Die Autorin
Doris Bischof-Köhler ist 1936 in Bad Dürkheim an der Weinstraße geboren. Nach dem Abitur 1955 studierte sie Psychologie an den Universitäten Tübingen und München und erhielt 1960 ihr Diplom. Seit 1960 ist sie mit Norbert Bischof verheiratet. Der Ehe entstammen drei Töchter.
Nach ihrer Mutterzeit arbeitete sie in verschiedenen Forschungseinrichtungen, unter anderem am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen und in der Stiftung für Humanwissenschaftliche Grundlagenforschung in Zürich. Von 1983 bis 1986 ließ sie sich am Institut für Ehe und Familie in Zürich zur systemischen Ehe- und Familientherapeutin ausbilden. Von 1983 bis 1997 war sie als Lehrbeauftragte für den gesamten Bereich der Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich verantwortlich. In dieser Zeit gelang ihr der experimentelle Nachweis der engen strukturellen Beziehung zwischen dem Selbsterkennen im Spiegel und dem Einsetzen der Empathie um den 18. Lebensmonat. Über dieses Thema promovierte sie bei Gisela Trommsdorff in Konstanz; ihre Forschung erhielt von der dortigen Universität die Auszeichnung als beste Dissertation des Jahres 1988. In der Folgezeit war sie an verschiedenen Hochschulen als Dozentin tätig. Im Jahr 2005 wurde sie an der Universität München habilitiert und zur apl. Professorin für Psychologie ernannt.
Die Forschungsinteressen des Ehepaars Bischof sind evolutionspsychologisch geprägt und überlappen sich weitgehend, was von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie durch die gemeinsame Verleihung des Deutschen Psychologiepreises 2003 gewürdigt wurde. Sie haben jedoch separate Schwerpunkte, wobei Doris Bischof-Köhler sich außer auf die Geschlechterpsychologie auf die Themen Empathie, Selbsterkennen, Theory of Mind und Zeitverständnis sowie die Zusammenhänge zwischen kognitiver und motivationaler Entwicklung im Vorschulalter konzentriert.
Im Jahr 2011 war sie nach einer Operation am offenen Herzen gezwungen, ihre forscherische Aktivität zu beenden und sich auf theoretische Arbeit zu beschränken. Diese Erfahrung hat in ihrer wissenschaftlichen Arbeit auch positive Spuren hinterlassen – umschweiflose Konzentration auf das Wesentliche und ein vertieftes Misstrauen gegen »große Erzählungen«.
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5., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
2002/2022 © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037881-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037882-7
epub: ISBN 978-3-17-037883-4
Für
Karoline
Annette
Franziska
und ihren Vater
Als der Kohlhammer-Verlag mit der Frage an mich herantrat, wie es denn mit »Von Natur aus anders« weitergehen soll und ob ich mich entschließen könnte, eine Nachauflage ins Auge zu fassen, war ich sofort geneigt, diese Arbeit auf mich zu nehmen. Die Frage der Geschlechtsunterschiede ist heute mehr denn je ein Politikum, und speziell die Vorstellungen über den Einfluss der Biologie auf unser Verhalten sind nach wie vor von einer solch stupenden Einfalt, dass man es nicht dabei belassen kann. Dann aber habe ich gezögert. Das Thema ist so aktuell, dass die Literatur – die seriöse wie auch die tendenziöse – ein Ausmaß angenommen hat, das mir allein schwer zu bewältigen schien.
Ohne kompetente Hilfe wäre das auch nicht gegangen. Sie kam in erster Linie von Norbert Zmyj. Er hatte bei mir in München studiert, an meiner entwicklungspsychologischen Forschung aktiv teilgenommen, seine Diplomarbeit bei mir geschrieben, seine Doktorarbeit in Leipzig am Max-Planck-Institut verfasst und ist inzwischen selbst Professor mit gründlicher Lehr- und Forschungserfahrung auf diesem Gebiet. Er versorgte mich mit Hintergrundinformationen, half mir beim Literaturverzeichnis, überprüfte Literaturzitate und war mir insgesamt ein wichtiger Diskussionspartner, der mit Unbestechlichkeit auch auf kritischen Anmerkungen bestand. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank.
In Bezug auf den Inhalt des Buches habe ich mich weitgehend nach der Vorauflage gerichtet und diese nach Möglichkeit durch neuere Studien ergänzt, wobei es sich, dem Zeitgeist folgend, oft um Meta-Analysen handelt. Dabei war festzustellen, dass es Forschungsbereiche gibt, deren Gegenstand sich in der neueren Literatur komplett gewandelt hat; so gab es, um nur ein Beispiel zu nennen, zum Thema Entwicklung der Geschlechtsidentität früher hauptsächlich Studien zu deren typischem Verlauf, während heute der Fokus in erster Linie auf ihren Varianten liegt. Ältere Studien, sofern sie mir verlässlich und aufschlussreich erschienen, habe ich nicht weggelassen, nur weil sie aus dem 20. Jahrhundert stammen. Warum sollten sie schlechter sein als neuere, zumal diese bisweilen auch nicht eine wünschenswerte methodische Differenziertheit des Vorgehens aufweisen.
