierungsspitze, eine säkulare Jüdin war, daher zögerte er, bevor er seine Erfahrung in der Synagoge und das allgemeine Desinteresse an Religion erwähnte, das er im Land vorgefunden hatte. Er wies darauf hin, dass die Juden in der Bibel, wann immer sie sich von Gott abwandten, politische und militärische Verluste erlitten hätten. Meir lachte ihm ins Gesicht. Der Gouverneur von Georgia! Doch im selben Herbst schickte Anwar al-Sadat die ägyptische Armee über den Suezkanal, überraschte die Israelis und weckte das Land aus seinem Traum der Unverwundbarkeit. Meir wurde im folgenden Frühjahr zum Rücktritt gezwungen. Die nach Georgia zurückgekehrten Carters fühlten sich verpflichtet, Israel auf jede nur denkbare Weise zu unterstützen. Der Gouverneur begann Meir als „eine alte Freundin“11 zu bezeichnen, obwohl sie sich nur dieses eine Mal getroffen hatten.

Schon bald nach seinem Einzug ins Weiße Haus richtete Carter seine Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten. Walter Mondale, sein Vizepräsident, wunderte sich darüber, dass Carter an seinem ersten Tag im Amt verkündete, Frieden im Nahen Osten sei von oberster Priorität12. Das erschien äußerst naiv. Ein amerikanischer Präsident nach dem anderen hatte dieses Problem in Angriff genommen, unter großen politischen Kosten und mit wenig vorzeigbaren Ergebnissen. Der ehemalige Außenminister Henry Kissinger, der unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford Jahre mit dem Versuch verbracht hatte, die explosiven Temperamente im Nahen Osten zu besänftigen, warnte Carter, kein amerikanischer Präsident solle sich auf Verhandlungen einlassen, deren Ergebnis zweifelhaft sei13. Carters engste Berater rieten ihm, bis zu seiner zweiten Amtszeit zu warten, bevor er etwas von seinem brüchigen politischen Kapital riskierte14. Während seiner ersten Monate im Amt hatte Carters Beliebtheitsgrad in der amerikanischen Öffentlichkeit 75 Prozent erreicht, war aber seitdem ständig gefallen. Doch für Carter war dies keine ausschließlich politische Entscheidung. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Gott von ihm forderte, Frieden zu bringen und er irgendwie einen Weg finden müsse, das zu tun.

Das gefährliche politische Kalkül dieses Unterfangens wurde ihm unverblümt in einem Memorandum dargelegt, geschrieben von seinem ehemaligen Wahlkampfleiter Hamilton Jordan, das so heikel war, dass er es selbst tippte und die einzige Kopie in seinem Bürosafe im Weißen Haus verschloss15. Juden stellten eine übergroße Präsenz im politischen Leben Amerikas dar, erklärte Jordan. „Starke Unterstützung der Demokratischen Partei und ihrer Kandidaten lag in der Einwanderertradition der zweiten und dritten Generation amerikanischer Juden begründet und wurde durch die Politik von Wilson und Roosevelt bestärkt“, schrieb er. „Harry Trumans Rolle bei der Gründung Israels festigte diese Identifikation mit der Partei.“16 Obwohl Juden nur 3 Prozent der amerikanischen Bevölkerung ausmachten, gäben sie fast 5 Prozent der Stimmen ab, bei einer Beteiligung von bis zu 90 Prozent bei den meisten Wahlen. Im Staat New York, zum Beispiel, sei der Prozentanteil von Juden und Schwarzen in der Bevölkerung fast gleich, doch bei der Wahl, die Carter ins Weiße Haus brachte, hätten nur 35 Prozent der schwarzen Bevölkerung von New York ihre Stimme abgegeben, im Vergleich zu 85 Prozent der Juden. „Sie erhielten 94 Prozent der schwarzen Stimmen und 75 Prozent der jüdischen“, schrieb Jordan. „Das bedeutet, dass Sie für jede schwarze Stimme, die Sie bei der Wahl erhielten, fast zwei jüdische Stimmen bekamen.“ Mehr als 60 Prozent der Großspender für die Demokratische Partei seien Juden, darauf wies Jordan hin. Juden unterhielten eine „starke, aber paranoide Lobby“ – das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) –, welche die Einstellungen und Ziele der Regierung Israels widerspiegele und eine verlässliche Mehrheit der Stimmen im US-Senat kontrolliere. Carter sei ein Südstaatler mit unbekanntem Hintergrund, zumindest für die jüdischen Führer. Er habe öffentliche Stellungnahmen abgegeben – über sichere und anerkannte Grenzen für Israel, die Notwendigkeit eines palästinensischen ‚Homeland‘ –, wie sie normalerweise nur hinter verschlossenen Türen vermittelt wurden, was ihn, Jordan, zu der Sorge veranlasse, dass sich die Juden bereits darauf einstellten, Carter Widerstand zu leisten: „Sie sind sicherlich vertraut mit Kissingers Erfahrung aus dem Frühjahr 1975, als die jüdische Lobby einen Brief in Umlauf brachte, unterzeichnet von 76 Senatoren, welche die amerikanische Unterstützung Israels auf eine Weise bekräftigten, mit der die Ford-Kissinger-Hoffnung auf eine neue und umfassende amerikanische Friedensinitiative vollkommen untergraben wurde.“ Der Tenor des Memorandums war, dass Carter sich die jüdische Gemeinde zu einem gefährlichen Feind machen würde, sollte er Druck auf Israel ausüben, was er aber tun müsse, wenn er hoffte, ein Friedensabkommen zu erreichen. Jordan, sein oberster politischer Berater, teilte ihm mit, dies sei eine Situation, in der Erfolg unmöglich sei. Es war ein Paradox: Nichts konnte ein größeres Geschenk für Israel sein als Frieden, und nichts war politisch gefährlicher für einen amerikanischen Politiker als der Versuch, diesen Frieden zu erreichen.

