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Hansjörg Schneider

Nachtbuch
für Astrid

Von der Liebe,

vom Sterben, vom Tod

und von der Trauer darüber,

den geliebten Menschen

verloren zu haben

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2000

im Ammann Verlag, Zürich

Umschlagillustration: Heiner Kielholz,

›Briefumschlag‹, 1975 (Ausschnitt)

Privatbesitz

Copyright © Schweizerisches Institut

für Kunstwissenschaft, Zürich,

Lutz Hartmann

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06808 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60154 1

Inhalt

Hinweis für den Leser

Anmerkung des Autors

Nachtbuch für Astrid

Autorenbiographie

Mehr Informationen

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ich habe beim Verfassen dieses Berichts nicht groß auf stilistische Feinheiten geachtet, ich habe auf Authentizität geschaut. Es ist ein Tagebuch meiner Trauer.

Ich könnte Astrid auch einen Stein setzen. Aber da ich nicht Steinmetz bin, sondern Schriftsteller, schicke ich ihr dieses Buch nach in den Tod.

H. S.

[7] Basel, 27. 11. 97

Heute am späten Morgen werde ich mit meinem Sohn zusammen auf dem Friedhof Hörnli die Asche meiner Ehefrau A. Schneider-Hauri abholen. Ich werde die Urne zuerst in ihr Zimmer unter das Klavichord stellen, das sie vor gut einem Jahr gekauft hat. Dieses Klavichord hat für A. ein neues Leben bedeutet. Sie hat Stunden genommen, hat zart geklimpert, erst Tonleitern, dann die ersten Sonatinen. Sie hatte vor, ihr weiteres Leben mit selbstgespielter Musik zu verschönern.

Am 22. November, vor fünf Tagen, ist sie im Basler Kantonsspital gestorben. Am 29. November, in zwei Tagen, findet die Abdankung statt. Die Urne werde ich später einmal, auf ihren Wunsch hin, nach Carona im Tessin mitnehmen und auf dem Friedhof in eine Nische stellen. Auch meine Urne wird dort einmal Platz finden, wenn ich es dann noch will und Zeit finden werde, meinen Entscheid bekanntzugeben.

Im Moment helfen mir nur Wörter, die ich aufschreibe. Gespräche helfen mir nicht, sie öden mich an. Ich versuche, ein Tagebuch zu führen, um mich zu retten.

[8] Knoeringue /Elsass, 28. 11. 97

Ich bin soeben in unserem Haus in Berentzwiller/Elsass gewesen, welches A. vor rund 15 Jahren unbedingt hat kaufen wollen. Ich bin damals dagegen gewesen, aber sie hat sich einmal mehr durchgesetzt. Es ist ein Riegelhaus, gebaut aus Eichenbalken und Lehm, mit Stall, Scheune und Umschwung. Der Wohntrakt ist in Ordnung, der Rest halb verfallen. Eines der Nester, die wir uns eingerichtet haben, um darin heimisch zu werden.

Jetzt kommen mir die Tränen, wenn ich das Haus betrete. Es riecht alles nach A. Sie war eine leidenschaftliche Einrichterin. Da sie in früher Jugend keine wohlige Heimat hatte, hat sie sich selber eine geschaffen in diesem Haus.

Ich werde es wohl verkaufen müssen. Die Küche mit dem Holzherd, die Stube mit Ofenkunst und Eisenofen, neben dem mein Bett steht. A.s Zimmer nebenan mit dem breiten Bett, in das ich hineinkriechen konnte, wann immer ich wollte, um sie im Schlaf zu umarmen. Draußen vor dem Fenster der Kirschbaum, drum herum lehmige Wiese, dahinter die Ferne, der hohe Himmel. Im Sommer die Grillen, im Winter die Käuze, im Frühling der Vogelgesang.