Ich habe mich der Herausforderung gestellt, den Gender Studies, dem Gender Mainstreaming und der an sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten omnipräsenten Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit in dieser Überarbeitung einen breiteren Raum zuzubilligen. Wenn man sich auf diese Themen einlässt, ist es nicht zu vermeiden, dass sich irgend jemand auf die Füße getreten fühlt. Ich habe mich bemüht, in der Sache eindeutig Stellung zu beziehen und gleichzeitig niemanden zu kränken, aber Letzteres war bei diesem Thema noch nie zu vermeiden. Deshalb, sei’s drum, es musste gesagt werden.
Bleibt mir, Herrn Dr. Ruprecht Poensgen sowie Frau Annika Grupp und Frau Kathrin Kastl für die gute Zusammenarbeit zu danken. Insbesondere möchte ich Frau Stefanie Reutter nennen, die sich engagiert der Endredaktion des Manuskriptes annahm. Dank gebührt auch den Mitarbeiterinnen von Norbert Zmyj, insbesondere Frau Claudia Rothermundt und Frau Helen Andrzejczak, die das Manuskript korrigierten und sich ausdauernd mit der Herstellung des Personen- und des Sachwortverzeichnisses befassten.
Bernried, im Januar 2022 | Doris Bischof-Köhler |
Als ich Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal eine Vorlesung über die Entwicklung geschlechtstypischer Verhaltensunterschiede hielt, rief diese gemischte Reaktionen hervor: ein Teil der Studierenden war offenkundig fasziniert, bei anderen meldete sich heftiger Widerspruch, einzelne blieben sogar aus Protest weg. Woran lag das? Ich hatte das Geschlechterthema explizit in einen evolutionsbiologischen Bezugsrahmen gestellt und dem Auditorium zugemutet, sich mit der Möglichkeit anlagebedingter Verhaltensunterschiede auseinanderzusetzen. Das erschien einigen politisch nicht korrekt, schrieb es doch scheinbar die Diskriminierung von Frauen fort. Positive Reaktionen kamen dagegen von Studierenden, die verstanden hatten, dass es mir primär darum ging, sie an eine etwas differenziertere Sicht des Anlage-Umwelt-Verhältnisses heranzuführen und ihnen bezüglich der Biologie die Angst zu nehmen, die immer ein schlechter Ratgeber ist.
Ich habe die Vorlesung turnusmäßig bis heute immer wieder gehalten und die negativen Reaktionen haben deutlich abgenommen. Während man vor 15 Jahren bisweilen allen Mut zusammennehmen musste, um gewisse Aussagen mit Provokationspotential nicht um des lieben Friedens willen kurzerhand wegzulassen, gestaltet sich das Klima neuerdings zunehmend so, dass ich offene Türen einzurennen meine. Dass die Geschlechter von Natur aus verschieden sein könnten, wird heute mit einer gewissen Selbstverständlichkeit konzediert.
Was hat diesen Einstellungswandel wohl bewirkt? Mag sein, dass ich in den Jahren eine gewisse Routine entwickelt habe, die heiße Ware an den Mann oder die Frau zu bringen. Vielleicht spielen aber auch die Fortschritte der Genetik eine Rolle, von denen man fast täglich liest. Sie haben der Biologie eine Präsenz im öffentlichen Bewusstsein verschafft, die es nicht mehr erlaubt, sie im Stile vergangener Jahrzehnte zu verdrängen.
Möglicherweise hängt die gelassenere Einstellung der Studierenden – und unter ihnen insbesondere der weiblichen – aber auch damit zusammen, dass Frauen ihre Situation weniger aussichtslos sehen und sich deshalb von biologischen Argumenten nicht mehr so sehr bedroht fühlen. Falls diese Annahme zutrifft, stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch zeitgemäß ist, ein Buch wie das hier vorgelegte zu veröffentlichen. Sein Hauptanliegen geht ja dahin, eine differenzierte Diagnose der Faktoren zu liefern, die einer Diskriminierung von Frauen Vorschub leisten. Vielleicht ist das inzwischen gar nicht mehr erforderlich und die Situation hat sich bereits so weit zum Guten gewendet, dass man getrost das Weitere abwarten kann.
Analysiert man die gesellschaftliche Situation allerdings genauer, dann erscheint eine allzu große Euphorie nicht angebracht. Zwar fordern junge Frauen heute mit Selbstverständlichkeit ihr Anrecht auf eine berufliche Karriere ein und viele machen ihren Weg. Wie sieht das aber in der Praxis aus? Ich bin Mutter dreier Töchter. Mein Mann und ich haben sie nach Kräften ermutigt, anspruchsvolle Berufe zu ergreifen, und sie sind darin inzwischen auch sehr erfolgreich. Dafür schlagen sie sich jetzt aber mit dem Problem herum, wie sie die Familie und insbesondere den Kinderwunsch mit ihrer Tätigkeit vereinbaren können. Diese persönliche Erfahrung ist, wie ich fürchte, repräsentativ. In Deutschland, und nicht nur hier, geht die Geburtenziffer dramatisch zurück. Frauen verzichten zunehmend zugunsten der Berufstätigkeit auf Kinder, und viele erleben diese Wahl keineswegs als befriedigend. Jedenfalls gehört es für die meisten meiner Studentinnen auch heute noch zum Lebensplan, Beruf und Familie zu vereinigen. Ob ihnen das gelingen wird, ist eine offene Frage. Die Karrieremuster, die ihnen unsere Gesellschaft anzubieten hat, werden so manche unter ihnen nötigen, auf das eine oder das andere zu verzichten, wenn nicht die Kinder die Zeche zahlen sollen.