Carters unmittelbares Ziel war, die Gespräche der Genfer Nahostkonferenz wieder in Gang zu bringen. Die Genfer Nahostkonferenz hatte 1973 einmal getagt, unter Vorsitz des UN-Generalsekretärs. Beisitzer waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion; sie endete mit einer Vertagung und verschwand im Ödland guter Absichten. In seinem ersten Amtsjahr bemühte sich Carter um Treffen mit den bedeutendsten arabischen Regierungschefs – ein entmutigendes Ritual, begleitet von überhitzter Rhetorik und unerfüllbaren Forderungen. Und dann kam Anwar al-Sadat ins Weiße Haus. Carter war sofort von ihm angetan. Im Vergleich zu den anderen arabischen Regierungschefs war Sadat ein „strahlendes Licht“, jemand, der „stark zur Beherztheit tendierte“17. Endlich, glaubte Carter, habe er einen Partner für den Frieden gefunden. Der Präsident neigte dazu, persönliche Verbindungen zu überhöhen, vielleicht, um zu kaschieren, dass er selbst eine höchst beherrschte und distanzierte Persönlichkeit war, die nur wenige Menschen nahe an sich heranließ. Trotzdem sahen Carters Berater, dass er und Sadat wirklich voneinander eingenommen waren. Kurz nach diesem ersten Treffen begann Carter von dem gläubigen ägyptischen Autokraten als seinem „teuersten Freund“18 zu sprechen – eine Bezeichnung, die von Regierungschefs nur selten verwendet wurde.

Carter traf sich ebenfalls mit dem israelischen Premierminister Jitzchak Rabin, den er als streitsüchtig und in puncto Friedensaussichten pessimistisch empfand. „Es war, als würde man mit einem toten Fisch reden“, erinnerte er sich19. Kurz darauf verlor Rabin sein Amt wegen eines Finanzskandals, und die Wahl Menachem Begins wurde zum größten Überraschungserfolg der israelischen Geschichte.

Carter wusste wenig über den neuen israelischen Premierminister; auch die CIA hatte wenig zu bieten. Mit zunehmender Besorgnis hatte Carter Begins Auftritt in einer amerikanischen Nachrichtensendung verfolgt, bei der dieser die UN-Resolution 242, die Grundlage aller Friedensverhandlungen des letzten Jahrzehnts, ablehnte. Jedes Mal, wenn ein Fragesteller sich auf die Gebiete bezog, die Israel im Sechs-Tage-Krieg besetzt hatte, korrigierte Begin ihn hartnäckig damit, die Gebiete seien nicht „besetzt“, sondern „befreit“ worden. Er sagte, er habe vor, auf der West Bank eine jüdische Mehrheit zu schaffen. Als er gefragt wurde, ob sein Standpunkt ihn nicht in direkten Konflikt mit Carters wohlbekannter Einstellung zu einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts bringen würde, antwortete Begin: „Präsident Carter kennt die Bibel auswendig, daher weiß er, wem dieses Land rechtmäßig gehört.“20

Die Profile, die Carter in Wyoming studierte, stammten von einem Treffen mit der CIA vor ein paar Wochen21. Er hatte die Analysten gebeten, eine Anzahl von Fragen zu Begin und Sadat zu beantworten:

Was hat sie zu Führern gemacht? Was lag ihren Ambitionen zugrunde?

Was waren ihre Ziele?

Welche früheren Ereignisse hatten ihre Charaktere geformt?

Wie stand es mit ihrer Religiosität? War sie aufrichtig?

Wer war wichtig für sie? Wie sahen ihre familiären Beziehungen aus?

Wie stand es um ihre Gesundheit?

Welche Versprechen hatten sie gemacht, und welche Verpflichtungen waren sie eingegangen?

Wie reagierten sie unter Druck?

Was waren ihre Stärken und ihre Schwächen?

Wie war ihre Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten und Carter persönlich?

Was hielten sie voneinander?

Wem vertrauten sie, vor allem innerhalb ihrer Delegationen?