Hier haben wir die schönsten Abende verbracht. Ein Nachtessen in der Beiz in Knoeringue, in der ich [9] jetzt sitze, dann eine kurze Fahrt zu unserem Haus. Sie legte sich ins Bett, ich setzte mich draußen an den Tisch unter ihrem offenen Fenster und trank noch ein Bier. Die Fledermäuse im eindunkelnden Himmel, das Rauschen der Pappel im Nachtwind, die Sterne über dem Haus. Im Hochsommer, wenn es in Basel brütend heiß ist, steigt hier eine feuchte Kühle aus dem Lehmboden. Wir haben miteinander geredet durchs offene Fenster, langsam und sorgfältig, und ich habe ihr die Gedichte aufgesagt, die ich auswendig kann.

Dämmrung senkte sich von oben,
schon ist alle Nähe fern.
Doch zuerst emporgehoben
holden Lichts der Abendstern.

Dann vernahm ich ihre tiefen Atemzüge, die bald in leises Schnarchen übergingen. Ich wusste, jetzt schläft sie gut.

Ich habe diese Nächte über alles geliebt und bin manchmal bis um zwei sitzen geblieben. Ich habe mich eins gefühlt mit der Natur, als ein Lebewesen, das in diesem Moment wunderschön lebte. Nach Mitternacht habe ich seltsame Amphibien schreien hören, es müssen Kreuzkröten gewesen sein. Mir fiel auf, wie groß und hoch der Himmel die Erde [10] umspannte. Wie leicht der Wind durch die Laubbäume ging. Wie gut es war, eine träumende Frau neben sich zu wissen.

Vor rund drei Wochen, als der Arzt mir sagte, dass jetzt nichts mehr zu machen sei gegen den nahen Tod, habe ich folgendes Gedicht geschrieben:

Du klebst auf meiner Haut
Salzkorn
solange ich lebe.

Du liegst mir unter dem Augenlid
Sandkorn.
Ich wasche dich am Tag
ich wasche dich in der Nacht
mit meinen Tränen.

Ich trage dich mit mir
Sandmädchen Salzmädchen Perlmädchen
bis mein Auge sich schließt.

Basel, 29. 11. 97

Heute Nachmittag um 15 Uhr findet in der St.-Leonhards-Kirche die Abdankung statt. Die Band unseres Sohnes wird Country-Musik spielen. Unsere [11] Tochter wird den Lebenslauf lesen. Zwei Kollegen von A. werden ihren beruflichen Werdegang schildern. Das alles gefällt mir, so will ich es haben. Aber ich fürchte die Trauergäste, die mir bestimmt alle kondolieren wollen.

Vielleicht werde ich auf den First des Kirchendachs hinaufklettern und hinunterrufen, wer mir sein Beileid ausdrücken wolle, solle sich zu mir hinaufbequemen. Oder ich könnte wegrennen, und die Trauerhorde sprintet hinter mir her, um mich zu fassen. Ich renne durch die Stadt auf die Mittlere Brücke, von dort springe ich in den Rhein. Ich nehme an, niemand wird mir folgen.

Heute Morgen im Allschwiler Wald ist plötzlich der Wind in die Baumkronen gefahren und hat die letzten Blätter über mich gestreut. Ich habe mir vorgestellt, dass A. mich mit diesem hellen Laub segnet. Ich habe gejauchzt, um meine Dankbarkeit zu zeigen.

Es ist mir fast unmöglich, ihren Tod ohne Mythen zu ertragen. Wenn man nicht an den offiziellen christlichen Mythos glaubt, so schafft man sich einen eigenen.

Am liebsten hätte ich ihren immer noch warmen, dürren Leib genommen, ihn geschultert und irgendwohin in den Wald getragen, um ihn zu [12] begraben. Aber das geht nicht, der Tod ist eine öffentliche Angelegenheit. Die Trauerraben verlangen ihr Recht.

Basel, 30. 11. 97

Es war doch gut, eine öffentliche Abdankung zu machen. Es waren unglaublich viele Leute da, die Kirche war voll.

Das Kondolieren ging gut vonstatten. Die Trauerhorde war noch trauriger als ich, was mich fast erheiterte. Das Leichenmahl fand im Restaurant Kunsthalle statt. Meine Freunde und Kollegen Jürg Federspiel, Thomas Hürlimann, Werner Lutz und Urs Widmer waren auch da. Das hat mich stolz gemacht, stolz für A.

