Buch

Willkommen in Tumanbay – einer Stadt, in der Dolche regieren. Einer Stadt, in der alle Menschen Sklaven sind, selbst wenn sie über Tumanbay herrschen. An diesem Ort steht das Schicksalsrad für niemanden still, auch nicht für den Regenten der Stadt: Als ein mysteriöser Fremder den Palast von Tumanbay betritt, um ein schreckliches Geschenk zu überreichen, endet die Herrschaft des Sultans – auch wenn dieser noch nichts davon ahnt. Denn was könnte für die prächtige und von mächtigen Männern geführte Stadt Tumanbay verheerender sein als eine Frau?

Autoren

Walker Dryden ist das Pseudonym für das Autorenduo Mike Walker und John Scott Dryden. In den letzten Jahren haben die beiden zusammengearbeitet, um die Welt von Tumanbay zum Leben zu erwecken.

John Scott Dryden ist ein preisgekrönter Autor und Regisseur. Er schuf die populäre Podcast-Serie Passenger List und hat viele Hörspielserien für die BBC geschrieben und inszeniert.

Mike Walker hat Serien über die Caesars, Plantagenets, Stuarts und Romanovs für die BBC geschrieben sowie eine Reihe von Stücken und einen Thriller.

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Walker Dryden

DIE STADT DER
DOLCHE

ROMAN

Deutsch von Urban Hofstetter

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »City of a Thousand Faces« bei Orion, London.


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Copyright der Originalausgabe © John Dryden and Mike Walker 2020

Based on the BBC Radio 4 radio series Tumanbay

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

Umschlagmotive: Shutterstock.com (Ellerslie; maticeee; freya photographer; T Studio; Dim Dimich; mexrix)

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27442-9
V001

www.blanvalet.de

MW

Für Octavius



JSD

Für Ayeesha, die mit mir auf diese Reise gegangen ist, Hugo & Leela-Grace, die unterwegs aufgetaucht sind, und Kairo, das wir verloren haben.

»Nachdem ich zwei Tage lang hart gearbeitet hatte, nahm ich, mit Sand und lockerer Erde bedeckt, wie ich war, mehrere Lagen alte Schriftrollen und Manuskripte heraus. Doch ich konnte keine nützlichen Informationen darin entdecken – wissen die Himmel, was darunter liegt –, da ich des Suchens müde war.«

Jacob Saphir, Talmudgelehrter und Reisender, 1864

»Wir kamen an eine große, vier Tagesreisen breite Wüste, in der ein Wind namens Samum weht, auch bekannt als Giftwind. Jedem Unglückseligen, der in diesen Wind gerät, ist der Tod gewiss. Und es heißt, der Leichnam eines Mannes, der darin umkommt, zerfällt zu Staub, wenn seine Gefährten ihn für die Beisetzung zu waschen versuchen. Es hat viele solche Todesfälle gegeben, und uns wurde eindringlich geraten, nur nachts zu reisen, wenn der Wind nicht geht.«

Ibn Batuta, Reisender, 1304-1369

Dramatis Personae

Prolog

Die Reise nach Tumanbay war lang und mühsam gewesen. Um die Wüstenhitze zu meiden, war der Gesandte, der auf einem Maultier ritt und von einer kleinen Gruppe Gläubiger begleitet wurde, größtenteils nachts unterwegs. Doch seine Mission war so dringlich, dass sie am letzten Tag im Sonnenlicht weiterzogen. Obwohl sie immer noch einen Tagesmarsch von ihrem Ziel entfernt waren, schien die Stadt wie glitzerndes Wasser vor ihnen aus dem Sand aufzusteigen.

Hätte irgendwer diese kleine Karawane auf ihrem Weg nach Tumanbay beobachtet, wäre ihm nichts Verdächtiges oder gar Alarmierendes an ihr aufgefallen. Die Handelsroute von und nach Tumanbay war sehr belebt, und es gab entlang der Strecke viele Kontrollpunkte. Ihre Passierscheine waren in Ordnung.

Bei Sonnenuntergang konnte er deutlich die Türme und Minarette ausmachen und auch die Paläste, die wie funkelnde Inseln aus einem Meer von grünen und blauen Dächern aufragten, sowie die hohen Mauern, von denen es hieß, dass keine Armee sie überwinden könne.

Dennoch war es dem Gesandten mit der Unterstützung von einheimischen Gläubigen im Schutz der Dunkelheit gelungen, die Stadt zu betreten, ohne von den Torwächtern bemerkt zu werden. Und nun begab er sich an diesem verheißungsvollen Morgen zu Fuß zum Palast des Sultans. Obwohl er von der Reise erschöpft war und ihm der Sack, den er über die Schulter geschlungen hatte, allmählich schwer wurde, rastete er nicht und nahm an keinem der Cafés oder Stände am Straßenrand eine Erfrischung ein. Er hielt den Blick fest auf das imposante Palasttor gerichtet. Wäre er für seine Umgebung nicht so blind gewesen, hätte er erkannt, wie voll die Straßen waren. Eselskarren, Kamele, Händler, Soldaten, Sklaven, Diebe, Einkäufer, Taugenichtse und Liebespaare – wie schon seit Jahrhunderten gingen die Bürger von Tumanbay ihren täglichen Verrichtungen nach, nicht ahnend, dass sich ihre Welt bald verändern würde.

Sie bemerkten ihn kaum. Hier gab es so viele Menschen aus sämtlichen Ecken und Enden des Reichs und darüber hinaus, die alle ihren eigenen Kleidungsstil pflegten – ein kleiner bärtiger Pilger in einem schwarz-roten Kaftan war kein ungewöhnlicher Anblick.

Ein Stück voraus erblickte er etwas Irritierendes: eine Staub- oder Rauchwolke, die neben dem Eingang zu einer schmalen Gasse im Kreis wirbelte. Die Passanten wechselten davor die Straßenseite. Als der Gesandte sich der Stelle näherte, blieb er stehen und sah es sich an. Trotz des generellen Gedränges war die Straße hier vollkommen unbelebt, wenn man von dem summenden Wirbel absah, bei dem es sich, wie er nun feststellte, um einen Schwarm Wespen handelte. Vielleicht hatte jemand ihr Nest zerstört und sie so sehr aufgeschreckt, dass sie nun in ihrem desorientierten und verwirrten Zustand eine Gefahr für die Allgemeinheit waren.

Er beobachtete sie fasziniert. Sicher waren sie ein Zeichen, dass er seine Aufgabe ohne Furcht erfüllen musste. So wie die Wespen würden auch die Menschen von Tumanbay bald über die ganze Welt verstreut sein. Ihre wundersame Stadt, in die sie ihr Vertrauen gesetzt und an die sie geglaubt hatten, würde sich als so leer und bedeutungslos entpuppen wie ein totes Nest.