Ich meine also, dass das Thema dieses Buches nicht an Aktualität eingebüßt hat. Es ging darum, alles zusammenzutragen, was man wissen sollte, wenn man eine gerechte Lösung für das Zusammenleben und die Selbstverwirklichung der Geschlechter sucht. Ob das lückenlos gelungen ist, bleibe dahingestellt, jedenfalls habe ich mich darum bemüht. Allerdings gebe ich unumwunden zu, dass mir die These, die beiden Geschlechter seien allein beim Menschen, wie sonst nirgends in der Natur, mit völlig gleichen Verhaltensdispositionen ausgestattet, von Anfang an nicht eben überzeugend schien. Ich habe mich dem Thema also in einer gewissen Erwartungshaltung genähert und kann nicht ausschließen, dass das Spuren hinterlassen hat. Allerdings kann ich guten Gewissens sagen, dass es nie meine Absicht war, irgendetwas zu »beweisen«.
Das Buch ist im Grundtenor entwicklungspsychologisch konzipiert; auf diesem Gebiet liegt mein eigener Kompetenzschwerpunkt. Man kann das Thema aber nicht ohne interdisziplinäre Brückenschläge behandeln; es waren also auch noch andere Forschungsperspektiven einzubeziehen, darunter namentlich die Evolutionsbiologie, die Anthropologie, die Primatologie, die Endokrinologie und die vergleichenden Kulturwissenschaften. Ohne regen Gedankenaustausch mit Spezialisten in den betreffenden Gebieten wäre das nicht möglich gewesen. Unter diesen sind vor allem Jane Goodall, Hans Kummer und August Anzenberger zu nennen. Ferner möchte ich mich bei meinen studentischen Mitarbeiterinnen Margot Kirkpatrick, Christa Seiler, Marianne Rahm, Laura Alagia Collenberg, Sybille Bechstein-Renner und Manuela Oesch bedanken, die durch Experimentalarbeiten und Literaturrecherchen einen Beitrag zu diesem Buch geleistet haben. Dankbar verbunden bin ich auch Lutz von Rosenstiel, der mir wiederholt die Möglichkeit gab, das Thema »Frau und Karriere« mit Managern zu diskutieren, Rudolf Cohen, der einige zentrale Thesen sehr gründlich mit mir erörtert hat, und Irmgard Bock, die die Mühe auf sich genommen hat, das fertiggestellte Manuskript zu lesen und mir ein wertvolles Feedback zu geben.
Ein besonderes Wort dankbarer Erinnerung gebührt Ferdinand Merz. Mit seinem Buch: »Geschlechterunterschiede und ihre Entwicklung« ist er mir in all den Jahren, in denen ich mich mit der Materie beschäftigte, Vorbild gewesen. Seine Weise, an die Frage heranzugehen, setzt genau die richtigen Akzente und berührt alle die Bereiche, die mir beachtenswert erscheinen. Sein leider nicht mehr aufgelegtes Werk ist heute, mehr als 20 Jahre nach seinem Erscheinen, noch genau so gültig wie damals, und vieles, was darin Vermutung bleiben musste, ist inzwischen empirisch bestätigt worden.
Auch unsere drei Töchter Karoline, Annette und Franziska seien noch einmal genannt. Sie haben nicht nur Anschauungsmaterial für viele Probleme geliefert, die in dem Buch behandelt werden, sondern waren mir auch wichtige Diskussionspartnerinnen. Vor allem aber haben sie mich immer wieder gedrängt weiterzumachen, wenn mir im Laufe der Jahre der Atem einmal kurz wurde. Dies gilt in besonderem Maße auch für meinen Ehemann Norbert, den ich, was die Unterstützung betrifft, die er mir zuteil werden ließ, eigentlich einen Feministen nennen möchte, auch wenn er das nicht gerne hört. Wenn mir anlässlich von Vorträgen zum Thema Geschlechtsunterschiede ein eisiger Wind entgegenwehte, war er zur Stelle und stärkte mir den Rücken. Insbesondere aber hat er inhaltlich Wesentliches zu dem Buch beigetragen. Schon Mitte der sechziger Jahre hat er zu dem damals unter Verhaltensforschern noch kaum aktuellen Thema ein interdisziplinäres Symposium in der Reimers-Stiftung organisiert, mit dem unser gemeinsames Interesse an diesem Arbeitsgebiet seinen Anfang nahm. Seitdem hat sich eine gewisse Arbeitsteilung eingestellt, bei der er eher die evolutionsbiologische Perspektive eingebracht hat, während ich selbst mich vor allem als Entwicklungspsychologin verstehe. Insofern dokumentiert dieses Buch auch, dass zuweilen Forscherehen funktionieren können.
Abschließend möchte ich noch dem Kohlhammer-Verlag, insbesondere Herrn Dr. Poensgen, für die sehr angenehme Zusammenarbeit danken.