Es gibt drei Arten, die Hilflosigkeit einem trauernden Mann gegenüber, der seine langjährige Geliebte verloren hat, auszudrücken.

Erstens: Aktion Zwetschgenkuchen. Die befreundeten Frauen backen Zwetschgenkuchen und stellen sie dem Trauernden vor die Tür, in der Hoffnung, er möge sich ins Leben zurückfressen.

Zweitens: Aktion viel Kraft. Die Kondolanten wünschen dem Trauernden viel Kraft, in der Hoffnung, er möge mit Kraft den Tod überwinden. Das geht natürlich nicht. Es hilft nichts als Trauer.

[13] Drittens: Aktion Wie geht’s? Die Kondolanten wollen dem Trauernden helfen, indem sie sich nach seinem Zustand erkundigen. Das ist Stumpfsinn. Man sieht ja, wie es ihm geht. Er ist am Ende.

Gut waren die jungen Leute, Cousins und Cousinen und Freundinnen und Freunde unserer Kinder. Das war eine starke Gruppe, die munter drauflosgeschwatzt hat, wie es sich gehört. Auch A.s Freundinnen haben mich beeindruckt. Das war ein schöner Weibertisch, still und andächtig. Ich habe mich zu ihnen gesetzt.

Basel, 1. 12. 97

Am Tag vor der Beerdigung ist in einer Beilage der Basler Zeitung folgende Kolumne von mir erschienen:

Im Allschwiler Wald, morgens um neun. Nebel zwischen den Bäumen, im Südosten drückt die Sonne durch. Blätter im leichten Wind, Laub auf dem Boden, nass und modrig. Du trabst wie ein Hund, hechelnd nach wenigen Schritten Laufens. Du spürst das Herz pochen, den Schweiß auf der Stirn. Dann gehst du langsamer, vorsichtig, als könnte der Waldboden einbrechen. Doch der hält.

Der Wald ist bevölkert, wie jeden Morgen. Alleinstehende Frauen treffen sich hier. Jede hat ihren [14] Hund dabei, meist kleine Ware. Sie kommandieren, sie schreien durch den Wald. Sie wissen genau, was die Tiere dürfen und was nicht, was ihnen guttut und was nicht. Den Hunden gefällt’s. Sie treffen ihre Kumpane, jagen durchs Unterholz, als wären sie Wölfe.

Männer kommen des Weges, meist älteren Jahrgangs, jeder für sich. Sie wandern langsam dahin, grüßen schüchtern, sie haben bessere Tage gesehen. Manchmal blitzt kurz ihr Auge auf, als erwarteten sie ein Gespräch. Aber schon wenden sie sich wieder ab und stapfen weiter. Die Hunde trotten mit, folgen dem Meister, sie bellen nie.

Ab und zu siehst du zwei dieser Herren auf einer Bank sitzen. Sie machen Konversation wie früher, gestikulieren, versuchen zu lachen. Doch gleich verstummen sie wieder und schauen traurig zu, wie endlich die Sonne aus dem Nebel bricht.

Du erreichst den Waldrand, die Wärme, das Licht. Eine Heiterkeit übermannt dich, ungeahnt und fast unwirklich, du wirst leicht. Vorn auf der Wiese siehst du zwei wandernde Gestalten. Sie gehen in der Sonne, sie halten sich an der Hand. Als ich an ihnen vorbeitrabe, sehe ich, dass sie über siebzig sind. Seine Hand liegt tatsächlich in der ihren, als würde sie dorthin gehören. Sie gehen schweigend, sie haben alles gesagt. Sie genießen den Morgen, der sich hell und schön über die Landschaft legt.