Er umklammerte den Sack und überquerte die Straße.

TEIL 1

Weit weg von hier steht eine Stadt … Meine Eltern haben oft über sie gesprochen, als hätte sie schon immer existiert und als würde es sie ewig geben … Ich hatte ihn auf Gemälden gesehen und Geschichten über ihn gelesen, diesen reichsten und mächtigsten Ort der Welt … das Zentrum von allem. Diese Stadt zog aus allen Winkeln des Reichs und von jenseits seiner Grenzen Menschen an, die nach Reichtum und Macht gierten … oder in manchen Fällen nach noch mehr Reichtum und mehr Macht. Sie wurden von ihrer Schönheit geblendet. Und wie Motten, die es zum Kerzenlicht zog … verbrannten viele in ihr bei lebendigem Leib … Tumanbay …

KAPITEL 1
Basim

Die Lider des Kindes flatterten, doch ansonsten war es völlig reglos. Es schien nicht einmal mehr zu atmen. Basim schüttelte es sanft.

»Wach auf, mein kleiner Frosch. Wach auf.«

Der kleine Junge riss erschrocken und verwirrt die Augen auf. Doch dann sah er seinen Vater, der auf ihn herablächelte, und entspannte sich.

Es herrschte immer noch Dunkelheit, Basims liebste Tageszeit, wenn die Luft kühl war und man nur die Zikaden und die Rufe der Prediger in der Stadt hören konnte.

»Geh heute nicht, Papa«, sagte der Junge und setzte sich auf. »Etwas Schlimmes wird passieren.«

Basim lächelte und machte sich weiter fertig. »Ist das so, mein kleiner Frosch?«

»Und sie werden dir den Kopf abhacken, und du wirst uns nie wiedersehen.«

Basim dachte kurz darüber nach. »Ich werde meinen Kopf vermissen«, sagte er und rückte vor dem Spiegel seine Uniform zurecht. »Er sieht nämlich besonders gut aus, findest du nicht?«

Solche finsteren Träume hatte der Junge bereits seit mehreren Monden, und sie hatten sein Wesen verändert. Er spielte nicht mehr so gern mit anderen Kindern, und im Gegensatz zu früher, als ihm die Schule noch großen Spaß gemacht hatte, weil er ein begabtes Kind war und im Unterricht glänzen konnte, war er nun wütend, wenn seine Mutter, Heba, ihn dort hinschickte. Heba hatte die Gemahlin eines anderen Offiziers um Hilfe gebeten, eine Frau, die in der Wohnanlage für ihre Heilkräfte bekannt war. Die hatte ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle und dass der Junge nur eine lebhafte Fantasie habe.

Wenn Basim vom Palast heimkehrte, saß der Junge oft allein und in Gedanken versunken im Gang vor ihrer Wohnung. Als Basim ihn vor Kurzem gefragt hatte, was ihn bedrücke, hatte der Frosch erwidert: »Ich habe darüber nachgedacht, wie sie dort unten sehen können.«

»Wie wer sehen kann – und wo?«

»In der Unterwelt. Die Leute, die dort leben.«

»Es gibt keine Unterwelt«, hatte Basim gesagt. »Das ist nur ein Märchen.«

Am Vorabend hatte ihre Nachbarin Khalida erzählt, dass ihre Katze verschwunden sei. Der Frosch hatte darauf bestanden, zu ihrer Wohnung hinüberzugehen und ihr zu sagen, er wisse, dass das Geschöpf nun »in Finsternis zwischen Sandkörnern begraben« sei. Seine Worte hatten sie dazu veranlasst, unkontrolliert zu weinen, und während mehrere Nachbarn hinzugekommen waren, um sie zu trösten, hatte der Frosch bloß dagestanden und sie angesehen, als wäre ihm nicht klar, dass er ihr wehgetan hatte.

Doch als Basim nun in den Spiegel blickte und den Frosch auf dem Sofa liegen sah, ging ihm das Herz über. Er mochte ein merkwürdiges Kind sein, aber er war ihr Kind, ein wertvolles Geschenk von Gott, das lange gebraucht hatte, um auf die Welt zu kommen. Vor ihm hatte Heba drei Kinder ausgetragen, denen es nicht bestimmt gewesen war, hier bei ihnen zu sein. Sie wünschten sich nichts mehr, als dass ihr überlebendes Kind glücklich würde.

Basim spürte eine Hand im Nacken. Als er sich umdrehte, sah er Heba.

»Hast du das gehört?«, fragte Basim.

»Was meinst du?«, erwiderte sie strahlend.

»Der Frosch hatte wieder einen seiner Träume.«

»Einen schlimmen«, fügte der Frosch hinzu.

»Ach, tatsächlich? Na, du kannst mir ja nach dem Frühstück davon erzählen.« Sie begann, das Essen herzurichten. Sie hatten ausgemacht, dass sie versuchen würden, ihre Sorgen vor dem Kind zu verbergen.

Basim schnallte sein Schwert um – einen elegant geschwungenen Säbel, wie ihn nur die Offiziere der Palastwache trugen – und küsste den Frosch auf die Stirn. »Sei brav. Hör auf deine Mutter.«

Heba begleitete ihn zur Tür. »Dann bis bald«, sagte sie und sah ihm tief in die Augen. »Und mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, es geht ihm bald besser.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich bin noch mal mit ihm zu Frau Talum gegangen. Sie hat mir Medizin mitgegeben und gesagt, dass damit die Träume anfangs zwar schlimmer werden, aber danach komplett verschwinden. Wenn du zurück bist, sind sie vielleicht schon weg.«

Er nahm sie in die Arme und küsste auch sie auf die Stirn. »Ihr bedeutet mir beide sehr viel.«

»Du Dummer«, erwiderte sie. »Glaubst du etwa, das wüsste ich nicht? Jetzt geh, oder es passiert wirklich noch etwas Schlimmes.«

Basim ging durch die engen, aber gepflegten Gassen, die die Wohnanlage der Palastwachen und ihrer Familien durchzogen. Als er den Eckladen des Schusters Selim passierte, hörte er den kläglichen Ruf einer Katze und kehrte zurück, um nach ihr zu sehen. Neben dem Laden stand wie am Ende jeder Gasse ein Verschlag, in dem das Getreide für die Bewohner lagerte. Basim hob den Riegel. Als er hineinspähte, schoss wie ein zorniger Dschinn aus der Hölle eine Katze heraus und schnürte durch die Gasse nach Hause.