Die daraus entstandenen Profile22 von Begin und Sadat ergaben äußerst gegenteilige Porträts. Sadat war ein Visionär – kühn, rücksichtslos und bereit, flexibel zu sein, solange er glaubte, seine Gesamtziele zu erreichen. Er betrachte sich als einen großen strategischen Denker, der wie ein Komet im Himmel der Geschichte loderte. Der CIA fiel seine Vorliebe für öffentliche Aufmerksamkeit auf, was sie als „Barbara-Walters-Syndrom“23 bezeichnet hatte, nach einer berühmten Fernsehpersönlichkeit; doch als das Profil für Carter erstellt wurde, war diese Klassifizierung zu Sadats „Nobelpreis-Komplex“ angehoben worden. Begin war hingegen verschlossen, legalistisch und misstrauisch gegenüber radikaler Veränderung. Geschichte war für Begin eine Pandorabüchse voller Tragödien, die man nicht ohne Reue öffnen sollte. Unter Druck gesetzt, tendierte Sadat zum Allgemeingültigen, während Begin sich an Details klammerte. Zusammenstöße und Missverständnisse würden sich nicht vermeiden lassen. Unter den Analysten, die das Dossier zusammengestellt hatten, herrschte einiger Zweifel, ob man zwei so gegensätzliche Persönlichkeiten je in einem Raum zusammenkommen lassen sollte. Die beiden Regierungschefs glichen sich auf aussichtslose Weise. Beide Männer hatten Blut an den Händen. Sie hatten beide längere Zeit im Gefängnis verbracht24 und mussten untertauchen, und sie waren versierte Verschwörer. Sie gehörten nicht zu der Art von Männern, die Carter bisher gekannt hatte.

Carter glaubte jedoch, er verstehe Sadat instinktiv, obwohl sie aus höchst unterschiedlichen Kulturen stammten. Ein Teil ihrer Verbindung resultierte daraus, dass sie beide Bauern gewesen waren. Als Junge hatte Carter hinter einem Maultier den roten Lehm Südwest-Georgias gepflügt, hatte die feuchte Kühle der frisch aufgeworfenen Erde zwischen seinen Zehen gespürt. Ihm war der Gedanke gekommen, dass Jesus und Moses sich während des ersten Teils des 20. Jahrhunderts auf einer Farm im tiefen Süden zu Haus gefühlt hätten25. Auf der anderen Seite des Globus, jedoch auf demselben Breitengrad wie Plains, Georgia, gab es in Ägypten ein Lehmhüttendorf namens Mit Abul-Kum, in dem Sadat seine frühe Jugend verbrachte. Zur Bewässerung ihrer Felder im schwarzen Schwemmland des Nildeltas benutzten die Bauern die archimedische Schraube, die der griechische Gelehrte angeblich erfand, als er im 3. Jahrhundert v. Chr. Ägypten bereiste. In den Grabmälern der Pharaonen waren gemalte Szenen des Dorflebens zu sehen, wie es sich 3000 Jahre später immer noch abspielte.

Unveränderlichkeit ist ein wesentliches Merkmal solch ländlicher Kindheit – ein Gefühl von Geborgenheit, gleichzeitig beschützt und gefangen. Und doch spürte Sadat bereits als Kind, als dunkelhäutiger Bauer aus einem kleinen Dorf im Nildelta, welche einmalige Rolle ihm in der ägyptischen Gesellschaft zufallen würde. Als er einmal mit anderen Kindern an einem Entwässerungskanal spielte, sprangen diese ins Wasser und Anwar sprang hinterher. Erst da fiel ihm ein, dass er nicht schwimmen konnte. Er dachte: „Wenn ich ertrinke, wird Ägypten Anwar Sadat verloren haben!“26

Obwohl er selten über seine Rassenzugehörigkeit sprach, war Sadat nur zwei Generationen von der Sklaverei entfernt – sein Großvater mütterlicherseits, ein Afrikaner namens Kheirallah, war als Sklave nach Ägypten gebracht und erst befreit worden, als die britischen Besatzer darauf drängten, den Sklavenhandel abzuschaffen. Kheirallahs Tochter, Sitt el-Barrein (Frau von zwei Ufern), war ebenfalls eine schwarze Afrikanerin. Sie wurde als Frau für Mohammed el-Sadaty ausgewählt27, Dolmetscher eines britischen Sanitätstrupps. Sie trug traditionelle schwarze Kleidung, lange Ärmel und einen Rock, der bis auf den Boden reichte. Sie war Mohammeds sechste Frau; die ersten fünf gebaren ihm keine Kinder, daher ließ er sich von einer nach der anderen scheiden. Sitt el-Barrein gebar ihm drei Söhne und eine Tochter. Anwar war ihr zweites Kind.

In der Sadaty-Familie sorgte die Mischung der Rassen für reichlich Spannung, wie auch in der gesamten ägyptischen Gesellschaft. Mohammed el-Sadatys Mutter, dem Brauch gemäß Umm Mohammed genannt (Mutter des Mohammed)28, war eine sehr herrische Persönlichkeit und hatte die Ehe mit Sitt el-Barrein arrangiert. Es ist ein wenig rätselhaft, warum sie diese Wahl traf, da Umm Mohammed türkischer Abstammung war, mit heller Haut, und ihre dunkelhäutige Schwiegertochter verachtete. Mohammed hatte die türkischen Gesichtszüge seiner Mutter geerbt; er besaß blaue Augen und blondes Haar. Im Islam ist es einem Mann gestattet, gleichzeitig vier Ehefrauen zu haben, und Mohammed sollte noch zweimal heiraten, als die Familie nach Kairo zog. Zusätzlich zu seinen drei Frauen und seiner Respekt einflößenden Mutter wuchs Mohammeds großer Haushalt schließlich auf 13 Kinder an. Sitt el-Barrein nahm wegen ihrer Abstammung den niedersten Rang ein. Sie war wenig mehr als ein Dienstmädchen und wurde gelegentlich in Anwesenheit ihrer Kinder von ihrem Mann geschlagen29. Sadat sprach nur selten von ihr.