Bernried, im Mai 2001 | Doris Bischof-Köhler |
Etliche Jahre hielt ich in regelmäßigem Turnus eine Vorlesung über die Entwicklung von Geschlechtsunterschieden, die damit zu beginnen pflegte, dass dem Auditorium eine Reihe von Videofilmen mit Kindern im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren vorgeführt wurde. Die Studierenden sollten bei jedem Kind raten, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Dies ließ sich bei dieser Altersklasse nicht einfach an Äußerlichkeiten feststellen, denn Mütter zogen ihre kleinen Kinder längst nicht mehr geschlechtsrollenkonform an. So trifft man Jungen mit langen, wallenden Locken und goldenen Armbändchen ebenso wie Mädchen mit Kurzhaarfrisuren und in Höschen, beide sowieso noch mit Windelpaketen, die auch nicht gerade zwischen den Geschlechtern differenzieren. In Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch, bei dem Geschlechtsbestimmung von Haustieren kurzerhand auf die dort üblich pragmatische Weise als »Sexing« bezeichnet wird, bereicherte eine Studentin, die bei der Auswahl des Videomaterials zur Hand ging, unseren Laborjargon um den Begriff »Baby Sexing«. Die Studierenden sollten dabei ihren Eindruck zunächst spontan äußern und dann versuchen, sich Rechenschaft abzulegen, anhand welcher Merkmale sie zu ihrem Urteil kamen.
Nach etlichen Wiederholungen dieser Übung gaben einige Merkwürdigkeiten zu denken, die regelmäßig auftraten. Über die Jahre hinweg zeigte sich nämlich, dass die Beurteilungen zwar häufig danebengingen, dass die verschiedenen Gruppen aber in hohem Maße in der Wahl der Merkmale übereinstimmten, mit der sie ihre Zuordnungen begründeten, so dass man dazu übergehen konnte, eine vorbereitete Folie mit einer Liste von Eigenschaften für den Hellraumprojektor mitzubringen, die mit jeweils nur geringfügigen Modifikationen dann die Grundlage für die Diskussion abgab. Die nachfolgende Tabelle 1.1 informiert über die Einträge dieser Liste, soweit sie das Verhalten betreffen. Physiognomische Kriterien (Kopfform, Körperbau, Haltung und Bewegung, Zierlichkeit, Weichheit etc.) wurden auch genannt, sollen hier aber außer Betracht bleiben. Interessant ist auch, dass gewisse Merkmale sowohl für die Beurteilung als Junge als auch als Mädchen den Grund lieferten. So wurde z. B. einerseits der Eindruck, das Kind sei konzentriert und ausdauernd bei der Sache, als Indiz für Weiblichkeit genannt, dann aber wurde auch wieder geglaubt, Jungen an ihrer Beharrlichkeit zu erkennen.
An diesem Ergebnis ist zunächst einmal nichts besonders Bemerkenswertes. Interessanter erscheint dagegen eine Verhaltenseigentümlichkeit, die sich während der Diskussion fast schon voraussagbar einstellte. Anfänglich gaben die Studierenden
Tab. 1.1: Eigenschaften, die typischerweise Jungen und Mädchen zugeschrieben werden
JungeMädchen
einige ganz unbefangene Urteile ab, etwa von der Art »Es ist ein Junge, denn er ist so draufgängerisch«, oder »Es ist ein Mädchen, denn es ist mehr am Kontakt als am Spielzeug interessiert«. Das rief die ersten verlegenen Lacher hervor und der Strom der Kommentare wurde daraufhin zähflüssiger. Inhaltlich tendierte man nun dazu, sich auf Merkmale der äußeren Erscheinung wie Haarlänge etc. zu beschränken, obwohl vorher betont worden war, dass diese irrelevant seien. Irgendetwas wurde den Studenten zunehmend peinlich, sie begannen sich offensichtlich klarzumachen, auf was sie sich bei ihrer Urteilsbildung einließen, und verloren ihre Unbefangenheit.
Nun könnte das daran liegen, dass die meisten Studierenden in einer solchen Einstufung nicht geübt sind, denn eineinhalb- bis zweijährige Kinder gehören im Allgemeinen nicht zu ihrem täglichen Umgang. Es wäre also denkbar, dass sie sich überfordert fühlten. Andererseits hing aber nichts für sie davon ab, ob sie richtig oder falsch urteilten. Die Ursachen lagen also wohl auf einem anderen Sektor. Wenn man sie direkt auf ihre Befangenheit hin ansprach, dann stellte sich regelmäßig heraus, dass sie sich zunehmend der Tatsache bewusst wurden, in ihren Äußerungen Inhalte zum Ausdruck zu bringen, die sich mit den gängigen Geschlechtsrollenstereotypen deckten, wie sie von Williams und Best kulturübergreifend festgestellt wurden: Männer gelten als durchsetzungsstärker, aggressiver, selbstbewusster und risikobereiter, Frauen als sensibler, fürsorglicher, vorsichtiger und nachgiebiger (Williams & Best, 1990). Es gibt auch einige Jahrzehnte später keine Hinweise darauf, dass sich an den Geschlechtsrollenstereotypen etwas Wesentliches geändert hat (Haines, Deaux & Lafaro, 2016). Auch wenn die Befragung der Studenten mit der Zeit geht und sie nun per Smartphone das Baby Sexing vornehmen, kommen im Wesentlichen die gleichen Stereotype zum Vorschein.