Basim verließ die Wohnanlage. Während er über den großen Platz der Märtyrer ging, schwangen nach dem Morgengebet die Tore von al-Suliman Midan auf. Männer strömten heraus. Basim ging schneller. Er war spät dran. Normalerweise hatte er den Platz bereits überquert, wenn die Gläubigen auseinanderliefen.

Als er beim Palast ankam, war es hell. Er war zwei Tage lang weg gewesen und hatte nun zehn Tage Dienst vor sich, bevor er Heba und den Frosch wiedersehen würde.

Zumindest dachte er das.

KAPITEL 2
Das Mädchen

Die See war leer. Nur blaues Wasser, die Sonne in den Augen des Mädchens, das endlose Knarzen des Schiffs, der Knall, mit dem sich das große Lateinsegel unter jeder Windböe blähte, und das weiße Kielwasser, das wirbelnd hinter ihnen zurückblieb, während sie Tumanbay entgegenflogen.

Es war alles so unfair!

Sie lehnte an der Reling, direkt neben der drehbaren Messingkanone. Vielleicht würden Piraten das Schiff überfallen, und für das Mädchen begänne ein Leben voller Abenteuer. Alles wäre besser, als die Frau eines Händlers in einer Stadt zu sein, die sie nicht kannte, in einem Land, in dem sie nicht sein wollte. Ja, wäre sie doch bloß eine Piratenkönigin mit einer eigenen Mannschaft, blutgetränkte Schurken, die das Mittelmeer drangsalierten. Doch so etwas passierte nur in Geschichten, und wenn es doch in Wirklichkeit geschah, dann bestimmt nicht den Töchtern von Händlern. Außerdem gab es keine Piraten mehr. Tumanbay achtete darauf, dass alle seinen Gesetzen gehorchten, und ihr Vater hatte ihr versichert, dass die Marine der Stadt auf den Meeren für Frieden sorgte. Aber wer wollte Frieden? Händler und vermutlich die Ehefrauen von Händlern. Es war nicht fair, es war einfach nicht fair.

Hinter dem Mädchen bellte der Kapitän einen Befehl, und die Seeleute kletterten in die Wanten, um die Segel zu trimmen. Das Segeltuch knatterte im Wind, der Steuermann lehnte sich auf das große Rad, und das Schiff begann beizudrehen. Der Bugspriet wanderte so lange am Horizont entlang, bis er schließlich auf einen Flecken Land wies.

Sie konnte nicht einmal aufs Meer fliehen – ein Mädchen durfte nicht Matrosin werden. O nein, sie musste zu Hause bleiben und tun, was man ihr sagte, und … heiraten … wen? Was, wenn er abscheulich oder alt oder vielleicht sogar beides war? Ihr Vater hatte geschrieben, er wäre ein »feiner junger Mann«, doch das Mädchen wusste nur zu gut, welche Art Jungs er für »fein« hielt. Sie blickte auf das vorbeiziehende Meer. Vielleicht wäre es das Beste zu springen. Gleich hier und jetzt. Das würde ihnen allen eine Lehre sein!

Das Mädchen stieg auf das … sie wusste nicht, wie es hieß … das Eisending, an dem sie die Taue festbanden, und beugte sich weit über die Seite. Die Sonne zeichnete schwindelerregende Muster auf die Wellen. Sie schob sich noch ein Stück höher hinauf und weiter hinaus …

»Was machst du da ohne Umhang? Die Sonne und der Wind werden dich noch …«

Zu spät! Sie stieg wieder auf das Deck hinunter.

»Und lehn dich nicht so weit hinüber, sonst fällst du noch ins Meer, und wo wärst du dann?«

»Im Meer, Mutter.« Wenn es doch nur so wäre!

Die Mutter des Mädchens seufzte entnervt. »Zieh das über.«

»Mir ist heiß. Ich brauche keinen Umhang.«

»Doch, tust du.«

Ihre Mutter musste ihr nicht erklären, wieso sie es wollte. Dass die Mannschaft und der Kapitän ihre Tochter beäugten, war ihr offensichtlich zutiefst zuwider. Außerdem kannte sie den genauen Wert jeder Ware und wollte nicht, dass der blasse Teint des Mädchens vor dem Abschluss des Geschäfts gebräunt und von der Witterung aufgeraut wurde. Sie drapierte den Umhang über die Schultern des Mädchens und führte sie am Arm zum Heck, wo sie das schaumige Kielwasser und vom Himmel herabschießende Seevögel betrachteten. Die Tiere tauchten nach Küchenabfällen, die jemand durch ein Bullauge unter ihnen ins Meer kippte. Mutter und Tochter standen wortlos nebeneinander, das Mädchen war fest entschlossen, das Schweigen nicht als Erste zu beenden.

Schließlich fragte ihre Mutter: »Wirst du mit mir sprechen?«

»Ich spreche doch mit dir, Mutter.«

»Du weißt, was ich meine. Du bist seit unserem Aufbruch schlecht gelaunt. Möchtest du denn Tumanbay nicht sehen? Es ist die großartigste Stadt der Welt.«

Diesen Vortrag hatte das Mädchen schon so oft gehört, dass sie stumm die Lippen mitbewegte, während ihre Mutter sprach. Ja, einerseits wollte sie die Stadt sehen …

»Aber nicht so«, platzte es aus ihr heraus.

Sie wusste, was ihre Mutter dachte: Wenn das Mädchen erst einmal verheiratet wäre, würde sie schon zur Ruhe kommen. Aber sie wollte nicht zur Ruhe kommen. Es gab so vieles, worüber sie in der Bibliothek ihres Vaters gelesen hatte – Burgen auf Berggipfeln, Gewürzstädte, das große Binnenmeer, Reiter, die zu Tausenden durch die Prärie zogen –, und nun würde sie niemals etwas davon zu Gesicht bekommen. Stattdessen würde sie in einem goldenen Käfig …

»Und was ist mit deinem Vater? Willst du ihn denn nicht wiedersehen?«

»Natürlich will ich. Nur nicht so.«

»Nicht wie?«

»Du verstehst mich schon, Mutter.«

Die beiden hatten diese Unterhaltung bereits Hunderte Male geführt und drehten sich dabei immer nur im Kreis.

»Dein Vater sagt, dass er ein feiner junger Mann ist. Vertraust du deinem Vater etwa nicht?«

Natürlich nicht, wollte das Mädchen schreien, nicht, wenn es um Jungs geht. Doch stattdessen sagte sie: »Natürlich vertraue ich ihm, ich möchte nur nicht …«

»Na, siehst du«, sagte ihre Mutter. Das war ihre Standardantwort, die das Mädchen bis zum Tag der Vertragsunterzeichnung sicher noch oft zu hören bekommen würde.

