MARTIN HENDEL

(UN)PLANBAR

Ein Business-Roman:

Mit dem richtigen Mindset und einer abgestimmten Lieferkette zur erfolgreichen Supply Chain Führungskraft

1

Der Wecker klingelt. Ich drehe mich zur Seite, um zu sehen, wie spät es ist. Es ist 4:30 Uhr. Ich bin müde und mag nicht aufstehen – den Kopf voller Gedanken hat es erneut viel zu lange gedauert, bis ich am Sonntagabend einschlafen konnte. Seit Monaten schon muss ich montagmorgens so früh raus, da mein aktueller Job voraussetzt, dass ich innerhalb Europas mobil bin.

Ich bequeme mich aus dem Bett, gebe meiner Freundin Sophia einen Kuss auf die Wange und springe unter die Dusche. Die morgendliche Routine kommt in Gang und nach 30 Minuten bin ich gehbereit. Der Koffer und mein Rucksack sind wie immer gepackt. Das Gepäck überbrückt in der Regel eine Zeit bis donnerstagabends. Bevor ich unsere Wohnung in Schaffhausen verlasse, schreibe ich einen kleinen Notizzettel mit einer Nachricht und befestige diesen mit einem Klebestreifen an der Wohnungseingangstür. Dort hängen bereits dutzende andere Zettel. Von Weitem sieht die Tür nicht mehr nach Holz, sondern wie frisch tapeziert aus. Das Zettelschreiben ist eine Art Routine und ein liebevoller Gruß, da ich ein schlechtes Gewissen habe, die ganze Woche über unterwegs zu sein. Heute fällt es mir besonders schwer, schöne Worte zu finden, da wir uns gestern Abend gestritten haben. Mir fällt auf, dass ich oft unausgeglichen bin und der Druck sonntags vor der neuen Arbeitswoche zunimmt. Mir gefällt mein Leben, aber ich bin unzufrieden, da ich immer weniger selbstbestimmt bin. Zumindest bilde ich mir das zurzeit ein. Auf dem Zettel steht:

Für die Welt bist Du irgendjemand. Aber für mich bist Du die Welt. Es tut mir leid. Hab‘ eine schöne Woche. Kuss, Gabriel

Das ist ziemlich kitschig, ich weiß. Aber das gehört eben auch zu meiner Persönlichkeit.

Ich schließe die Tür und gehe in die Tiefgarage zu meinem Auto. Auf der Fahrt Richtung Flughafen Zürich kann ich es kaum erwarten, im Flugzeug etwas Schlaf nachzuholen.

Glücklicherweise haben wir diverse Firmenparkplätze am Flughafen gemietet, so muss ich nicht nach einem Parkplatz suchen und gewinne an Zeit. Meistens komme ich auf den letzten Drücker. Zu meinem Erstaunen habe ich bei über einhundert Flügen im Jahr noch keinen einzigen verpasst – selbst als ich vor einigen Wochen für circa zehn Minuten im Flughafenaufzug stecken geblieben bin. Das Auto abgestellt, gehe ich Richtung Abflughalle. Auf einem der unzähligen Monitore schaue ich nach dem 6:40 Uhr Flug nach Amsterdam, suche nach der Flugnummer KL 1952. Nachdem ich das Gate ausfindig gemacht habe, gehe ich durch den Security Check – ich bin bereits eingecheckt und habe nur Handgepäck dabei. Am Gate angekommen, kann ich bereits das mit blauen Großbuchstaben bedruckte Flugzeug von KLM Royal Dutch Airlines besteigen. Nachdem ich das Gepäck verstaut und meinen Platz eingenommen habe, schlafe ich ein und wache erst mit dem Rütteln des Flugzeugs bei der Berührung der Landebahn in Schiphol, Amsterdam auf. Ich verlasse den Flughafen mit dem Zug Richtung Rotterdam. Ich mag diese gelb-blauen Doppelstockzüge. Im Zug fange ich an zu arbeiten, lese diverse E-Mails und treffe einige Vorbereitungen für den Tag. In Rotterdam nehme ich ein Taxi Richtung Fabrik, die in der Nachbarschaft des Stadions vom lokalen Fußballverein Feyenoord Rotterdam liegt.