[15] Basel, 2. 12. 97

Ich bin nicht bei A. gewesen, als sie starb. Ich habe sie um drei nachmittags verlassen, um im Allschwiler Wald zu joggen. Ich mache das jeden Tag, ich habe Rückenprobleme. Anschließend habe ich mich in unserer Wohnung für eine Stunde hingelegt. A. hat zwar gebettelt, ich solle bei ihr bleiben. Sie hat gefragt: Wer trägt mich, wenn ich hier hinausmuss?

Meine Schwester ist bei ihr geblieben. Ich habe A. gesagt, dass diese mich sogleich anrufen würde, wenn eine Krise einträte, und dass ich dann in zehn Minuten dasein würde. Unsere Wohnung liegt in der Nähe des Kantonsspitals.

Sie hat mich ungern gehen lassen. Aber ich habe gedacht, ich müsse auch zu mir selber schauen, damit ich nicht zusammenbreche.

Um halb fünf hat mich meine Schwester angerufen, ich lag in meinem Bett und schlief. Sie hat gesagt: Jetzt ist A. gestorben.

Ich habe die Tür zum Balkon aufgerissen und laut hinausgerufen: Komm hierher, komm hierher!

Ich bin sofort ins Spital gefahren, habe das Haupt und die Füße meiner toten Geliebten geküsst, so wie das einem Ehemann zusteht. Zu meiner Schwester habe ich gesagt, sie solle das Fenster aufmachen.

Eine Krankenschwester hat mir mitgeteilt, eine Leiche dürfe höchstens zwei Stunden in einem [16] Spitalbett liegen bleiben, dann müsse sie abtransportiert werden in den Kühlraum.

Dem Arzt, der mich gefragt hat, ob ich den Leichnam zur Obduktion freigeben würde, habe ich klipp und klar gesagt: Nein. Das hat mich erstaunt, denn selbstverständlich, so behaupte ich, ist es mir egal, was mit meiner Leiche geschehen wird. Aber in diesem Fall war ich stur, sie war schon zu sehr versehrt worden.

Ich habe dann immer wieder mit A. geredet, zu Hause im Bett, am Morgen im Wald. Bis ich gemerkt habe, dass dies nicht richtig war. Ich habe gemerkt, dass ich sie ziehen lassen sollte. Sie musste weg von mir, in eine andere Wirklichkeit hinein, sie wollte das so. Meine Anrufe haben sie bloß verwirrt.

Ich rede jetzt noch ab und zu mit ihr, aber nicht mehr, um ihre Wiederkunft zu beschwören. Ich lerne jeden Tag mehr, die traurige Tatsache, dass ich sie nie mehr sehen werde, auch gefühlsmäßig zu begreifen. Mit dem Verstand schaffe ich es, aber mein Gefühl wehrt sich gegen diese finale Erkenntnis.

Daher beziehen die Religionen ihre Verführungskraft. Wie schön ist die Vorstellung, A. habe jetzt zwei Flügel und eine Querflöte und blase mit auf einer himmelblauen Wolke. Dass sie in der Hölle schmort, könnte ich mir, auch wenn ich christlichen [17] Glaubens wäre, nicht vorstellen, obschon ich sie ein paarmal zum Teufel gewünscht habe. Sie bestand in ihrem Herzen aus Liebe.

Es ist ein Blödsinn zu meinen, ein toter Mensch lebe weiter, weil er in der Erinnerung der Hinterbliebenen bleibe. Was da weiterlebt, ist die Erinnerung und nicht der tote Mensch. Diese Erinnerung muss sich mit dem wirklichen Wesen des Toten keineswegs decken.

Einige Wochen vor ihrem Tod hat sie mir gesagt, ich sei der einzige Mensch, dem sie sich ganz gezeigt habe. Was ich als umfassendste Liebeserklärung verstanden habe, die man jemandem machen kann. In mir könnte A. also weiterleben, weil sich meine Erinnerung an sie mit ihrem Wesen wohl weitgehend deckt. Aber sie lebt nicht in mir weiter, sondern irgendwo anders, wo ich nicht hinreiche. Da hilft nichts, sie ist weg. Das ist auch richtig so. Man soll die Toten nicht auf ungehörige Weise vom Leben aus zu stören versuchen.

[18]