Sie wollte gerade zu ihrer üblichen Erwiderung ansetzen, als ein durchdringendes Quietschen ertönte und die am weitesten von ihnen entfernte Decksluke aufschwang. Einen kurzen Moment lang stieg ihr ein schrecklicher Gestank in die Nase, dann wurde er vom Wind fortgerissen. Das Mädchen lief zur Reling vor dem Steuerruder, von wo es auf das Deck hinunterblicken konnte.

»Warte …«, rief ihre Mutter und folgte ihr nach, während zwei vierschrötige Seemänner jemanden aus der Dunkelheit heraufzerrten: einen großen, dunkelhäutigen Mann, der nur eine Kniehose trug. Seine Handgelenke waren vor dem Körper zusammengekettet. Er blinzelte ins Sonnenlicht, das ihn nach der langen Zeit unter Deck so stark blendete, dass er stolperte und hinfiel. Seine Begleiter rissen ihn brutal vom Boden hoch und trieben ihn zum Fuß des großen Hauptmasts. Dort banden sie ein Tau an seine Handschellen und holten es kurz, bis er mit den Händen über dem Kopf daran baumelte.

»Ihr solltet in eure Kabine gehen, meine Damen«, knurrte der Kapitän.

»Warum, was passiert hier?«, fragte das Mädchen.

»Nichts, was euch bekümmern müsste. Wenn ihr bitte …«

»Es macht uns nichts aus«, schnaubte die Mutter des Mädchens. »Ich sehe nicht zum ersten Mal, wie ein Sklave gezüchtigt wird, Kapitän. Das gehört zum Geschäft.«

»Aber vielleicht deine Tochter …?«, gab der Kapitän zu bedenken.

»Unsinn. Es wird Zeit, dass sie sich mit den Realitäten unseres Lebens vertraut macht. Sie wird ebenfalls zusehen.«

Wenn es etwas gab, das sie in ihre düstere Kabine zurückzutreiben vermochte, dann war es die Anweisung ihrer Mutter, sich nicht vom Fleck zu rühren, doch irgendetwas an dem Sklaven fesselte ihre Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich seine Furchtlosigkeit, aber auch die Tatsache, dass er sich nicht zur Wehr setzte. Stattdessen hing er bloß da, umfasste mit seinen kräftigen Händen die Kette und zog sich mit angespannten Oberarmmuskeln ein winziges Stück in die Höhe, damit ihm die Eisenbänder nicht ganz so tief in die Handgelenke schnitten.

»Was glaubst du, was er getan hat?«, flüsterte das Mädchen.

»Das spielt keine Rolle«, erwiderte ihre Mutter. »Manchmal ist es einfach nötig.«

»Macht Vater das mit seinen Sklaven auch?«

»Natürlich, anders geht es nicht.«

Der Sklave zuckte unter einem entsetzlichen Peitschenhieb zusammen. Das Mädchen schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Blut und Fleischfetzen spritzten aus dem Rücken des Sklaven. Doch er gab keinen Ton von sich, während sich die Peitsche hob und senkte. Sein Gesicht war starr und zeigte weder Wut noch Furcht, als wäre er weit weg und hätte nichts mit alldem zu tun.

»Wieso schreit er nicht? Es ist, als wäre es ihm egal. Wie kann ihm das egal sein?«

»Sie kommen aus einer unzivilisierten Welt und spüren den Schmerz nicht so wie wir. Sie sind Barbaren.«

»Aber wozu soll das dann gut sein, Mama?«

»Was meinst du?«

»Wenn er es nicht spürt, was bringt es dann, ihn auszupeitschen?«

Der Seemann mit der Peitsche hielt inne und rief zum Achterdeck hinauf: »Reicht das, Herr?«

Die Antwort des Kapitäns überraschte das Mädchen nicht. »Mach weiter.«

Tränen verschleierten ihr den Blick. »Genug, genug …«

Der Kapitän sah sie nachdenklich an. Dann nickte er. »Es reicht. Lasst ihn herunter.«

Sie senkten das Tau ab. Der Sklave ließ die Arme sinken und stand breitbeinig auf dem Deck, als wäre nichts geschehen. Als hätten die blutigen Fleischstücke um ihn herum, die nun mit mehreren Eimern Seewasser weggewaschen wurden, genauso wenig mit ihm zu tun wie die weißen Knochen, die in seinem zerfetzten Rücken schimmerten. Ohne irgendjemandem Beachtung zu schenken, drehte er sich um, ging zu der offenen Luke zurück und stieg wieder hinunter.

Das Mädchen fragte sich, wie er das schaffte – sich nicht zu rühren, während sie ihn auspeitschten, und seine Peiniger anschließend anzusehen, als wären sie diejenigen, die bestraft worden waren.

Wenn sie sich doch bloß mit ebenso viel Mut gegen ihre Mutter und ihren Vater behaupten könnte … wenn sie ihnen die Stirn bieten und nein sagen könnte! Aber sie schaffte es ja nicht einmal, sich ins Meer zu stürzen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte. Sie war ganz einfach ein Feigling.

Ihre Mutter hustete – wie so oft in letzter Zeit. »Ich bin müde«, sagte sie gereizt. »Komm und lies mir etwas vor, während ich mich ausruhe.«

KAPITEL 3
Ibn Bai

Ibn Bai hatte sich immer für einen vernünftigen Mann gehalten, doch als sein Baumeister ihm weitere Verzögerungen in Aussicht stellte, merkte er, dass er allmählich die Geduld verlor. »Niemand hat voraussehen können, dass sich in der Wand ein Riss bilden würde, der die Arbeiten so weit zurückwirft, Effendi. Wir werden einfach weiterhin unser Bestes geben, der Rest liegt in Gottes Hand.«

Ibn Bai war danach, dem Baumeister zu sagen, dass er das Problem durchaus hätte voraussehen können, als er zu viel Gewicht auf eine Wand packte, die offensichtlich nicht für eine derart große Last ausgelegt war, und dass er dementsprechend seinen Arbeitslohn reduzieren und Überstunden machen müsse, um den Schaden zu beheben, den er an Ibn Bais schönem neuem Haus angerichtet hatte. Aber natürlich würde er nichts sagen, nicken, zustimmen und fragen, wann die Arbeiten voraussichtlich abgeschlossen sein würden. Denn in Tumanbay grenzte es an ein Wunder, einen einigermaßen guten Baumeister zu finden, und wenn man einen hatte, verscherzte man es sich besser nicht mit ihm.

»Also sag, Arem Effendi, wie lange wird es dauern, die Wand zu reparieren und die zusätzlichen Stützen für den Balkon anzubringen?«

Arem, ein dünner, aber erstaunlich kräftiger Mann, beugte die Finger und grinste. »Nur ein oder zwei Tage, Effendi. Die Kosten für die Stützträger kommen natürlich noch obendrauf, aber ich weiß, wo ich sie zu einem guten Preis bekommen kann. In Ordnung?« Er verstummte und wartete mit geneigtem Kopf auf Ibn Bais Antwort.