Es war seine Großmutter, Umm Mohammed, die stärkste Persönlichkeit in der Familie, die den größten Eindruck auf Sadat machte. „Wie ich diese Frau liebte!“, erinnert er sich in seiner Autobiografie30. Sie konnte weder lesen noch schreiben, doch sie bestand darauf, dass ihre Kinder und Enkelkinder eine Ausbildung bekamen. Anwar verbrachte oft den Sommer in Umm Mohammeds Lehmhütte in Mit Abul-Kum, wo ihr Einfluss uneingeschränkt war. Von früher Jugend an sah er sich vom Schicksal ausersehen, seine Vorstellungskraft wurde befeuert durch die Geschichten, die seine Großmutter erzählte.

Am liebsten war ihm die Legende von Zahran, eine Märtyrerballade. Im Juni 1906, mehrere Jahre vor Anwars Geburt, war eine Gruppe britischer Offiziere zur Taubenjagd in das nahe gelegene Dorf Dinschawai gekommen. Dabei trafen sie mit ihren Geschossen auch Geflügel der Dorfbewohner, was diese in Wut versetzte. Totales Chaos brach aus. Einer der Soldaten verwundete versehentlich die Frau des örtlichen Imam. Die Dorfbewohner reagierten mit einem Steinhagel. Die Offiziere feuerten in die Menge und verwundeten fünf Menschen. Ein Getreidesilo fing Feuer, vermutlich durch einen Irrläufer. Zwei Offiziere eilten ins Camp zurück, um Hilfe zu holen, doch die anderen Mitglieder der Jagdgesellschaft ergaben sich den Dorfbewohnern. Einer der entkommenen Offiziere starb in der extremen Hitze an einem Sonnenstich, wobei er allerdings durch die Steinigung auch eine Gehirnerschütterung erlitten haben könnte. Zur Rettung angerückte britische Offiziere töteten einen alten Bauern, der dem Sterbenden helfen wollte, in der irrigen Annahme, der Mann hätte ihren Kameraden umgebracht. Die britischen Besatzer beschlossen, an Dinschawai ein Exempel zu statuieren. 52 Dorfbewohner wurden verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt. Die meisten Dorfbewohner wurden ausgepeitscht oder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Vier wurden gehängt.

Dieser chaotische und tragische Vorfall markierte einen Wendepunkt der britischen Besatzung, schürte das Nationalgefühl der Ägypter und erregte selbst in Großbritannien Empörung. Dinschawai wurde zum Inbegriff für die unglückseligen Begleiterscheinungen des Imperialismus. Niemand verkörperte das Gesicht von Dinschawai mehr als der junge Mann namens Zahran, der als erster der Verurteilten gehängt wurde. Laut der von Sadats Großmutter vorgetragenen Ballade war Zahran der Sohn einer dunkelhäutigen Mutter und eines gemischtblütigen Vaters31 – genau wie Anwar. „Die Ballade handelt vom Mut und der Hartnäckigkeit Zahrans im Kampf … wie er mit hocherhobenem Haupt das Schafott bestieg, voll Stolz, dass er sich gegen die Aggressoren empört und einen von ihnen getötet hatte“, schreibt Sadat32. Er hörte diese Legende Nacht für Nacht, und sie verankerte sich tief in seinem Unterbewusstsein. „Oft sah ich Zahran sogar“, schreibt er, „und lebte seine Heldentaten im Traum mit; ich wünschte, Zahran zu sein.“

In Kairo begegnete Anwar zum ersten Mal den verhassten Besatzern. Er erinnert sich an „den hassenswerten Anblick des typisch britischen Polizisten, der auf seinem Motorrad Tag und Nacht wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt fuhr, mit seiner tomatenroten Gesichtsfarbe, grob, dick, mit hervorquellenden Augen und offenem Mund, wie ein Idiot mit einem Wasserkopf, auf dem ein roter Fez saß, der ihm bis zu den Ohren herunterrutschte. Jedermann fürchtete ihn – ich hasste diesen Mann“33.