Unter Stereotypenversteht man soziale Urteile, die eigentlich zutreffender als Vorurteile zu kennzeichnen sind, da sie die Tendenz haben, Personen grob vereinfachend und ohne Rücksicht auf ihre Individualität zu etikettieren. Solche Überzeugungen werden von einem großen Teil der Bevölkerung geteilt; sie bestimmen die Einstellung zu eigenen und zu fremden Gruppen und eben auch die Rollenerwartungen an die Geschlechter. Da den Studierenden in diversen Vorlesungen die Botschaft vermittelt wird, eine Urteilsbildung auf der Basis von Stereotypen sei fragwürdig, ja sogar verwerflich, gerieten sie beim »Baby Sexing« offensichtlich in einen Konflikt, sobald sich zeigte, dass sie sich doch von solchen Überzeugungen leiten ließen – und dies dann gar noch öffentlich im Hörsaal. Eine Studentin brachte ihr Unbehagen einmal auf den Punkt, indem sie sich geradeheraus weigerte, überhaupt bei dieser Übung mitzumachen, mit der Begründung, ein solches Vorgehen zementiere die Diskriminierung von Frauen, man müsse doch endlich von diesen Stereotypen wegkommen und das Denken in Unterschieden überwinden.
Nun trifft es ohne Zweifel zu, dass Stereotype die Eigenschaft haben, zu übertreiben und über einen Kamm zu scheren. Tatsächlich gingen die Studierenden bei ihrer Beurteilung teilweise von recht groben Klischees aus und trafen damit dann auch tüchtig daneben. Die krassesten Fehleinschätzungen kamen dort vor, wo allein schon das bloße Auftreten eines als »typisch« männlich oder weiblich geltenden Verhaltens für die Zuordnung ausschlaggebend war, ohne dass dabei aber berücksichtigt wurde, in welcher Art dieses Verhalten ablief. Fußballspiel z. B. wurde wie selbstverständlich als Kennzeichen für Jungen gewertet, so als wäre es überhaupt nicht denkbar, dass auch einmal ein Mädchen Spaß daran findet.
Überhaupt wurden die Begründungen häufig so formuliert, als käme das betreffende Merkmal ausschließlich einem Geschlecht zu. Wurde also beispielsweise »Kontaktfähigkeit« als Indiz für Weiblichkeit angeführt, so klang das zuweilen so, als sei das männliche Geschlecht in dieser Hinsicht schlechterdings inkompetent. Stereotype Urteile sind eben nicht nur pauschal, sondern auch ausgrenzend; wird eine Eigenschaft dem einen Geschlecht zugewiesen, so wird sie dem anderen ebenso unterschiedslos abgesprochen.
Auch in den ersten Versuchen, Geschlechtsunterschieden wissenschaftlich durch Fragebogenerhebungen auf die Spur zu kommen1, war man davon ausgegangen, dass maskuline und feminine Merkmale bipolar auf einer einzigen Dimension liegen und sich daher gegenseitig ausschließen ( Abb. 1.1). Je weniger weibliche Eigenschaften eine Person aufweist, umso mehr männliche sollte sie auf sich vereinen und umgekehrt.
Diese Position wurde aber auf die Dauer unhaltbar. Es fanden sich zwar Merkmale, die ein Großteil der Frauen als typisch für sich reklamierte; die Männer fühlten sich dann aber keineswegs durch das Gegenteil dieser Eigenschaft adäquat charakterisiert, sondern besetzten mehr oder minder unbefangen die gesamte Bandbreite von »trifft auf mich genau zu« bis »trifft überhaupt nicht zu«, mit einer natürlichen Häufung im Bereich mittlerer Ausprägung. Entsprechendes galt für typisch männliche Merkmale.
Abb. 1.1: Eindimensionale Skala
Daraus ließ sich nur der Schluss ziehen, dass Maskulinität und Femininität unabhängige Merkmalsgruppen sind, die sich nicht strikt widersprechen, sondern kombiniert werden können. Statt einer einzigen hat man demnach zwei Achsen zu unterscheiden, deren eine durch die Pole »männlich-unmännlich«, die andere durch »weiblich-unweiblich« zu charakterisieren sind. Ursprünglich wurde angenommen, dass diese Achsen völlig unabhängig voneinander sind, was dann graphisch durch ihre orthogonale Anordnung auszudrücken wäre. Inzwischen hat sich gezeigt, dass zwar keine Identität, aber wohl doch eine gewisse Verwandtschaft zwischen weiblich und unmännlich einerseits, männlich und unweiblich andererseits besteht, so dass die Achsen heute meist in obliquer Anordnung dargestellt werden ( Abb. 1.2; Reinisch et al., 1991).