»Ja natürlich, mach es so.«

»Dann bist du uns beim nächsten Sichelmond los.«

»In drei Wochen?«

Arem zuckte die Achseln. »Natürlich nur, wenn nichts mehr dazwischenkommt.«

»Was sollte denn jetzt noch dazwischenkommen?«, fragte Ibn Bai, der zunehmend gereizt wurde.

»Nun … neulich war das Wasser im Brunnen von al-Dar rot.«

»Und?«

»Sie sagen, das heißt, dass man mit Blut rechnen muss.«

»Sie sagen alles, was ihnen gerade durch ihre hohlen Köpfe geht. Sie behaupten auch, im Palast gäbe es Giraffen! Mir geht es mehr um praktische Fragen. Meine Frau und meine Tochter können jeden Tag hier eintreffen. Ich hatte gehofft, das Haus wäre bis zu ihrer Ankunft fertig – gestrichen und möbliert.«

Arem saugte an den Zähnen. »Das liegt in Gottes Hand.«

Ibn Bai erkannte, dass damit der Zeitpunkt gekommen war, den sie beide bereits seit einer Weile umkreisten – der Augenblick des endgültigen Geschäftsabschlusses. »Da, wo ich herkomme«, sagte er, »ist es üblich, bei vorzeitiger Fertigstellung einen Bonus zu zahlen. Um die Fähigkeiten des Baumeisters und seine Bemühungen für den Kunden zu würdigen. Den bekämst du natürlich auch.« Nun saugte Ibn Bai an den Zähnen und wartete.

Der Baumeister nannte einen Betrag, dem Ibn Bai zustimmte, dann lächelten sie und besiegelten ihre Einigung per Handschlag. Anschließend kehrte der Baumeister zu seinen Männern zurück. Ibn Bai hörte, wie er sie wegen ihrer Faulheit und ihrer schlampigen Arbeitsweise ausschimpfte und sie drängte, in nur sieben Tagen mit allem fertig zu werden. Er hatte das Geld für den Bonus von Anfang an einkalkuliert und ohnehin ein Drittel weniger für den Bau des Hauses ausgeben müssen als erwartet. Da Ibn Bai nun ein wenig besserer Stimmung war, beschloss er, mit dem Wagen zum Hafen zu fahren und sich nach seinem Schiff zu erkundigen. Vielleicht entdeckte er dabei ja auch etwas, das sich zu kaufen lohnte.

Ehe Ibn Bai vor sechs Monden nach Tumanbay aufgebrochen war, um sich dort häuslich niederzulassen und ein Geschäft zu gründen, hatte er viel über die Stadt gelesen. Die meisten Beschreibungen priesen den gewaltigen Schutzwall auf der Landseite, der sich in jeder Richtung weiter erstreckte, als das Auge reichte, sowie die vier massiven Eichenholztore, die mit Metallbändern verstärkt und mit Messingspitzen bewehrt waren und Tag für Tag im Morgengrauen geöffnet und bei Sonnuntergang wieder geschlossen wurden. Die Stadtmauer war ohne Zweifel ein beeindruckender Anblick und galt als eines der Weltwunder, doch Ibn Bai bevorzugte die andere Seite von Tumanbay, den Hafen, von wo man auf den Golf der Winde und das dahinterliegende Mittelmeer blickte.

Der Hafen war das Erste, was viele Neuankömmlinge von Tumanbay sahen. Auch bei Ibn Bai war es so gewesen, als er an Deck einer im Wind krängenden Dau an den langen Molen entlanggesegelt war, die drei Wegestunden oder weiter in den Golf hineinragten und sich zu einer Hafeneinfahrt verjüngten, durch die höchstens fünf Schiffe gleichzeitig passten. Die beiden Festungen an den Enden der Molen waren durch eine riesige Kette miteinander verbunden, die unter der Meeresoberfläche verlief und im Notfall quer über das Wasser gespannt werden konnte, damit der Hafen komplett abgeschlossen war.

Bei seiner Ankunft hatte Ibn Bai gedacht, dass er trotz der vielen Küstenstädte, in denen er Handel getrieben hatte, noch nie zuvor in einem Hafen mit so vielen Schiffen gewesen war. Der Ausdruck »ein Wald aus Masten«, den er einmal in einer Geschichte gelesen hatte, kam ihm in den Sinn, und ihm wurde klar, dass er hier vollkommen zutreffend war: Die Masten ragten zu Tausenden aus den Decks unzähliger Schiffe auf – Daus, Triremen, bauchige Handelsschoner, stattliche Galeonen, kleine Fischkutter und große Fangschiffe, mit denen man die riesigen Ungeheuer des Mittelmeers jagen konnte. Und dazwischen fuhren Begleitschiffe und Ruderboote hin und her, wie Insekten, die über einen Teich tanzten. Sie beförderten die zahlreichen Männer und Frauen, die hier ihren Geschäften nachgingen und deren Sachverstand und Tüchtigkeit diese gewaltige Maschinerie am Laufen hielt. Es war aufregend. Ibn Bai hatte sich zehn Jahre jünger gefühlt. Es gab nichts auf der Welt, das nicht in dieser riesigen Handelsarena gefunden, gekauft und weiterverkauft werden konnte, und er wollte dabei mitmischen.

Und genau das tat er nun. Während der sechs Monde, die er seitdem in der Stadt war, hatte er nicht nur ein altes Haus gekauft, das er praktisch neu erbauen ließ, sondern auch ein Netz aus Kontakten geknüpft und eine anständige Ehe arrangiert. Seltsamerweise erwähnte seine Frau Illa in ihren Briefen nicht, wie sehr sich seine Tochter auf die bevorstehende Hochzeit freute. Wollte nicht jedes junge Mädchen so schnell wie möglich heiraten? Er hatte gute Geschäftsräume gefunden und machte sich einen Namen auf den Sklavenmärkten. Da er mit seinen alten Geschäftspartnern jenseits des Mittelmeers Handel trieb, machte er bereits jetzt Gewinn. Sobald die Hochzeit vollzogen war und er mit einem einheimischen Händler kooperierte, würde er sicher auch hier bald sehr erfolgreich sein.

Im Büro des Hafenmeisters herrschte wie immer großer Andrang, und Ibn Bai musste eine Sanduhr lang warten (und außerdem wie in Tumanbay üblich ein Bestechungsgeld zahlen), bis er den Schreiber sehen und ihn fragen konnte, ob die Festungen und Beobachtungsposten entlang der Küste sein Schiff, die Möwenschwinge, gesichtet hätten.