Ich bin bereits seit einigen Jahren regelmäßig in den Niederlanden und die Stadt Rotterdam gefällt mir unheimlich gut. Da ich aus einer deutschen Kleinstadt mit gerade einmal siebentausend Einwohnern entstamme, mag ich die Weltoffenheit und das pulsierende Treiben dieser Stadt. Die Fabrik liegt direkt am Wasser und über ihr thront die Landeshauptverwaltung meines Arbeitgebers in den Niederlanden. Die unzähligen Büros des einer Brücke nachempfundenen Bauwerkes schweben majestätisch über den historischen Produktionshallen.

Ich nehme den im Gegensatz zur Hauptverwaltung weniger luxuriösen Eingang und laufe schnellen Schrittes entlang der Produktionshallen, wähle das große Tor, durch das diverse Fördermittel und Gabelstapler ein- und ausfahren und betrete unser Großraumbüro. Das Büro ist eher rudimentär eingerichtet, wie so mancher Arbeitsplatz an einem Produktionsstandort, weniger glamourös, wenn ich dies mit den modernen Open Spaces der Hauptverwaltung vergleiche. Mir macht das nichts aus, denn die Leute, mit denen ich die Räumlichkeiten teile, machen den Unterschied. Nach einer netten Begrüßung und Small Talk über unsere Wochenenden mache ich mich an die Arbeit. Seit nunmehr sechs Monaten leite ich vorübergehend das Supply Chain Management des Standorts. Wir sind übrigens einer der größten Margarinefabriken der Welt. Ich hatte bereits über ein Jahr lang in den Niederlanden zwei Produktionsstandorte mit der Einführung neuer Unternehmensprozesse und einhergehender Implementierung einer neuen Produktionsplanungssoftware betreut. Von heute auf morgen wurde ich dann gebeten, neben dem Projekt die operative und fachliche Verantwortung der Supply Chain des Werkes zu übernehmen, als eine überraschende Personalentscheidung bezüglich meines Vorgängers gefällt wurde. Ich habe nicht lange überlegen müssen, da dies für mich mit meinen gerade einmal vierundzwanzig Jahren Lebenserfahrung eine großartige Chance darstellte. Dennoch sollte die Stelle durch mich nur temporär besetzt werden, da ich mich mit meiner Lebensgefährtin nicht auf einen Umzug in die Niederlande einigen konnte. Noch immer fühle ich mich etwas schwermütig bei dem Gedanken, diese Führungsrolle im Betrieb bald wieder abgeben zu müssen. Ich habe Gefallen an der Verantwortung für die Logistik, Produktionsplanung, Beschaffung der Komponenten und vor allem für das Team gefunden. Es erfüllt mich mit Freunde, die vielen Herausforderungen anzugehen, täglich dazuzulernen und mit den Kollegen kleine Erfolge zu feiern.

Als ich mein Notebook starte, springt mir eine E-Mail von Pieter Smith ins Auge. Der Inhalt ist kurz gefasst mit der Bitte um einen Anruf. Pieter ist eine meiner größten persönlichen Herausforderungen, aber zugleich starker Befürworter meiner Weiterentwicklung. Ohne zu zögern greife ich zum Telefon und wähle seine Nummer. Pieter nimmt ab, begrüßt mich mit seinem flämischen Akzent und fragt mich neckisch, warum der Anruf so lange auf sich hat warten lassen. Ihr müsst verstehen, dass Pieter das Spiel mit leichtem Druck auf sein Gegenüber auf das Äußerste beherrscht. Es ist eine Art Spaß, aber gleichzeitig ein Test, wie schlagfertig man darauf reagiert.