Im Jahr 1931, als Anwar zwölf Jahre alt war, kam Gandhi auf dem Weg nach London zur Verhandlung über das Schicksal Indiens durch den Suezkanal. Das Schiff legte in Port Said an, woraufhin die ägyptischen Journalisten den asketischen Anführer bestürmten. Der Korrespondent von Al-Ahram staunte darüber, dass Gandhi nichts trug „als ein Stück Stoff im Wert von fünf Piastern, eine Drahtbrille im Wert von drei Piastern und die einfachsten Riemensandalen im Wert von höchsten zwei Piastern. Diese zehn Piaster an Kleidung haben Großbritannien eine Menge zu sagen.“34 Das Beispiel dieses armen, dunkelhäutigen Mannes, der das Empire auf den Kopf stellte, machte tiefen Eindruck auf den jungen Sadat. „Ich begann, ihn nachzuahmen“, schreibt er. „Ich zog meine Kleider aus, bedeckte mich von der Taille abwärts mit einem Schurz, machte mir selbst eine Wollspindel und zog mich in eine einsame Ecke auf dem Dach unseres Hauses in Kairo zurück. Dort blieb ich ein paar Tage, bis mein Vater mich überredete, meinen ‚gewaltlosen Widerstand‘ aufzugeben. Er argumentierte, dass das, was ich tat, weder mir noch Ägypten nützen würde. Im Gegenteil: ich würde sicherlich Lungenentzündung bekommen.“35 Sadats Besessenheit von bedeutenden Männern36 muss sicherlich komisch gewirkt haben, vor allem, als er Gandhi nachahmte, sich unter einen Baum setzte, vorgab, nichts essen zu wollen oder sich mit einem Lendenschurz bekleidete und eine Ziege hütete. Er sah sich bewusst nach den Eigenschaften von Größe um, probierte Merkmale und Ansichten aus. Nicht nur Gandhis Asketentum zog ihn an, sondern auch die autokratische Seite von Gandhis Natur, die Handeln dem Überlegen vorzog und sich nicht um Konsens bemühte.

Trotz Sadats Hass auf die Briten gelang es ihm dank der Hilfe eines britischen Arztes, mit dem Sadats Vater bekannt war, in die königliche Militärakademie aufgenommen zu werden. Das bewahrte ihn vor der Bedeutungslosigkeit, in die er hineingeboren war. Die Akademie war bis 1936, als die Briten der Vergrößerung der ägyptischen Armee zustimmten, ausschließlich der ägyptischen Aristokratie vorbehalten. Während dieser Zeit las Sadat Bücher über die türkische Revolution und empfand zunehmende Bewunderung für Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei. Sadat begann bereits, sich als transformatorische Gestalt zu betrachten, deren eiserner Wille seine Gesellschaft in ein neues Paradigma umformen würde. In dieser Weise waren er und Begin sich sehr ähnlich.

Paradoxerweise waren es dieselben Eigenschaften, die ihn zu Hitler hinzogen. „Ich war in unserem Dorf in den Sommerferien, als Hitler von München nach Berlin marschierte, um die Folgen der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg zu beseitigen und sein Land wiederaufzubauen“, erinnert sich Sadat. „Ich sammelte meine Freunde und sagte ihnen, wir müssten Hitlers Beispiel folgen und von Mit Abul-Kum nach Kairo marschieren. Damals war ich zwölf. Meine Freunde lachten und liefen davon.“37 Zwei Jahrzehnte später, nachdem Deutschland in Trümmern lag und sechs Millionen Menschen umgekommen waren, wurden Sadat und andere prominente Ägypter von einer Kairoer Zeitschrift gebeten, einen Brief an Hitler zu schreiben, als sei er noch am Leben. „Mein lieber Hitler“, schrieb Sadat, „ich bewundere Sie aus tiefstem Herzen. Auch wenn es so scheint, als wären Sie besiegt, sind Sie in Wirklichkeit der Sieger. Es ist Ihnen gelungen, Zwietracht zwischen dem alten Churchill und seinen Verbündeten zu säen, den Söhnen des Satans … Deutschland wird wiedergeboren werden, trotz der westlichen und östlichen Mächte … Sie haben einige Fehler gemacht … aber unser Glaube an Ihre Nation hat sie mehr als ausgeglichen. Es muss Sie mit Stolz erfüllen, für Deutschland ein unsterblicher Führer geworden zu sein. Es wird uns nicht überraschen, wenn Sie erneut in Deutschland auftauchen oder ein neuer Hitler sich erheben und Sie ersetzen wird.“38

Die Tatsache, dass Sadat ein Schwarzer war, könnte beschützende und brüderliche Gefühle in Carter wachgerufen haben. Als Jimmy vier Jahre alt war, zog seine Familie in den kleinen Weiler Archery, zwei Meilen westlich von Plains. Sie waren die einzigen Weißen in einer Gemeinde von 55 schwarzen Familien39. Die meisten von Jimmys Spielkameraden waren Söhne jener schwarzen Pachtbauern; ja, sogar sein Dialekt war in jener Zeit nicht von dem ihren zu unterscheiden. Jimmy und sein bester Freund Alonzo Davis bekamen manchmal Gelegenheit, mit dem Zug in die nahe gelegene Stadt Americus zu fahren, um zusammen einen Film anzuschauen, obwohl sie sowohl im Zug als auch im Kino getrennt in den Abteilungen für „Weiße“ und „Schwarze“ sitzen mussten. Damals nahm Carter solche Praktiken als natürliche Bestandteile einer Gesellschaft hin, in der die Weißen Besitzer und die Schwarzen Pächter waren.