»Aus Cyrene, sagst du?«

»Ganz genau, Effendi. Wenn die Winde günstig stehen, könnte sie in weniger als sieben Tagen hier sein.«

Der Schreiber blätterte die Berichte der Kuriere durch, die permanent an der Küste auf und ab ritten und die Festungen über die herannahenden Schiffe informierten.

»Möwenschwinge? Ist nicht dabei. Sobald sie den Verrückten Sultan passiert, werden wir vermutlich von ihr hören. Komm nächste Woche wieder.«

»Ich habe Fracht an Bord.«

Der Schreiber bedachte ihn mit einem blasierten Blick. »Natürlich. Jeder, der herkommt, um sich zu erkundigen, hat Fracht an Bord. Und weißt du, was sie alle wollen?«

Ibn Bai gefiel der Ton des Mannes nicht, aber er wollte ihn nicht gegen sich aufbringen. »Nein, was wollen sie?«

»Du willst wie jeder andere auch, dass ich vorab deine Dokumente abstemple, damit deine Ladung sofort gelöscht werden kann, wenn sie eintrifft. Korrekt?«

»Ganz recht. Aber weißt du, meine Frau und meine Tochter sind auf dem Schiff, und ich hoffe …«

»Das tue ich auch.« Der Schreiber seufzte. »Ich hoffe von ganzem Herzen, dass deine Frau und deine Tochter gut hier ankommen, aber bis es so weit ist, wirst du dich genau wie alle anderen gedulden müssen. Und wenn dein Schiff eintrifft, werde ich oder ein anderer Schreiber seine Ladung begutachten und mit dem Frachtbrief vergleichen. Du wirst ihn unterzeichnen, und dann stempeln wir ihn ab. Gibt es sonst noch etwas, bei dem ich dir behilflich sein kann?«

»Nein, vielen Dank, Effendi. Ich wünsche dir einen guten Tag.« Ibn Bai bahnte sich einen Weg aus dem Büro. Seine gute Laune war verpufft. Er war wütend auf sich selbst – nicht weil sein Versuch, die Formalitäten zu umgehen, ergebnislos geblieben war, sondern weil er keine Ahnung hatte, wie es ging. Er wusste genauso gut wie der Schreiber, dass die Möglichkeit grundsätzlich bestand, doch seit seiner Ankunft hatte er noch nicht herausgefunden, wie es ging, und bislang war er noch niemandem begegnet, der es ihm erklären konnte. Er brauchte einen Förderer. Denn nur so machte man Geschäfte: Man suchte sich jemanden mit Macht, machte ihm klar, dass man ihm eines Tages nützlich sein konnte, und profitierte im Gegenzug von seinem Einfluss. Nun ja, irgendwann würde er so jemanden schon noch finden. Schließlich war er, wie er sich erst an diesem Morgen wieder in Erinnerung gerufen hatte, ein geduldiger Mann. Ibn Bai entschied sich, über den Hafenmarkt zu gehen und die Auslagen zu betrachten. In Tumanbay gab es rund fünfzig Märkte, aber hier am Hafen hatte er als Erstes Handel getrieben und tat es nach wie vor besonders gern.

Wie üblich nahm er den Markt zuerst mit der Nase wahr: den Gestank von Körpern, Exkrementen und verdorbenem Essen. Dazu wurde noch Weihrauch abgebrannt, um die üblen Gerüche zu überdecken, doch das funktionierte nicht. Er nickte zwei Händlern zu, die neben Käfigen standen. Darin sah er schweigende, verwirrte und aufsässige, aber auch enthusiastische Sklaven, die auf ihre Vorzüge aufmerksam machen wollten. Die wirklich wertvollen Sklaven wurden in der Regel auf den größeren Märkten in der Stadt angeboten, aber im Hafen konnte man durchaus das eine oder andere Schnäppchen machen.

»Wonach suchst du?«, fragte einer der Händler.

Ibn Bai wurde bewusst, dass er auffällig lange in einen der Käfige geschaut hatte.

»Jemanden für den Haushalt oder für schwere Arbeiten?« Der Händler näherte sich ihm.

»Ich suche nichts«, antwortete Ibn Bai. »Ich sehe mich nur um.«

»Natürlich«, erwiderte der Händler und trat ein paar Schritte zurück. »Bitte … lass dir Zeit.«

Der Mann war ein typischer Verkäufer – er kaute Paan und spuckte es aus, und seine Haare waren unnatürlich rot. Unter den älteren Händlern in Tumanbay war es derzeit Mode, sich die Haare mit Henna zu färben, um jugendlicher und männlicher zu wirken. Ibn Bai fand es schrecklich.

»Wenn du etwas wissen willst, frag mich nur«, fügte der Händler hinzu und blieb in der Nähe, um ihm sofort behilflich sein zu können.

Ibn Bai spähte in den Käfig. Ein Mädchen erwiderte seinen Blick mit angstgeweiteten Augen … oder taxierte sie ihn etwa? Er verwarf den Gedanken. So etwas taten nur die Händler. Sie barg einen Säugling an der Brust und hatte ein grobes Unterhemd an, das an ihr jedoch wirkte, als wäre es einmal ein viel feineres Kleidungsstück gewesen. Ibn Bai bemerkte Abdrücke von Ringen an ihren Fingern, und er sah, dass ihre Ohrläppchen durchstochen waren. Hinter dem Mädchen stand ein junger Mann, der ihn ruhig ansah. In seinen Augen standen weder Angst noch Hoffnung.

»Ich heiße übrigens Mitra«, sagte der Händler. »Ich habe die beste Ware auf dem Markt. Da kannst du jeden fragen.«

Ibn Bai schnalzte missbilligend mit der Zunge und ging weiter an der Käfigreihe entlang.

Mitra folgte ihm. »Ich habe vier Sklaven aus dem Asirgebirge«, sagte er und zeigte in einen der Käfige. »Sie sind ziemlich selten. Genügsam, kinderlieb. Und sie lernen schnell.«

Ibn Bais Blick glitt in den Käfig neben ihm, wo drei Jungs standen und ihn anstarrten. Ihre Körper waren sehnig und gesund, die Mienen trotzig. »Sie sind bereits für die Armee gekennzeichnet und kamen über Villeppi hierher.«

Sie waren noch Kinder, und Ibn Bai fragte sich, wie sie in diese Situation geraten waren.

»Sie sind Freiwillige«, sagte Mitra, als hätte er Ibn Bais Gedanken gelesen.