Gerne erinnere mich an mein Vorstellungsgespräch von vor zwei Jahren zurück. Mein erster Besuch in Rotterdam. Oh war ich aufgeregt, vor allem, weil ich bis dato wenig Kontakt mit Personen aus höheren Managementebenen hatte. Pieter holte mich an diesem Tag an der Pforte ab. Ich habe sofort an »Doc« Dr. Emmett Brown vom Film »Zurück in die Zukunft« denken müssen, als sich Pieter mir vorstellte. Es war ein kalter Tag und sein langer Mantel sowie sein graues Haar flatterten im Wind. Er grinste verschmitzt und mir fiel direkt die Mischung aus frechem Kindskopf und abgebrühtem Business-Man, ich schätzte sein Alter auf Ende fünfzig Jahre, auf. Auf dem Weg zu den Container-Übergangsbüros rauchte er eine Zigarre und wir hielten etwas Small Talk. Zu dieser Zeit durfte man noch an einigen Stellen auf dem Areal rauchen. Kaum angekommen, wurde ich erstmal in die Mangel genommen, da ich keine Krawatte zu meinem Anzug trug. Er meinte es ernst und ließ erst locker, nachdem ich eine vernünftige Erklärung geben konnte. Wobei ihm der Inhalt der Erklärung weniger wichtig war, als wie ich mit der kleinen Drucksituation umging. Über die Jahre fallen mir immer wieder diese kleinen Tests auf. Er wendet diese auch bei anderen Kollegen an, aber ich bilde mir ein, dass er dies besonders eifrig bei Mitarbeitern, in denen er gewisses Potenzial sieht, durchführt.

Zurück zum Telefonat. Pieter kommt direkt zum Punkt.

»Gabriel, wir haben eine Herausforderung in unserem tschechischen Werk, in der Nähe von Prag, und ich möchte, dass du als Expatriate das Management-Team dieses Standortes vervollständigst. Wir sind mit der Leistung des bisherigen Customer Service & Logistics Managers unzufrieden. Du wirst vorerst für ihn arbeiten, aber mittelfristig seine Position übernehmen. Wir investieren gerade viel Geld in den Standort, in neue Produktionsanlagen und -technologien, aber die Außenwahrnehmung und die Lieferperformance sind schlichtweg unterirdisch und müssen dringend verbessert werden.«

Ich unterbreche ihn.

»Ok, danke für das Vertrauen, aber kann ich bitte darüber nachdenken und weitere Details in Erfahrung bringen?«

»Ja, rufe doch bitte bei Mike Pence an, er kann dir einige Hintergründe und Details erklären. Morgen früh hätte ich gerne deine Rückmeldung. Du solltest bereits im nächsten Monat in Prag aufschlagen und mit deiner Einarbeitung beginnen.«

Wir beenden das Telefonat. Ich bin verwirrt. Eine Mischung aus Euphorie und Unsicherheit macht sich in mir breit. Der Rest des Arbeitstages vergeht wie im Autopiloten, da ich meine Gedanken nicht richtig sortieren kann.

Zwischendurch rufe ich Mike an. Er ist ein guter Arbeitskollege aus unserer Supply-Chain-Zentrale und kümmert sich um die zentrale Planung und Steuerung des globalen Werkverbundes sowie der Lieferanten und stimmt diese mit den Marktbedürfnissen ab. Wir kennen uns bereits seit über zwei Jahren und haben diverse Projekte gemeinsam umgesetzt. Daher bin ich mir sicher, eine objektive, aber auch ehrliche Einschätzung der Ausgangslage und Herausforderung des Werks in Tschechien zu erhalten. Mich erstaunt, dass mich seine Aufzählung nicht abschreckt, sondern Neugier und gewissen Ehrgeiz in mir wecken. Vom Gespräch bleiben bei mir Bruchstücke wie »unzuverlässig, schlechte Prognosen, ungenügend qualifizierte Mitarbeiter, hohe Fluktuation, schlechtester Kundenservice im Netzwerk, viele Projekte und Neuprodukte, schlichtweg unplanbar« hängen.

Nach der Arbeit laufe ich regelmäßig kilometerweit im Dunkeln durch die Straßen der Stadt in Richtung Hotel. Die Brücken Rotterdams faszinieren mich. Die Erasmus-Brücke überquere ich abends zu Fuß. Sie besitzt zwei dominante meterhohe Säulen und in eine Richtung eine Vielzahl mächtiger Stahlseile, die sich wie ein Fächer aufspannen. Links und rechts erheben sich Hochhäuser und die Lichter in den Fenstern erhellen den Nachthimmel.