Mit fünf Jahren begann Jimmy, Erdnüsse zu verkaufen, die er selbst gepflückt, gekocht, eingetütet und mit einem Leiterwagen in die Innenstadt von Plains transportiert hatte, wo er sie an kriegsversehrte Veteranen und Herumlungerer verkaufte, die vor dem Mietstall Dame spielten. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise war der Preis für Baumwolle 1932 auf fünf Cent pro halbem Kilo gesunken. Inzwischen hatte der nun acht Jahre alte Jimmy von seinen Erdnussverkäufen genügend gespart, um fünf Ballen für 25 Dollar das Stück zu kaufen. Als Baumwolle mehrere Jahre später wieder auf 18 Cent stieg, verkaufte er die Ballen und kaufte fünf Pächterhäuser, die er monatsweise vermietete, wodurch er bereits als Kind in die Hausbesitzerschicht aufstieg. Um diese Zeit öffneten einmal zwei seiner schwarzen Freunde ein Tor für ihn, traten beiseite und ließen Jimmy den Vortritt. Er dachte, sie spielten ihm einen Streich, doch diese symbolische Tat war Zeichen einer schwerwiegenden gesellschaftlichen Veränderung. „Der ständige Kampf um die Anführerschaft in unserer kleinen Gruppe war damit entschieden, aber das kostbare Gefühl der Gleichheit war aus unserer persönlichen Beziehung verschwunden“, schreibt Carter, „und danach war es zwischen ihnen und mir nie wieder dasselbe“40.

Religion war das Elixier, das sowohl Carter als auch Sadat im Übermaß genossen. Sadat war in seinem Dorf in die islamische Schule gegangen, wo er als Junge den Koran auswendig lernte. Später hatte er eine dunkle Schwiele auf der Stirn, die in endlosen Stunden der Gebetshaltung entstanden war. Das war lange, bevor eine solche äußerliche Zurschaustellung religiösen Eifers im kosmopolitischen Kairo in Mode kam. Er nannte sich selbst den „gläubigen Präsidenten“41. Obwohl Carter kein Aufhebens davon machte, sahen die Menschen in ihm dasselbe. Er hatte mit drei Jahren angefangen, die Bibel auswendig zu lernen und bekannte sich bei Erweckungstreffen offen zu seinem Glauben, als er elf war. Er wurde in der Plains Baptist Church getauft, in der Pastor Royall Callaway predigte, dass die Juden bald nach Palästina zurückkehren und damit die Wiederkunft von Christus sowie die Entrückung der wahren Christen in den Himmel herbeiführen würden – eine als Prämilleniarismus bekannte Doktrin42.

Wie bei Sadat hatte das Militär auch Carter eine Fluchtmöglichkeit geboten. Er hatte einen Onkel bei der Navy, den er vergötterte, und war während seiner ganzen Kindheit von dem Ziel besessen, in die Militär-Akademie in Anapolis, Maryland aufgenommen zu werden. Dazu war eine Aufnahmegenehmigung durch den Kongress erforderlich. Carters Vater wandte sich dazu immer wieder an ihren örtlichen Kongressabgeordneten, doch erst zwei Jahre nach Jimmys Highschool-Abschluss wurde die ersehnte Genehmigung erteilt. Carter begann als 18-jähriger Seekadett, Sonntagschulunterricht in Annapolis zu geben, etwas, was er sein Leben lang fortsetzte. Selbst auf U-Booten hielt er in der Enge zwischen den Torpedos Gottesdienste ab.

Wegen seines Südstaatenhintergrunds stellten seine Klassenkameraden in Annapolis Mutmaßungen über seine Einstellung zur Rassenfrage an. Doch als die Akademie schließlich mit Wesley Brown einen schwarzen Kadetten aufnahm, schirmte Carter ihn vor den Schikanen und der Bigotterie ab, die das Schicksal so vieler Bürgerrechtspioniere war. Carter wurde als „Niggerlover“ verschrien und, wie sich ein anderer Klassenkamerad erinnert, so behandelt, „als sei er ein Verräter“43.

Ab 1949 studierte Carter Atomphysik und Reaktortechnologie am Union College in Schenectady, New York. Admiral Hyman Rickover, bekannt als der „Vater der Atom-Marine“, hatte ihn zum Chief Officer auf der USS Seawolf ausgewählt, einem der beiden Prototypen der noch in der Entwicklung befindlichen Atom-U-Boote. Rickover war – wie Menachem Begin – polnischer Jude, bekannt ebenso für seine Ungeduld wie für seine Intelligenz. Beim Einstellungsgespräch ließ er Carter die Themen wählen, über die er sprechen wollte. Carter war ein unermüdlicher Autodidakt, aber bei jedem Thema, das er anschnitt – Tagesereignisse, Literatur, Elektronik, Geschützwesen, Flottentaktik, Navigation – stellte Rickover ihm immer schwierigere Fragen, die seine überlegene Kenntnis des jeweiligen Gegenstands bewiesen. Als Carter zum Beispiel über klassische Musik sprach, analysierte Rickover Nuancen bestimmter Stücke, von denen Carter behauptete, sie zu bewundern, wie den „Liebestod“ aus Wagners Tristan und Isolde. Während der gesamten Befragung blickte Rickover ihm direkt in die Augen, ohne zu lächeln. Sein Ziel war, zu sehen, wie ein Bewerber sich unter Druck verhielt. Am Ende war Carter schweißgebadet und fühlte sich gedemütigt.

Schließlich fragte Rickover ihn, wie er in seinem Jahrgang auf der Marine-Akademie abgeschnitten habe. „Sir, ich war der 59. in einem Jahrgang von 820!“, erwiderte Carter stolz44. „Haben Sie Ihr Bestes gegeben?“, fragte Rickover. Carter wollte schon zustimmend antworten, doch dann schluckte er und gab zu, nicht immer sein Bestes gegeben zu haben. Rickover blickte ihn lange an, drehte dann seinen Stuhl um und beendete das Gespräch. „Warum nicht?“, fragte er abschließend. Carter konnte nicht antworten. Er blieb einen Moment lang still sitzen, erschüttert von der Unverblümtheit der Frage und der kühlen Entlassung, dann stand er auf und verließ den Raum. „Er hat mir ständig Fragen gestellt, bis er bewiesen hatte, dass ich keine Ahnung von irgendwas hatte“, beschwerte Carter sich hinterher bei Rosalynn45. Ihr fiel auf, dass Carter noch Jahre später, als er Gouverneur war, jedes Mal in Schweiß ausbracht, wenn ihm gesagt wurde, Admiral Rickover sei am Apparat46.

Als einem von Rickovers Protegés stand Carter eine bedeutende Militärlaufbahn in Aussicht. Doch 1953 wurde bei Carters Vater Krebs diagnostiziert, und Jimmy kehrte nach Hause zurück, um sich zu verabschieden. Er war elf Jahre fort gewesen. Er war tief bewegt von der Prozession Hunderter Menschen, die Mr. Earl auf dem Totenbett die letzte Ehre erweisen wollten; so vielen davon hatte er über die Jahre mit seiner stillen Wohltätigkeit geholfen. Obwohl Carter einen sicheren Posten mit einer aussichtsreichen Zukunft hatte, kam es ihm vor, als könnte sein Leben niemals so bedeutsam werden, wie es ihm sein Vater in seiner kleinen Gemeinde vorgelebt hatte. Hinzu kam noch, dass kein anderer aus der Familie die Farm und das Unternehmen mit den Erdnusslagerhäusern übernehmen konnte, das sein Vater aufgebaut hatte. Jimmys jüngerer Bruder Billy war noch in der Highschool und die Erntesaison stand bevor. Während Carter über seiner Entscheidung grübelte, kam er zu dem Schluss: „Gott hat für mich nicht vorgesehen, mein Leben damit zu verbringen, an Vernichtungswaffen zur Tötung von Menschen zu arbeiten.“47 Er nahm seinen Abschied von der Marine und kehrte nach Plains zurück.

Südwest-Georgia war das Land des Ku-Klux-Klans, und Carter wurde mit seinen progressiven Ansichten zur Zielscheibe. Er war kein Aktivist, doch er war der einzige Weiße in Sumter County48, der sich weigerte, dem Weißen Bürgerrat beizutreten, der sich für die Rassentrennung einsetzte und die Südstaaten fest im Griff hatte. Sein Unternehmen wurde boykottiert. Als er 1966 zum ersten Mal als Gouverneur kandidierte, hoffte er, dass Georgia bereit sei, seine rassistische Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er verlor die Wahl gegen Lester Maddox, der sich einen Ruf damit erworben hatte, schwarze Gäste mit einer Pistole und einem Axtgriff aus seinem Restaurant zu jagen. Carter war niedergeschlagen. „Ich konnte nicht glauben, dass Gott oder die Wähler Georgias es zulassen würden, dass mich diese Person schlug und Gouverneur unseres Staates wurde“, klagte er49. Seine Wahlniederlage gegen Maddox löste eine Krise in seinem Glauben aus, an dem er lebenslang festhielt. Seine Schwester Ruth Carter Stapleton, Autorin und Evangelistin, führte ein Gespräch mit ihm. Sie zitierte aus dem Jakobusbrief, der die Gläubigen anwies, sich an ihren Misserfolgen zu erfreuen, da sie zu Weisheit führen können. Carter war zu dem Zeitpunkt nicht bereit, auf ihren Rat zu hören, sagte aber später, es sei ein Wendepunkt gewesen – was er als sein Erlebnis der „Wiedergeburt“ bezeichnete. Er kandidierte erneut als Gouverneur, dieses Mal entschlossen, alles zu tun, um zu gewinnen.

Die Rassenfrage war immer noch das gefährlichste Thema in Georgia. Carter stellte sich im Wahlkampf von 1970 als Populist und Freund der Arbeiterklasse dar, womit er dieselbe Wählerschaft ansprach, die Maddox und andere Demagogen in Georgia umworben hatten. Gelegentlich ließ er durchblicken, dass er George Wallace, dem Gouverneur von Alabama, und anderen prominenten Segregationisten nahestand, borgte sich sogar Wallaces Slogan „Our Kind of Man“50 („Ein Mann nach unserem Geschmack“, Slogan auf einem Button für Wallaces Wiederwahl zum Gouverneur 1960, Anm. d. Übers.) als Augenzwinkern für die Rassisten in der Menge. Er ging sogar so weit, Lester Maddox zu unterstützen, der nicht selbst die Nachfolge antreten durfte und als stellvertretender Gouverneur kandidierte, und nannte ihn „die Verkörperung der Demokratischen Partei“. Es gab ein Foto von Carters Gegenkandidaten in der demokratischen Vorwahl, Carl Sanders, zusammen mit schwarzen Mitgliedern des Baseballteams Atlanta Hawks (das ihm teilweise gehörte), die ihm Champagner über den Kopf gossen. Reporter aus Atlanta behaupteten, Carters Wahlkampfhelfer hätten Flugblätter mit diesem Foto an weiße Friseurläden und Kirchen im ganzen Staat verschickt und sie sogar bei Ku-Klux-Klan-Treffen verteilt. Obwohl Carter nicht mit diesen Aktivitäten in Verbindung gebracht wurde51, da er ein Erdnussfarmer aus Süd-Georgia war, wurde bereits angenommen, er müsse Rassist und Plantagenbesitzer sein. „Ich bin kein Landbaron“, war Carter schließlich gezwungen, zu verkünden. „Ich habe keine Sklaven auf meiner Farm in Plains.“52

Einer von Carters hauptsächlichen Unterstützern war ein wohlhabender iranischer Jude aus Savannah namens David Rabhan. Er besaß ein wackliges Wirtschaftsimperium, das von Seewolf-Farmen bis zu Altersheimen reichte. Hoch gewachsen und muskulös, mit kahl rasiertem Kopf, gekleidet in den für ihn typischen blauen Overall und Turnschuhe, war Rabhan Schriftsteller, Bildhauer und Gourmet-Koch. Außerdem war er Pilot und flog Carter während des Wahlkampfs in einer zweimotorigen Chesna quer durch den Staat. Sie verbrachten so viel Zeit zusammen in der Luft, dass Carter lernte, die Maschine zu fliegen, während Rabhan ein Nickerchen machte.

Rabhan war ein Liberaler, vor allem in der Rassenfrage. Er hatte als Kind die Leiche eines Schwarzen gesehen, der von Weißen ermordet worden war, was sich ihm für immer eingeprägt hatte. Als Erwachsener pflegte er Freundschaften mit einigen der wichtigsten Persönlichkeiten in der einflussreichen schwarzen Gemeinde Atlantas. Er stellte Carter diesen Leuten unauffällig vor, zusammen mit schwarzen Predigern und Beerdigungsunternehmern im ganzen Staat. Diese Treffen wurden geheim gehalten, um Carters Chancen nicht zu zerstören. Eingeweihte schwarze Wähler konnten sich vorstellen, dass Carter ein heimlicher Progressiver sei, so wie weiße Rassisten annehmen konnten, er sei einer der Ihren.

An einem der letzten Tage des Wahlkampfs, als die beiden Männer von der Küste Georgias aus über den Bundesstaat flogen, übernahm Carter den Steuerknüppel, während Rabhan die Augen schloss. Sie flogen in 8000 Fuß Höhe, als beide Motoren zu stottern begannen und aussetzten. Carter geriet in Panik. Er versetzte Rabahn einen Rippenstoß, doch der Mann rührte sich nicht. Dann schlug er fester zu. „Was ist los?“, fragte Rabah53.

„Der Treibstoff ist uns ausgegangen!“ In dem Fall, sagte Rabahn, würden sie abstürzen. Rabhan ließ das erst einmal wirken, dann drehte er an einem Ventil und öffnete den Zusatztank. Hustend sprangen die Motoren wieder an.

Nur sehr wenige kommen damit durch, Jimmy Carter auf den Arm zu nehmen. Nachdem Carter sich beruhigt hatte, meinte er, Rabahn habe so viel für ihn getan. „Wir sind am Ende des Wahlkampfs“, sagte er. „Ich glaube, ich habe gute Chancen zu gewinnen. Gibt es irgendwas, das ich für Sie tun kann?“ – „Nein, ich brauche Ihre Hilfe als Gouverneur nicht“, erwiderte Rabahn. „Ich hätte nur gerne, dass Sie den Menschen von Georgia sagen, was Sie von dem Mühlstein des Rassismus halten, der so lange auf unserem Staat gelastet hat.“ Carter griff nach einer alten Flugkarte. Auf die Rückseite schrieb er: „Ich kenne diesen Staat so gut wie alle anderen. Ich sage Ihnen ganz offen, dass die Zeit für Rassendiskriminierung vorbei ist.“ Er reichte Rabhan die Karte. „Wenn ich die Wahl gewinne, werde ich in meiner Antrittsrede dieses Statement abgeben.“ – „Signieren Sie“, verlangte Rabhan.

Diese Deklaration aus dem Gouverneurssitz von Georgia am 12. Januar 1971 brachte Carter auf den Titel der Zeitschrift Time und säte den Samen für seine Präsidentschaftskandidatur.

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