»Freiwillige?«

»Das Leben in den Bergen dort ist schwer, und viele Menschen überlassen ihre Kinder den Elementen. Das ist in dieser Gegend so Brauch. Die Starken überleben, und die Schwachen … nun, die Schwachen nützen niemandem etwas, daher ist es besser, dass sie …« Er zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Für dich sind sie nicht das Richtige, mein Freund. Aber diese vier hier …«

»Ich bin heute wirklich nicht auf einen Kauf aus.«

»Natürlich, natürlich«, erwiderte Mitra fröhlich. »Aber sieh dir mal …« Er schnippte mit den Fingern. Ein Gehilfe kam mit einem Schlüsselring herbeigerannt und sperrte einen Käfig auf. »Du wirst begeistert sein«, versprach Mitra.

»Nein, ich habe es dir doch gesagt: Ich habe kein Interesse«, entgegnete Ibn Bai nachdrücklich.

Der Gehilfe hielt inne und sah fragend seinen Meister an. Mitra zuckte die Achseln und wandte sich bereits zu einem anderen möglichen Kunden um, als Ibn Bai noch einmal auf den ersten Käfig deutete.

»Aber diese beiden hier … ihre blauen Augen. Woher stammen sie?« Ibn Bai ging erneut auf den Käfig zu.

Das Mädchen sah ihn an.

»Ist das ihr Kind?«

»Man kann sie mit oder ohne den Säugling kaufen. Kein Problem.«

»Verstehen sie uns? Sprechen sie unsere Sprache?«

»Das müsstest du selbst herausfinden. Ich konnte nichts aus ihnen herausbekommen.«

Ibn Bai spürte, dass die beiden keine gewöhnlichen Sklaven waren. »Lass mich einen Moment allein«, sagte er und winkte Mitra fort.

»Natürlich. Solange du willst. Geh aber nicht zu nah an den Käfig heran, hörst du?« Damit eilte er zu seinem Gehilfen, der gerade für einen anderen Interessenten einen Käfig aufsperrte.

Ibn Bai winkte das Mädchen mit dem Finger zu sich her. »Du da, komm näher.« Sie rührte sich zwar nicht vom Fleck, aber er sah ihren Augen an, dass sie ihn verstand. »Schon gut. Du willst dein Kind behalten. Das verstehe ich, ich habe auch ein Kind. Komm her …«

Das Mädchen machte ein paar zögerliche Schritte.

»Du bist etwas ganz Besonderes, nicht wahr?«, fragte er. »Du hast an deinem linken Mittelfinger einen Ring getragen. Du bist gebildet. Schon gut – ich werde es niemandem erzählen. Aber so etwas fällt mir auf.«

Das Mädchen blieb unbewegt stehen und sah ihn mit ihren auffallend blauen Augen ausdruckslos an.

Ibn Bai wandte sich dem Mann zu, der weiter hinten in der Dunkelheit wartete. »Was ist mit dir?« Ibn Bai drückte das Gesicht an den Käfigdraht, um besser hineinsehen zu können. »Seid ihr miteinander verwandt? Bist du der Vater des Kindes?« Der Sklave kam langsam näher.

»So ist’s recht«, ermutigte Ibn Bai ihn. »Komm, du kannst mit mir sprechen. Wer bist …?«

Er konnte den Satz nicht beenden, da der Sklave in diesem Moment brüllend auf ihn zusprang und sich mit gefletschten Zähnen am Käfigdraht festkrallte. Ibn Bai war so entsetzt, dass er zurückstolperte und hinfiel. Mitra und sein Gehilfe eilten herbei und trieben den Sklaven mit ihren Stöcken zurück.

»Geht es dir gut?«, fragte Mitra, als die Lage wieder unter Kontrolle war und er Ibn Bai aufhalf. »Hat er dich angefasst?«

»Nein«, sagte Ibn Bai und strich sich Sand und Dreck von der Kleidung.

»Ich habe dich gewarnt.«

Im Käfig legte das Mädchen dem Sklaven eine Hand auf den Arm. Er beruhigte sich und wich in den Schatten zurück.

»Wenn ich ihn nicht zähmen kann, werde ich ihn wohl oder übel an die Betreiber der Kampfgruben verkaufen müssen«, murmelte Mitra. »Das bringt nicht so viel Geld, aber …«

»Ich glaube, ich kann ihn zähmen«, sagte Ibn Bai.

Mitra fuhr zu ihm herum, und auch sein Gehilfe starrte Ibn Bai erstaunt an.

Ja, dachte Ibn Bai und sah wieder in den Käfig hinein, sie waren eindeutig etwas Besonderes.

Niemand beachtete Ibn Bais Wagen, während er mit dem Käfig auf der Ladefläche durch die schmalen Gassen des Hafenviertels zur großen Hauptstraße rollte, die so breit wie ein Dutzend Elefanten im Kreis um den Stadtrand herum verlief und von all den kleineren Verkehrsschlagadern Tumanbays gekreuzt wurde. Die neuen Sklaven kauerten hinter ihm und hielten sich an den Gitterstäben fest. Keiner der beiden hatte ein Wort gesprochen, seit Mitra sie in ihre neue Zelle getrieben hatte. Selbst nach all den Jahren in diesem Geschäft machte es Ibn Bai immer noch nervös, dass sie hinter ihm hockten und er nicht sehen konnte, was sie dort taten. Und so redete er, um seine Nerven zu beruhigen. Seine Frau Illa sagte immer, er rede zu viel, insbesondere mit den Waren, aber das war nun mal seine Art. Wenn möglich, versuchte er es mit Freundlichkeit und Ermutigung. Bestrafungen waren für ihn immer nur der letzte Ausweg.

»Ihr habt Glück … dass ich euch gekauft habe. Ich habe Kontakte zum königlichen Palast. Ihr werdet einen guten Preis erzielen, weil ihr gebildet seid. Mit Bildung kann man alles erreichen. Deswegen bin ich hier. Ich weiß Verschiedenes. Und ihr auch. Daher werdet ihr wahrscheinlich euren Weg machen.«

Er verstummte. Als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Ich bin neu hier, wenn auch nicht so neu wie ihr, aber ich habe bereits das eine oder andere gelernt, und das ist wichtig in Tumanbay. Ihr wisst, dass das Reich von Sklaven regiert wird … na ja, sie kamen als Sklaven, aber jetzt herrschen sie hier. Hier sind alle Sklaven. Also, bis auf mich. Ich bin ein freier Mann. Ihr habt Glück – überall sonst würdet ihr ein Leben lang Sklaven bleiben. Hier könnt ihr mit der richtigen Einstellung alles werden … Ladenbesitzer? Das ist vielleicht nichts für euch. Ein General, ein Künstler, wenn ihr das Talent dazu habt, vielleicht sogar Sultan …« Er merkte, dass er plapperte. Illa hatte recht: Er sollte versuchen, den Mund zu halten. Ein Stück voraus hörte er den Verkehrslärm auf der großen Straße. Sobald sie dort waren, würde wegen des Staubs und des Krachs um sie herum kein Gespräch mehr möglich sein.