Heute muss ich einiges verarbeiten und nachdenken, weshalb ich diverse Umwege in Kauf nehme, sodass ich erst neunzig Minuten später im Hotel ankomme. Das Check-in läuft wie immer reibungslos. Ich gehöre fast schon zum Inventar dieses Hotels, die meisten Mitarbeiter kennen mich und nennen mich beim Namen. Auf dem Hotelzimmer angekommen, rufe ich Sophia an und erzähle ihr die Neuigkeiten – von dem zweiten Angebot einer größeren Managementaufgabe innerhalb kürzester Zeit. Diesmal werde ich wohl nicht »nein« sagen können.

2

Einige Wochen später stehe ich am Prager Flughafen und warte auf meine Mitfahrgelegenheit. Die Nacht war noch kürzer als sonst. Ich bin ständig aufgewacht und verspürte eine Gefühlsmischung aus Nervosität und Aufregung. Daher kommt mein Körper erst jetzt so langsam in Gang und mein Bauch macht sich bemerkbar. Immer wenn ich nervös bin, schlägt es mir auf den Magen. Im heutigen Fall sollte meine Nervosität aber nicht negativ sein, denn ich freue mich auf die kommende Zeit und habe mich bewusst dafür entschieden. Unser Körper und Geist spielt uns hier gerne einen Streich und lässt uns auf Positives wie Negatives ähnlich reagieren. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und komme schnell zurück ins Gleichgewicht.

Ein freundlich aussehender älterer Herr, der sich mir später als Marek vorstellen wird, kommt mit einem Schild mit der Aufschrift »Gabriel Wolf« in die Empfangshalle des Flughafens gelaufen. Ich gehe auf ihn zu und stelle mich vor. Wenig später sitzen wir in seinem hellblauen Ford Mondeo und fahren ungefähr vierzig Minuten zum Produktionswerk nördlich von Prag. Mit jedem Kilometer, mit dem wir Prag hinter uns lassen, reisen wir gefühlt in die Vergangenheit zurück. Denn die Städte und Dörfer scheinen aus einer anderen, einfacheren Zeit. Die Fahrt ist kurzweilig, da Marek mit einer Mischung aus gebrochenem Englisch und Deutsch versucht, vieles zu erzählen. Er ist mir direkt sympathisch, bodenständig, gezeichnet von einem Leben voller Arbeit, aber freundlich und warmherzig. Seine Wesensart nimmt mir die Nervosität vor den kommenden Stunden.

Wir erreichen den Zielort Nelahozeves, eine kleine Gemeinde mit knapp über zweitausend Einwohnern. Die Ortschaft grenzt direkt an die Moldau und hat neben einem Schloss mit dem Geburtshaus des Komponisten Antonín Dvořák immerhin zwei Sehenswürdigkeiten. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass der Ort im Vergleich zu meiner neuen Arbeitsstätte, eine Fabrik mit über siebenhundert Beschäftigten, gerade einmal dreimal so viele Bürger beheimatet.

Wir erreichen das Ziel, passieren den Werksschutz und fahren auf das Fabrikgelände. Als ich aus dem Auto gestiegen bin, nehme ich die schiere Größe des Standorts war. Neben diversen Gebäudekomplexen, die Büros, aber auch diverse Produktionstechnologien bis hin zu einer Lebensmittelölraffinerie beherbergen, erkenne ich mehrere Lagerhallen, eine werkseigene Lokomotive, die neben unzähligen hohen Metalltanks auf den Gleisen steht, und sehe einige Gabelstapler und LKWs über das Gelände fahren. Marek bringt mich zum Verwaltungsgebäude und zeigt auf einen Schaukasten, in dem das Management Team, quasi die Werksleitung, abgebildet ist. Es ist bereits ein Bild von mir angebracht, unter welchem sich der Titel »Leiter Planung & Materialwirtschaft« befindet.

Eigentlich sollte ich vor Stolz platzen, aber mich übermannt ein Gefühl der Demut. Nun bin ich Teil dieses kleinen Führungsteams, das die Zukunft des Werkes mit langer Tradition und so vielen Beschäftigten gestalten darf. Ich spüre die große Verantwortung, die ich mit gerade einmal Mitte Zwanzig übernehmen kann. Dennoch überwiegt die Vorfreude auf die kommenden Herausforderungen.