Abb. 1.2: Zweidimensionale Skala
Auch in diesem Falle hat man statt einer bipolaren eine Vier-Felder-Anordnung. Personen rangieren nur noch dann als »feminin«, wenn sie viele feminine Merkmale und zugleich niedrige Werte in Maskulinität aufweisen. Entsprechendes gilt spiegelbildlich für die Zuweisung zur Gruppe »maskulin«. Zusätzlich gibt es nun noch Personen, die sich in Bezug auf sowohl Maskulinität als auch Femininität unternormal einschätzen. Diese werden meist, nicht sehr treffend, als »undifferenziert« bezeichnet; niemand interessiert sich sonderlich für sie. Das Gegenteil gilt für die letzte Gruppe, die laut Selbstbeurteilung sowohl typisch männliche als auch typisch weibliche Merkmale in sich vereint. Diese wird nach einem Vorschlag von Sandra Bem als »androgyn« bezeichnet (Bem, 1974) und in sie wurde anfangs die Hoffnung gelegt, zukünftig als Standard psychischer Gesundheit zu gelten. Um nicht neue Geschlechterrollen zu entwerfen, ging Bem bald einen Schritt weiter und postulierte, das Ideal der Androgynie sei nicht auf einzelne Individuen, sondern auf die ganze Gesellschaft anzuwenden (Bem, 1981). Nur so könne sie vom Diktat der Geschlechterrollen befreit werden.
Bem arbeitete mit einem Geschlechtsrolleninventar, das jeweils 20 eher männliche, eher weibliche und eher geschlechtsneutrale Merkmale enthielt ( Tab. 1.2). Die Probanden hatten sich selbst auf einer siebenstufigen Skala einzuschätzen, die von »nicht oder nahezu nie zutreffend« bis zu »immer oder fast immer zutreffend« reichte.
Tab. 1.2: Beispiele aus dem Geschlechtsrolleninventar von Bem
eher zu Männern passendzu beiden Geschlechtern passendeher zu Frauen passend
Spence (Spence et al., 1974) konzipierte ungefähr um die gleiche Zeit ebenfalls einen ähnlichen Fragebogen zur Messung geschlechtsspezifischer Merkmale. Sie unterschied nur zwei Skalen, die sie mit den Symbolen F und M belegte. Zusätzlich versuchte sie die beiden Klassen auch noch inhaltlich zu identifizieren, und zwar die maskuline Skala durch das Stichwort »Instrumentalität«, die feminine durch »Expressivität«. Diese Charakterisierung entspricht aber wohl mehr dem Bedürfnis, eine einigermaßen politisch korrekte, d. h. wertfreie, Etikettierung zu finden, als dass sie wirklich als inhaltlich adäquat überzeugt.
Tab. 1.3: Beispiele aus dem Geschlechtsrolleninventar von Spence
M-Skala (Instrumentalität)F-Skala (Expressivität)
Die Bedeutung dieser Studien wird vornehmlich darin gesehen, dass sie durch einen eleganten Kunstgriff erlauben, den Kuchen gleichsam zu essen und zu behalten: Auf der einen Seite wird die im Volksmund unausrottbar verwurzelte Unterscheidung »typisch weiblicher« von »typisch männlichen« Eigenschaften aufgegriffen und beibehalten, auf der anderen aber von der schicksalhaften Bindung an das biologische Geschlecht gelöst. Wenn eine Person von Genetik und Anatomie her eine Frau ist, braucht sie deshalb noch längst nicht auch psychologisch feminin zu sein; ihr steht das ganze allgemeinmenschliche Wertspektrum offen. Wieso jene Merkmale aber überhaupt noch als »feminin« und »maskulin« apostrophiert werden, wieso man nicht wirklich konsequent nur noch etwa von »Instrumentalität« und »Expressivität« spricht, entzieht sich dann leicht der weiteren Reflexion.
Wie steht es nun aber wirklich mit der Verteilung »femininer« und »maskuliner« Eigenschaften auf die beiden Personengruppen, die wir im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch als »Mädchen« und »Jungen«, als »Frauen« und Männer« zu unterscheiden pflegen? Werden die in den Stereotypen zum Ausdruck gebrachten Differenzen wirklich nur herbeigeredet, so dass ihre terminologische Abkoppelung vom biologischen Geschlecht oder – wie im Falle der oben erwähnten Studentin – die strikte Weigerung, sie überhaupt beim Namen zu nennen, schon ausreichen könnte, um sie aus der Welt zu schaffen? Sind sie einfach nichts anderes als Vorurteile, die es endlich auszuräumen gilt?
Viele sind noch heute davon überzeugt, dass das in der Tat so ist. Die Annahme, dass die Geschlechter sich in Wirklichkeit überhaupt nicht unterscheiden, wird so selbstverständlich für zutreffend gehalten, dass man es gar nicht für notwendig hält, ihre Richtigkeit nachzuweisen. Sie wird vielmehr als das behandelt, was die Statistiker eine Nullhypothese nennen (s. Kasten).
Wenn man dreimal hintereinander eine Sechs würfelt, muss das nicht heißen, dass der Würfel präpariert ist. Wenn also ein Forscher glaubt, irgendeinen interessanten, dem bisher verbindlichen Wissensstand widersprechenden Zusammenhang entdeckt zu haben, so muss er zunächst statistisch prüfen, ob der beobachtete Effekt nicht auch rein zufällig hätte zustande kommen können. Er muss, wie man es ausdrückt, eine Arbeitshypothese (»Der Würfel ist präpariert«) gegen die Nullhypothese (»Der Würfel ist normal«) prüfen. Das Verfahren ist asymmetrisch: Die Arbeitshypothese muss man sichern, die Nullhypothese widerlegen. Die Arbeitshypothese trägt also die Beweislast.