»Mein Kind?«

»Was? Was sagst du?« Er sah über die Schulter. Das Mädchen stand direkt an den Gitterstäben.

»Was wird aus meinem Kind?«

»Was ist es, ein Junge oder ein Mädchen?«

»Ein Mädchen.«

»Dann kann sie eine Puppe werden?«

»Was?«

Ihr Ton war ungewöhnlich scharf für eine Sklavin. Sklaven waren nicht fordernd. Er sah sich nach ihnen um. Der Mann lehnte an den Gitterstäben an der Rückseite des Käfigs und sah ihn gelassen an. Das Gesicht des Mädchens wirkte besorgt. Um sie herum wirbelte der erste Staub auf.

»Du weißt schon … die Prinzessinnen. Im Harem des Sultans. Sie brauchen Puppen. Zum Spielen. Vielleicht wird sie irgendjemandes Freundin. Eine gute Freundin, eine Vertraute. Aber wer weiß, vielleicht wird sie auch kaputtgemacht und weggeworfen. Das Leben hier ist ein Glücksspiel. Man kann viel gewinnen, aber es gibt keine Sicherheiten. Bedeck dein Gesicht, jetzt wird es staubig. Dem Kind auch.«

Sie tat wie geheißen. Der Mann sah ihn weiter ausdruckslos mit seinen kalten blauen Augen an. Als sie in das Getümmel auf der Hauptverkehrsstraße einbogen, dachte Ibn Bai, dass die beiden wirklich außergewöhnlich waren. Die Frage war nur, ob er daraus Gewinn schlagen konnte oder ob er sie zum Einkaufspreis oder vielleicht sogar noch darunter weiterveräußern musste. Und dann kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke … dass gar nicht er den Wagen steuerte, sondern in Wahrheit die beiden hinten im Käfig die Zügel hielten. Er schüttelte den Kopf – was für ein Unsinn – und wandte seine ganze Konzentration auf, um nicht mit einem Kamel zusammenzustoßen, das aus seiner Karawane ausgebrochen war und wie verrückt durch den Staub galoppierte, wobei die Ladung Steine auf seinem Rücken gefährlich auf eine Seite rutschte.

KAPITEL 4
Basim

Es war ein Tag wie jeder andere. Basim verbrachte den Vormittag im Ostflügel, dem Verwaltungsbereich der Palastwache, wo er den Dienstplan der kommenden Wochen erstellte und anschließend eine am Vortag eingetroffene Lieferung neuer Schwerter inspizierte, die er noch abnicken musste, bevor der Lieferant sein Geld bekam. Er war schon immer gut darin gewesen, sich um die Einzelheiten zu kümmern, die das Tagesgeschäft ausmachten. Aus diesem Grund war er von der regulären Armee in die Eliteeinheit der Palastwache versetzt worden. Er organisierte gern und freute sich, wenn er seine Arbeit gut machte.

Was Basim nicht mochte, waren unerledigte Aufgaben. Und so eine hatte er bereits den ganzen Vormittag vor sich hergeschoben: eine unangenehme Situation mit einem Palastschlachter, der im Verdacht stand, unter der Hand Fleisch zu verkaufen. Basim mochte den Mann und hoffte, dass an den Gerüchten nichts dran war, denn wenn sie stimmten, war dem Schlachter, der genau wie Basim eine junge Familie ernähren musste, der Tod so gut wie sicher.

Basim ging hinunter zum Fleischlager und traf den Schlachter bei der Arbeit an. Er unterhielt sich fröhlich mit zwei Gehilfen, nicht ahnend, dass gegen ihn ermittelt wurde und er demnächst abgeführt und verhört werden würde. Basim beobachtete die drei einen Moment lang. Der Schlachter durchtrennte einen Knochen mit einem Hackbeil. Er sagte etwas, und seine Gehilfen lachten laut. Basim fragte sich, ob das der letzte Scherz seines Lebens gewesen war.

Als er sich ihnen näherte, verstummten sie und senkten ehrerbietig die Köpfe.

»Akin«, sagte Basim, »ich muss etwas mit dir besprechen.«

Basim merkte, dass der Schlachter den Griff des Hackbeils fester umklammerte.

»Um was geht es, Effendi?«, fragte er mit einer Spur Feindseligkeit.

»Wir müssen die Bestellungen der nächsten Woche durchgehen.«

»Die stehen alle im Auftragsbuch.«

Basim ließ das Hackbeil nicht aus den Augen. War es klug gewesen, zu dieser Zeit und ohne Unterstützung hierherzukommen? Er dachte schon den ganzen Vormittag darüber nach, was der Frosch gesagt hatte. Was hatte er damit gemeint? Spiegelten seine Träume vielleicht die Wirklichkeit wider?

Der Schlachter bemerkte Basims Zögern. »Ich werde dich begleiten, wenn du möchtest«, sagte er und schlug wieder auf das Fleisch ein, »aber wir haben noch viel Arbeit vor uns, und zur Mittagszeit werden hier viele hungrige Offiziere auftauchen. Es ist deine Entscheidung.« Er hielt inne, rammte die Klinge des Hackbeils ins Schneidebrett und stellte sich herausfordernd vor Basim hin.

»Nein«, erwiderte Basim nach einem Moment. »Melde dich nach deiner Schicht im Wachbüro und frag nach mir, Offizier Basim. Und bring das Auftragsbuch mit.«

»Wie du willst, Herr«, erwiderte Akin missmutig.

Basim drehte sich um und ging den Steinkorridor entlang. Sein Schwert, mit dem er den Schlachter dazu hätte zwingen können, ihn zu begleiten, hing klappernd an seinem Gürtel. Das Küchenpersonal lachte jetzt sicher über ihn. Er war in seiner prächtigen Palastwachenuniform nichts als ein Pfau, ein Paradesoldat, machtlos, falsch.

Als er in den Wachraum zurückkehrte, sah er, dass seine Kameraden in Habtachtstellung standen, während Oberst Gregor, der Kommandeur der Palastwache, zusammen mit einem anderen Offizier ihre Reihe abschritt und sich aufmerksam umsah. Sein intelligenter und grausamer Blick blieb an Basim hängen.

»Wer bist du?«

»Offizier Basim, Oberst.«

Gregor musterte ihn einen Augenblick lang. »Übertrag den Posten an Offizier Basim«, sagte er schließlich zu seinem Begleiter. »Er scheint ein verlässlicher Mann zu sein.«

Dann ging er weiter an den Offizieren vorbei bis zur Tür am anderen Ende des Raums.