Mir schießen Gedanken an die letzten Jahre durch den Kopf. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von sechszehn Jahren zuhause ausgezogen bin, um eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Aufgrund meiner Minderjährigkeit musste ich bei einer fremden Familie hunderte Kilometer von zuhause entfernt zur Untermiete wohnen. Ich denke an die unzähligen Stunden, die ich jede Woche in einem LKW verbracht habe, um über das Wochenende nachhause zu fahren, da ich kein Geld für eine Zugfahrkarte hatte. Gerade erst habe ich den Verkehrsfachwirt und nun den Betriebswirt berufsbegleitend absolviert, um mehr Theoriebausteine für meine Zukunft in meinem Rucksack zu haben. Zugegebenermaßen hatte ich während der letzten Jahre gar keine Zeit, den Fortschritt, die persönliche Weiterentwicklung oder meinen Erfolg zu genießen. Hier und heute schlage ich ein weiteres Kapitel auf – erneut ohne Reflektion und Pause. Nun stehe ich hier in Tschechien und soll eine erste längerfristige sowie große Verantwortung übernehmen.

Mir wird ein freundlicher Empfang bereitet. Nach einem Gespräch mit dem Personal- und Werksleiter lerne ich mein Team, genauer gesagt die Teamleiter, die direkt an mich berichten werden, kennen. Als ich sehe, dass die vier Nachwuchsführungskräfte aufgeregt sind, stellt sich bei mir etwas mehr Souveränität ein – geteiltes Leid ist halbes Leid. Ich grinse breit und bringe ein »dobry den, jmenuji se Gabriel« über die Lippen. Ich glaube meine Aussprache war so schlecht, dass damit direkt das Eis gebrochen wurde, da jeder der vier anfing freundlich zu lachen. Diese ersten Treffen finde ich jedes Mal aufs Neue richtungsweisend. Immerhin werde ich mit diesen Personen montags bis freitags einen Großteil meiner Zeit verbringen.

Direkt vor mir steht Jana. Ich schätze sie etwas älter als mich ein. Im Vergleich zu meinen 1,73 Metern Körpergröße ist sie groß gewachsen, sportlich und hat lange blonde Haare. Jana kümmert sich um das Projektmanagement wie Produktneueinführungen. Da sie ein ehemaliger Management-Trainee ist, kennt sie sämtliche Abteilungen des Standorts. Sie hinterlässt einen schlagfertigen, aber auch vertrauensvollen Eindruck bei mir.

Die Person neben ihr stellt sich mir als Magdalena vor. Sie erzählt mir direkt von ihrer kleinen Tochter, die sie allein erzieht und dass sie dadurch früh von der Arbeit gehen muss, aber in der Regel abends von zuhause aus aufarbeitet. Magdalena kommt taff und willensstark rüber, zumindest bilde ich mir das aufgrund ihrer drahtigen Figur und schwarzen Kurzhaarfrisur ein. Sie leitet die Gruppe der Produktions- und Materialplaner der Produktionseinheit für Salatdressings, Ketchup und Mayonnaise.

Der nächste meiner neuen Kollegen stellt sich als Ondrej vor. Er scheint kurz angebunden oder nicht sehr kommunikativ zu sein. Ich schätze ihn auf Mitte Dreißig, er hat einen starken Händedruck und mir wird später klar werden, dass dies von seinen regelmäßigen Klettertouren kommen mag. Ondrej ist am längsten in der Abteilung und verantwortet die Produktions- und Materialplanung der Margarine- sowie der vor kurzen in Betrieb genommenen Vitaminshots-Produktion.

Jakub bildet den Abschluss. Er scheint recht humorvoll zu sein und bringt unsere neu geformte Gruppe erneut zum Lachen. Er ist sehr groß und scheint in meiner Altersklasse zu sein. Er betreut die Transportplanung und die Exportabwicklung in die über zwanzig Länder, die aus den Lagerorten des Produktionswerkes beliefert werden.

Die Kollegen begleiten mich in mein neues Büro. Es liegt direkt neben dem Großraumbüro meiner neuen Abteilung und ist mit einem großen modernen Schreibtisch, einem Besprechungstisch und dem nötigen IT-Equipment ausgestattet. Es ist schon länger her, dass ich ein eigenes Büro hatte. Es wird auch nicht lange so bleiben, denn schon in den kommenden Wochen werde ich einen Teil der Wand entfernen lassen, um direkten Anschluss an das Großraumbüro meines Teams zu bekommen. Mir ist es durchaus wichtig, die Atmosphäre und Stimmungslage im Raum aufzunehmen, den Rhythmus des geschäftigen Treibens zu fühlen aber auch selbst sichtbar und greifbar zu sein. Seit ich selbst eine Führungskraft bin, ist mir bewusst geworden, wie schnell man den Draht zum Team verlieren kann, da man von Termin zu Termin rennt und die wenigen Momente am Schreibtisch stumm und unsichtbar verbringt. Die persönliche Note, das Weitergeben von Emotionen oder Vorbild sein, vor allem für junge und dynamische Gruppen empfinde ich als unentbehrlich. Auch wenn ich der Vorgesetzte sein darf, so bin ich Teil des Teams, der Dynamik, des Erfolgs wie auch des Misserfolgs. Muss man einmal etwas Vertrauliches oder Persönliches besprechen, kann ein Besprechungsraum oder auch ein Spaziergang gewählt werden.

Gegen Ende des Tages kommt der schwierigste Teil. Es klopft an meiner Bürotür und ein kräftiger Mann mit Frisur und Ausstrahlung eines Offiziers betritt den Raum. Er heißt Vladimir Horak und muss mit dem heutigen Tag einen Teil seiner Kompetenzen an mich abtreten und verantwortet von nun an nur noch den physischen Teil der Logistik, das heißt Lager und Transport. Zumindest auf dem Papier. Im Team selbst wird er in den kommenden Wochen weiterhin als informeller Vorgesetzter auftreten und mich vor einige Herausforderungen stellen. Was mich bei unserem ersten Aufeinandertreffen bedrückt ist, dass ich bereits informiert bin, dass er mittelfristig seinen Platz räumen muss, damit ich die komplette Logistik mitübernehmen kann. Das bereitet mir permanent ein schlechtes Gewissen, denn Vladimir hat, neben seinen beruflichen Problemen, das Herz am rechten Fleck, arbeitet hart und handelt verantwortungsbewusst. Er wird seine Fähigkeiten und Wissen in der Logistik mehrfach unter Beweis stellen können und ich werde von ihm diesbezüglich einiges lernen. Doch die wachsenden Anforderungen an das Supply Chain Management, dem Zusammenspiel sämtlicher Funktionen entlang der Lieferkette vom Lieferanten bis zu den Kunden, stellt neue Anforderungen, die ihm einige der Führungskräfte in der Unternehmenszentrale nicht mehr zutrauen. Das wird nicht das erste und letzte Mal eines doppelten Spieles an diesem Standort für mich sein.

Morgen treffe ich den Rest des Management-Teams. Vor allem auf die Produktionsleitung bin ich gespannt, da aus der Erfahrung heraus hier das größte Konfliktpotenzial, welches unsere Verbesserungsmaßnahmen betrifft, besteht. Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung mit der Produktionsleiterin in Rotterdam. Wir hatten uns so sehr in die Haare bekommen, dass ich sie vor versammelter Mannschaft gebeten hatte, unverzüglich das Büro zu verlassen. Wenige Stunden später haben wir uns natürlich wieder vertragen, obwohl wir uns in der Sache »Effizienz versus Flexibilität der Produktion« nie einig wurden.

Es ist seit längerem dunkel und bereits nach 7:00 Uhr abends. Marek fährt mich zurück nach Prag. Ich werde dort am Stadtrand das Hilton Hotel beziehen. Dieser riesige und luxuriöse Quader wird in der nächsten Zeit meine Wochenresidenz bilden, zumindest bis wir eine dauerhafte Bleibe beziehen können.