Das bedeutet: Wenn jemand behauptet, Unterschiede im Verhalten und Erleben von Frauen und Männern existierten nur im Volksglauben oder gar in der Fantasie von Ideologen und Chauvinisten, während in Wirklichkeit doch alle Menschen gleich angelegt seien, dann darf er dies solange tun, bis irgendwer ihn unausweichlich widerlegt, während die These, Frauen seien anders als Männer, und dies womöglich auch noch von Natur aus, die volle Beweislast zu tragen hat. Offenbar wird es als »sparsamer« empfunden, Geschlechtsunterschiede zu leugnen, als sie zu akzeptieren. Die Berechtigung zu dieser asymmetrischen Betrachtungsweise wird freilich so gut wie nie reflektiert.
Eleanor Maccoby und Carolin Jacklin von der Stanford University, die immer noch zu den prominentesten Gewährsleuten in der Frage der Geschlechtsunterschiede zählen, gingen in ihrem Buch »The psychology of sex differences« ebenfalls von der gerade formulierten Nullhypothese aus und prüften nach, ob die empirische Befundlage an irgendwelchen Stellen dazu nötigen würde, sie zu verwerfen. Sie kamen dabei zu dem Schluss, dass »viele populäre Überzeugungen über die psychologische Eigenart der beiden Geschlechter erwiesenermaßen eine geringe oder überhaupt keine Grundlage haben. Die Ursache, warum solche Mythen dennoch aufrechterhalten werden, liegt darin, dass Stereotype eine so machtvolle Wirkung haben« (Maccoby & Jacklin, 1974, S. 355, Übersetzung von D. B.-K.).
Die beiden Autorinnen haben etwa 1.600 empirische Arbeiten aus allen erdenklichen Gebieten der Psychologie daraufhin analysiert, ob männliche und weibliche Versuchspersonen dabei irgendwie abweichende Resultate erzielt hatten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Unterschiede in lediglich vier Bereichen angenommen werden müssten. Drei davon betreffen den kognitiven Stil:
Männer hätten bessere Fähigkeiten im mathematischen Denken und in der visuell-räumlichen Vorstellung, während das weibliche Geschlecht eher sprachbegabt sei.
Auf dem emotionalen Sektor gäbe es überhaupt nur einen belegbaren Unterschied, nämlich in der Aggressivität. Alle übrigen üblicherweise postulierten Unterschiede dagegen seien ohne empirische Basis.
Als Resultat ihrer Studie sahen sich Maccoby und Jacklin in ihrer Vermutung bestätigt, Stereotype seien nicht viel mehr als willkürliche Setzungen der Gesellschaft, die ihre Durchschlagskraft lediglich der Tatsache verdanken, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben und insbesondere von den Männern bereitwillig immer wieder aufgegriffen werden, um die eigene Vorherrschaft zu sichern. Als engagierte Feministinnen folgerten die Autorinnen weiter, ein Abbau der Diskriminierung sei am ehesten dadurch einzuleiten, dass man die Stereotype als das entlarve, was sie eigentlich sind, nämlich »Mythen« ohne Wahrheitsgehalt.
Das passt zunächst gut zu der Feststellung, dass die gängigen Stereotype wenig geeignet waren, den Studierenden zu wirklich qualifizierten Urteilen zu verhelfen. Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht.
Das Bild sieht nämlich anders aus, wenn man einige Zusatzerfahrungen mitberücksichtigt, die sich in unserer Arbeit inzwischen eingestellt hatten. So zeigt sich etwa, dass die Trefferquote erheblich ansteigt, wenn die Beurteiler über mehr Erfahrung mit der betreffenden Altersgruppe verfügen.
In einer Studie an unserem Institut hatte eine Studentin den Auftrag, die Verhaltensweisen 16-monatiger Kinder beiderlei Geschlechts, die auf Video aufgenommen waren, genau zu analysieren. Die Kinder trugen einheitlich neutrale Kleidung, und Namensnennungen sowie sonstige Hinweise auf das Geschlecht waren auf den Videobändern gelöscht. Die Studentin konnte also nicht wissen, ob es sich bei einem Kind um einen Jungen oder um ein Mädchen handelte; vorgefasste Meinungen über Geschlechtsunterschiede hätten die Auswertung daher nicht beeinflussen sollen.
Dennoch stellte sich heraus, dass es der Untersucherin gar nicht möglich war, keine Mutmaßungen über das Geschlecht der Kinder anzustellen. Wir ließen sie, eher der Vollständigkeit halber, nach Abschluss der Auswertung ihre diesbezüglichen Einschätzungen notieren. Und diese erwiesen sich dann ausnahmslos als zutreffend – die Studentin hatte sich nicht bei einem einzigen der 25 Kinder im Geschlecht getäuscht!
Es muss also bereits in diesem Alter Differenzierungen geben, die dem Experten eine zuverlässige Zuordnung ermöglichen, auch wenn die üblichen Stereotype vielleicht nicht zutreffen. Bei den Verhaltensunterschieden, die sich dann bei der Auswertung dieser Studie objektiv herausstellten, handelte es sich weder um die von Maccoby und Jacklin konstatierten Abweichungen in den kognitiven Stilen – diese manifestieren sich erst viel später im Verhalten –, noch lag es daran, dass die Jungen jetzt schon »aggressiver« waren als die Mädchen. Es handelte sich vielmehr um feinschlägige Unterschiede in der Art und Weise, wie die Babys mit Spielsachen umgingen, wie sie diese manipulierten und untersuchten und wofür sie sich besonders interessierten. Auch in der Interaktion mit der Mutter und in der Reaktion auf eine kurzfristige Trennung von ihr unterschieden sich die Geschlechter.
Wir werden auf diese Ergebnisse noch genauer zu sprechen kommen und haben hier nur auf sie verwiesen, um deutlich zu machen, dass Maccoby und Jacklin in ihrer zugegebenermaßen anerkennenswerten Absicht, Vorurteile abzubauen, offensichtlich über das Ziel hinausgeschossen sind.
Zu derselben Ansicht war Jeanne Block, eine Kollegin der genannten Autorinnen, bereits im Jahre 1976 gekommen, als sie das Buch von Maccoby und Jacklin bald nach seinem Erscheinen einer Revision unterzog. Sie analysierte das darin zugrunde gelegte Material ein zweites Mal und kam zu recht deutlich abweichenden Befunden (Block, 1976).
Vor allem machte sie auf methodische Schwachpunkte des Buches aufmerksam. Ein großer Prozentsatz der von Maccoby und Jacklin berücksichtigten Arbeiten hatte gar nicht primär die Frage nach Geschlechterunterschieden zum Thema gehabt. Die Autoren dieser Arbeiten waren im Gegenteil sogar ausdrücklich daran interessiert gewesen, möglichst nicht auf solche zu stoßen, und zwar gar nicht unbedingt aus Gründen der politischen Korrektheit, sondern einfach deshalb, weil sie dann die Probanden nach Geschlecht getrennt auswerten hätten müssen. Dies hätte die Suche nach statistischer Signifikanz in den Ergebnissen deutlich erschwert.
Statistische Signifikanz ist ein mathematischer Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis einer empirischen Untersuchung durch Zufall zustande gekommen ist. Sie hängt wesentlich von der Größe der Stichprobe ab (s. Kasten »Statistische Signifikanz«).
In den von Maccoby und Jacklin untersuchten Fällen wiesen nun oft genug Mädchen und Jungen durchaus nicht identische Werte auf. Diese hatten aber wegen der zu kleinen Stichprobengröße nicht statistische Signifikanz erreicht. Im Text der Veröffentlichung wurde dies dann als »keine Unterschiede« verzeichnet. Bloße Tendenzen blieben unerwähnt. Wenn nun aber in mehreren Untersuchungen, die unabhängig voneinander demselben Thema gewidmet sind, überall dieselbe Tendenz auftauchte, dann ist es unwahrscheinlich, dass diese Übereinstimmung zufällig zustande gekommen sind.
Gravierender ist allerdings Blocks Feststellung, dass Maccoby und Jacklin eine Reihe von Untersuchungen zwar angeführt, bei der statistischen Gesamtevaluation dann aber überhaupt nicht berücksichtigt haben; man hatte sie offensichtlich vergessen. Dabei handelte es sich nun ausgerechnet um Befunde, die weitere Geschlechtsunterschiede gerade auch im motivational-emotionalen Bereich eindeutig belegten, nämlich höhere Explorativität, dominanteres Verhalten und stärkeres Selbstvertrauen bei Jungen und erhöhte Ängstlichkeit, Neigung zu Gehorsam und größere Nähe im persönlichen Kontakt bei Mädchen.
Wenn in einer empirischen Untersuchung, sagen wir, zwölf von 20 Jungen, aber nur neun von 20 Mädchen eine bestimmte Leistung erbrachten, so erlaubt dieses Ergebnis für sich noch nicht die Behauptung, es bestehe ein Geschlechtsunterschied. Es könnte immer noch leicht durch Zufall zustande gekommen sein; es ist nicht »statistisch signifikant«. Wenn jedoch von jedem Geschlecht die zehnfache Zahl, also je 200 Kinder, an dem Versuch teilgenommen und dann 120 Jungen und 90 Mädchen positiv abgeschnitten hätten, so wäre ein zufälliges Zustandekommen des Ergebnisses so unwahrscheinlich, dass man es ernst nehmen müsste.
Man wird einer erwiesenermaßen integren Wissenschaftlerin vom Format Eleanor Maccobys sicher keine bewusste Täuschungsabsicht unterstellen können. Arbeiten von diesem Umfang lassen sich aber nun einmal nicht ohne einen Stab von Mitarbeitern bewältigen, und da können sich, wie man auch hier wieder sieht, allerlei Pannen einschleichen.
Block zieht ihrerseits aus der intensiven Beschäftigung mit dem Datenmaterial das Fazit, dass die Stereotype doch einen Wahrheitsgehalt haben könnten. Sie schreibt: