Die Autorin
Annelen Schulze Höing, Pflegewissenschaftlerin, Organisationsberaterin (MSc) und Mediatorin. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in der Pflege sowie in Leitungspositionen. Sie bietet Online- und Präsenzseminare zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes und Führungskräfte-Trainings an. Näheres unter: www.schulzehoeing.de und www.bthg-icf-Fortbildung.de.
Gastbeiträge
Gastbeiträge zum Bundesteilhabegesetz und dem Verhältnis von Eingliederungshilfe und Pflege von Thomas Schmitt-Schäfer (Diplompädagoge und Inhaber von transfer – Unternehmen für soziale Innovation, www.transfer-net.de) und Konstantin Schäfer (M.A. Interdisziplinäre Anthropologie bei transfer).
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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041552-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041553-9
epub: ISBN 978-3-17-041554-6
Die Betreuung, Bildung und Förderung von Menschen mit – vor allem sog. geistiger – Behinderung gilt gemeinhin als ein Aufgabenbereich pädagogischer Fachkräfte. Aus historischer Perspektive gelang es mit der Stärkung pädagogischer Kompetenz, Behinderung nicht mehr ausschließlich als ein medizinisches oder pflegerisches »Problem« zu betrachten; Menschen mit Behinderungen wurde vielmehr zunehmend zugetraut, kulturelle und lebenspraktische Fähigkeiten zu erwerben sowie personale und soziale Kompetenzen zu entwickeln.
Heute gilt jedoch weder das ausschließlich medizinische noch das pädagogische Verständnis von Behinderung als zeitgemäß. Behinderung wird vielmehr mehrdimensional verstanden; in einer Wechselwirkung zwischen biologischen, psychischen, sozialen und ökologischen Faktoren entsteht eine soziale Situation, die Risiken sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung in sich trägt.
Damit wird Behinderung ein Thema interdisziplinären Handelns; pädagogischer Sachverstand ist ebenso gefragt wie medizinscher, zudem geht es um einen Abbau von Barrieren »in den Köpfen« wie in der materiellen Umwelt. Einem Ausschnitt dieses interdisziplinären Ansatzes widmet sich das vorliegende Buch: Es will pädagogischen Fachkräften pflegerisches Handwerkszeug vermitteln und sie damit aufmerksam machen auf gesundheitsbezogene Risiken, die mit einem Leben mit Behinderung verbunden sein können.
Die Aktualität dieses Themas ergibt sich aus zwei Aspekten:
Zum einen zeigt sich im Rahmen der demografischen Veränderungen unserer Gesellschaft erstmals, dass auch Menschen vor allem mit lebenslangen Behinderungen ein höheres Lebensalter erreichen. Nach der Ermordung eines Großteils der Menschen mit gravierenden Beeinträchtigungen während der nationalsozialistischen Diktatur kommen die ersten Nachkriegsgenerationen ins Rentenalter. Medizinische Fortschritte und verbesserte Bildungs- und Betreuungsangebote tragen zudem dazu bei, dass sich die Lebenserwartung behinderter Menschen in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht hat.
Mit dieser an sich erfreulichen Entwicklung nehmen jedoch für Menschen mit Behinderung wie für alle Menschen im höheren Lebensalter die Risiken gesundheitsbezogener Belastungen zu: Es drohen Einschränkungen der Selbstständigkeit im Alltag, Nachlassen der Seh- und Hörfähigkeit, Mobilitätseinschränkungen, altersspezifische Erkrankungen wie z. B. Demenz etc.
Zum anderen leben manche Menschen mit Behinderungen ihr Leben lang mit gravierenden gesundheitlichen Belastungen. Probleme einer adäquaten Versorgung ergeben sich vielfach daraus, dass gleichzeitig Kommunikationsschwierigkeiten auftreten, die im Alltag zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen können: Nicht erkannte Schmerzen werden als Verhaltensstörung interpretiert, Probleme der Nahrungsaufnahme als Verweigerungsverhalten u. a. mehr.
Das vorliegende Buch greift diese Anforderungen auf und versucht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unerfahren in pflegerischen Fragen sind, ein Leitfaden im Alltag zu sein. Es orientiert sich dabei an sog. Pflegediagnosen, die in gängige Verfahren der Bedarfsfeststellung und der Teilhabeplanung integriert werden. Damit ermöglicht es auch Differenzierungen der Fragestellung, ob bestimmte Situationen eher pädagogische bzw. assistierende Hilfestellungen erfordern oder gesundheitsbezogene Unterstützung bzw. eine Einschätzung, inwieweit pädagogische Mitarbeiterinnen die erforderliche Unterstützung selbst leisten können oder ob medizinische und/oder pflegerische Expertise einzubeziehen ist.
Die Einführung der sog. Pflegediagnosen ist geprägt von einer Haltung der Wertschätzung und des Respekts vor Menschen mit Behinderung. Gerade für die Situation von Menschen mit Kommunikationsschwierigkeiten werden zudem zahlreiche Anregungen gegeben, wie mit den Methoden der Beobachtung Erkenntnisse zu gesundheitsbezogenen Problemen gewonnen werden können.
In und für die Praxis entwickelt, liefert dieses Buch wertvolle praktische Hinweise, wie Menschen mit Behinderungen und gesundheitsbezogenen Belastungen und Risiken ein teilhabeorientiertes Leben führen und wie sie dabei unterstützt werden können.
Ich hoffe, dass dieses Buch einen Beitrag dazu leisten kann, Einrichtungen der Behindertenhilfe dabei zu unterstützen, Menschen mit Behinderungen auch in gesundheitlich belasteten Situationen – sofern sie dies wünschen – ihr vertrautes Wohnumfeld zu erhalten und sie dort pflegerisch zu betreuen.
Dr. Heidrun Metzler,
Entwicklerin des H. M. B.-W-Verfahrens, Forschungsstelle Lebenswelten behinderter Menschen, Eberhard Karls Universität Tübingen
Zentrales Anliegen dieses Buchs bleibt es weiterhin, pflegefachliche Anleitung zur Risikoeinschätzung und Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung zu geben.
Seit der Veröffentlichung der 2. Auflage im Jahr 2015 wurden in der Eingliederungshilfe und in der Pflege die Sozialversicherungssysteme umgebaut und neu ausgerichtet mit einer Neuordnung der Pflegeversicherung (Pflegegrade, Anerkennung kognitiver und psychischer Beeinträchtigungen als auslösendes Moment für Leistungen). Ein wichtiger Aspekt bezüglich der Frage, wer Pflege plant und ausführt, ist die Einführung des Pflegeberufereformgesetzes zum 1. Januar 2020. Ziel ist es, die Ausbildung zur Pflegefachkraft zu modernisieren, attraktiver zu machen und den Berufsbereich der Pflege insgesamt aufzuwerten. Kern des Pflegeberufegesetzes ist die Einführung einer dreijährigen, generalistischen beruflichen Ausbildung mit dem Abschluss »Pflegefachfrau«/»Pflegefachmann« und sieht für den Pflegeberuf vorbehaltene Tätigkeiten vor, welche von anderen Berufsgruppen nicht mehr ausgeübt werden dürfen. Dieser Umstand ist bei der Ausübung von Pflege durch pädagogisch ausgebildete Mitarbeitende zu berücksichten.
Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) stellen Personenzentrierung und Teilhabe die zentralen Leitbegriffe für eine zukunftsweisende Behindertenhilfe dar. Im Besonderen stärkt das neue Teilhaberecht die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Bezug auf Selbstbestimmung und auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Das BTHG vollzieht darüber hinaus mit der Umsetzung der Personenzentrierung einen umfassenden Wandel im Bereich der Behindertenhilfe, was sich nicht nur auf die Durchführung von Teilhabeplanverfahren, sondern auch auf die Haltung zu und den Umgang mit Menschen mit geistigen Behinderungen auswirkt.
Nun werden die Leistungen in gemeinschaftlichen Wohnformen getrennt und keine Tagessätze mehr vereinbart, sondern jede Klientin erhält nach einer umfassenden Bedarfserhebung personalisierte Leistungen. In diesem neuen System gehört die Grundpflege (und damit die überwiegende Anzahl der Expertenstandards) und die sog. Einfachste Behandlungspflege zu den Aufgaben der überwiegend pädagogischen Fachkräfte der besonderen Wohnformen.
Dieser Umstand stellt eine hohe Anforderung an Pädagogen der Behindertenhilfe dar und erfordert eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Pflege und mit pflegerischer Qualitätsentwicklung.
Für diese 3. Auflage wurden folgende Gastbeiträge neu aufgenommen:
• Gastbeitrag 1: »Die Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs in der Verwirklichung des Personenzentrierten Ansatzes«, verfasst durch die bundesweit hochgeschätzten ICF- und BTHG-Experten Thomas Schmitt-Schäfer und Konstantin Schäfer. Dieser Gastbeitrag umfasst auch eine Einführung in das BTHG (Bundesteilhabegesetz) und in die ICF-basierte Bedarfsermittlung.
• Gastbeitrag 2: »Eingliederungshilfe und Pflege«. Herr Schmitt-Schäfer führt uns in seiner Funktion als Sozialrechtsexperte durch die komplexe Fragestellung, wie sich Leistungen der Eingliederungshilfe von den Leistungen der Pflege abgrenzen lassen.
Zusätzlich haben sich auf Grundlage der Einführung des BTHG und der ICF folgende Änderungen ergeben:
• Die Neustrukturierung des Gesprächsleitfadens Pflegeerfassung®. Bisher war der Gesprächsleitfaden gemäß H. M. B.-W-Teilhabeplanung strukturiert und wurde nun auf Grundlage der ICF neu strukturiert.
• Das Protokoll »Pflegeerfassung« wurde ebenfalls auf Grundlage der ICF angepasst.
• Im Rahmen der Entbürokratisierten Pflege verzichtet Pflege inzwischen auf die Definition von Pflegezielen, dies wurde im Praxisbeispiel Pflegeerfassung entsprechend kenntlich gemacht.
• Und schließlich wurden die Auswirkungen des Pflegeberufegesetzes dargestellt, auch wenn zur Zeit noch unklar ist, wie diese Anforderungen in der Eingliederungshilfe Anwendung finden werden.
Dem aufmerksamen Leser ist vielleicht aufgefallen, dass wir den bisherigen Untertitel der 2. Auflage »Pflegebedarfsanalyse und integrierte Hilfeplanung« wie folgt umgeändert haben:
»Gesetzliche Grundlagen, Pflegebedarfsanalyse, Praxiswissen Pflege«
Die beschriebenen Veränderungen der Rahmenbedingungen, insbesondere die Stärkung der Selbstbestimmmung aller Klienten, betreffen die Dienste der Behindertenhilfe auf allen Ebenen und erfordern einen Organisationsentwicklungsprozess, um diesen Paradigmenwechsel zu bewältigen. Es gilt, sich aktuelles Wissen anzueignen, die Arbeitsroutinen und Abläufe zu überprüfen, Konzepte anzupassen und schließlich den Umgang mit den Klienten konsequent auf die Stärkung der Selbstbestimmung auszurichten.
Mein besonderer Dank gilt Thomas Schmitt-Schäfer und Konstantin Schäfer!
Viel Spaß beim Lesen.1
Anmerkungen und Änderungsvorschläge zum Buch werden dankbar via E-Mail entgegengenommen (annelen@schulzehoeing.de).
Ihre Annelen Schulze Höing
1 Eine Bemerkung zur verwendeten Sprache: Ich nutze in meinem Buch männliche und weibliche Pluralformen willkürlich wechselnd, wenn die Verlaufsform »Pflegende« sich nicht anbietet. Schreibe ich also von Pflegerinnen, dann können genauso auch Pfleger gemeint sein. Ist von Klienten die Rede, sind selbstverständlich auch Klientinnen gemeint.
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurde »eines der großen sozialpolitischen Vorhaben der Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode«(BMAS, 2018, S. 1) verabschiedet. Die Zielgruppe des BTHG sind 16,8 Mio. Menschen mit (drohenden) Behinderungen und rund 7,5 Mio. Menschen mit Schwerbehinderung, von denen im Jahr 2014 ca. 700.000 Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe bezogen (ebd., S. 7). Doch was ist das BTHG und in welcher Beziehung steht dieses große sozialpolitische Vorhaben zur UN-Konvention? Zum einen versteht sich das Gesetz als »Meilenstein auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft«, zum anderen zielt es auf eine Verbesserung der »Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Sinne von mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung« (ebd.). Damit schließt das BTHG an Artikel 3 der UN-BRK an, dessen Zielsetzung die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft« (Deutsches Institut für Menschenrechte 2015, S. 9) ist. Der Artikel 4 der UN-BRK beinhaltet die Verpflichtung der Vertragsstaaten »alle geeigneten Gesetzes-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen« (ebd.).
Für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ist das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ein Meilenstein auf dem Weg zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskommission und zu einer inklusiven Gesellschaft. Freilich sind die hierin enthaltenen fachlichen Grundsätze und Regelungen nicht im luftleeren Raum entstanden; sie sind vielmehr vorläufiger Endpunkt eines fachlichen Diskurses zum Aufbau eines personenzentrierten Leistungssystems, welcher beginnend Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrtausends in Deutschland maßgeblich von der Aktion Psychisch Kranke e. V. (https://www.apk-ev.de/startseite) und der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft e. V. (https://dhg-kontakt.de) angestoßen und von anderen Akteuren weitergetragen wurde.
So hat der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. im selben Jahr wie die Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesrepublik Deutschland Empfehlungen zur Bedarfsermittlung und Hilfeplanung (Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge e. V. 2009) veröffentlicht. In diesen Empfehlungen wurde erstmals definiert, was »Bedarf« in der Eingliederungshilfe ist2; auch wurde für Deutschland erstmals vorgeschlagen, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2005) als kommunikatives Medium der Bedarfsermittlung zu verwenden. Der Landschaftsverband Rheinland nahm diese Empfehlungen zum Anlass, um sein Bedarfsermittlungsinstrument »IHP« auf die ICF umzustellen. Er führte damit das erste ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrument in der Eingliederungshilfe in Deutschland ein – 15 Jahre, bevor dies mit dem BTHG zum fachlichen Standard der Bedarfsermittlung wurde.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) legte im Jahr 2014 Empfehlungen vor, in denen sie die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells der ICF ebenfalls zum fachlichen Standard bei der Ermittlung von Leistungen der Rehabilitation erklärte (https://www.bar-frankfurt.de).
UN-BRK und ICF sind konzeptionell eng miteinander verbunden. Beide nehmen Abschied von der Vorstellung, »Behinderung« sei mit der körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung eines Menschen gleichzusetzen. Vielmehr bringen sie eine dynamische Denkweise zum Ausdruck: »Behinderung« ist das Ergebnis einer Wechselwirkung, also eines dynamischen Geschehens zwischen der gesundheitlichen Beeinträchtigung eines Menschen und seiner Umwelt. »Behinderung« bezieht sich immer auf Teilhabe, also auf die Möglichkeit, sich in die menschliche Gemeinschaft und die Gesellschaft so einzubringen und mitzumachen wie Menschen ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen auch. D. h. die Ausrichtung an der Teilhabe der betroffenen Personen steht im Mittelpunkt der Betrachtung und nicht die An- oder Abwesenheit eines Gesundheitsproblems ( Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Wegmarken zum Bundesteilhabegesetz
Mit diesem grundlegenden Wechsel der Perspektive auf »Behinderung« sind vielfältige Konsequenzen verbunden, die das eigene fachliche Selbstverständnis ebenso betreffen wie die Organisationen, aber auch die Finanzierung der Fachdienste.
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll in dieser Perspektive ein Förderfaktor in der Umwelt von Menschen mit Behinderung in Deutschland sein. Es setzt einen gesetzlichen Rahmen, um ein Mehr an Selbstbestimmung und voller, wirksamer, gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (§ 1 SGB IX). Das Gesetz ist also ein Umweltfaktor, um zukünftig ein Mehr an subjektiv erlebter Teilhabe zu ermöglichen.3
Mit Sicherheit sind auch andere Umweltfaktoren von Nöten, um dem Ziel näher zu kommen. Maßgeblich sind die Einstellungen der bedeutsamen Akteure im Arbeitsfeld, wie der Mitarbeitenden in den Diensten sowie deren Leitungen, und die fachlich-strategische Ausrichtung der Angebote. Wer Wohnheime nur in »besondere Wohnformen« umbenennen will, dürfte einen nur geringen Beitrag zur angestrebten Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen leisten können. Es ist also keineswegs ausgemacht, ob das Reformvorhaben gelingt oder ob es auf der Strecke bleibt und damit eine aus menschenrechtlicher Sicht unbefriedigende Situation weiterhin bestehen bleibt.
Die Regelungen des BTHG bringen eine kaum zu bewältigende Komplexität mit sich. Das war dem Gesetzgeber bewusst. Deswegen hat er das Reformwerk in vier Schritten umgesetzt ( Abb. 1.2).
Abb. 1.2: Stufen des Inkrafttretens des BTHG
Die vierstufige Umsetzung des BTHG erstreckt sich über einen Zeitraum von sechs Jahren. Die Reformstufen treten jeweils zum 1. Januar des genannten Jahres in Kraft.
In der ersten Reformstufe steigt das Schonvermögen für Bezieherinnen von SGB XII Leistungen von 2 600 auf 5 000 Euro (BMAS, 2018, S. 71). Der Einkommensfreibetrag wurde um 260 Euro gesteigert, der Vermögensfreibetrag spürbar erhöht, d. h. finanzielle Entlastungen für die Betroffenen wurden unverzüglich umgesetzt.
Die Änderungen bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind im Januar 2018, also in der zweiten Stufe in Kraft getreten. Seitdem gilt auch der Teil 1 des neuen SGB IX, welcher sich auf das Verfahrensrecht bezieht, sowie der Teil 3, welcher sich mit dem Schwerbehindertenrecht befasst.4 Im Verfahrensrecht wird das Prinzip der Leistungen »wie aus einer Hand« umgesetzt. Dieses Prinzip verpflichtet die Rehabilitationsträger, ihre Leistungen im Interesse der Leistungsberechtigten untereinander zu koordinieren und die Bedarfe gebündelt zu decken.5 Außerdem wurde die Anwendung des bio-psycho-sozialen Modells als verbindlich für die Bedarfsermittlung erklärt (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e. V. 2019).
Neben den Änderungen im Verfahrensrecht wurde das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen durch eine »Präzisierung bei der Angemessenheits- und Zumutbarkeitsprüfung« (BMAS, 2018, S. 4) erweitert. Diese Präzisierung stärkt die Wünsche der leistungsberechtigten Person insoweit, als der gewünschten Wohnform grundsätzlich zu entsprechen ist:
»Ist eine von den Wünschen des Leistungsberechtigten abweichende Wohnform nach diesen Kriterien nicht zumutbar, ist die gewünschte Wohnform entscheidend. Ist das Wohnen in besonderen Wohnformen zumutbar, ist den Wünschen nach einem Wohnen außerhalb dieser Wohnformen dennoch zu entsprechen, wenn der Bedarf ansonsten nicht gedeckt werden kann; andernfalls ist ein Kostenvergleich vorzunehmen. Werden das Wohnen in und außerhalb von besonderen Wohnformen im Rahmen der Angemessenheits- und Zumutbarkeitsprüfung gleich bewertet, ist dem Wohnen außerhalb besonderer Wohnformen der Vorzug zu geben, wenn dies dem Wunsch des Leistungsberechtigten entspricht« (ebd., S. 4)
»Besondere Wohnformen« sind negativ besetzt, sie sind ein »unerwünschter Sonderfall«, weil sie sich von der gesellschaftlichen Normalität des Lebens in einer eigenen Wohnung unterscheiden. Erforderliche Hilfen und Unterstützung sollen dorthin gebracht werden, wo die Menschen leben und wohnen und wo und mit wem sie wohnen und leben wollen.
Bisher stationäre Angebote stehen dagegen für ein bestimmtes Maß struktureller Abhängigkeit der Bewohnerinnen von der Institution und für die Einschränkung selbstbestimmter Lebensführung. Dies ist beispielsweise daran zu merken, dass nicht die Bewohner selbstbestimmt darüber entscheiden, welche Betreuungsleistungen sie in welcher Art und Weise wann und von wem in Anspruch nehmen, sondern die Mitarbeitenden der Organisation. Auch, dass sie gezwungen werden, Unterstützungsleistungen in der Regel mit anderen Personen in Anspruch zu nehmen, kann ein entsprechendes Merkmal sein.
Um die Wahlfreiheit und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken, wurden »Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatungsstellen« (EUTB) (www.teilhabeberatung.de) aufgebaut. Diese Beratungsstellen beraten unabhängig von wirtschaftlichen Interessen und sind den »Betroffenen gegenüber verpflichtet« (ebd., S. 16) ( Abb. 1.3).
Mit dem »Budget für Arbeit« und der Einführung »anderer Leistungsanbieter« neben den Arbeitsbereichen der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sollen neue Möglichkeiten und Impulse für eine selbstbestimmte Teilhabe am Arbeitsleben geschaffen werden. »Den Menschen mit Behinderung im erwerbsfähigen Alter wird ein Weg in Richtung allgemeinem Arbeitsmarkt eröffnet, ohne zuvor den Nachweis der individuellen Erwerbsfähigkeit führen zu müssen« (ebd., S. 32).
Zugang zu Werkstätten für Menschen mit Behinderung sowie zu Leistungen anderer
Abb. 1.3: Stärkung der Menschen mit Behinderung durch unabhängige Beratung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, FAQ, S. 15).
Leistungsanbieter haben Menschen, »die wegen Art und Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können« und ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit erbringen können. Im Gegensatz zu den Werkstätten haben »andere Leistungsanbieter« »keine Aufnahmeverpflichtung und es gibt für sie kein Einzugsgebiet« (BAGüS, 2019, S. 6). Das Budget für Arbeit beschreibt eine Leistung, die Menschen mit Behinderung eine Tätigkeit am ersten Arbeitsmarkt ermöglichen soll. Das Budget stellt bei Vorliegen eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses einen »Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber zum Ausgleich der Minderleistung der beschäftigten Person« (ebd., S. 13). Die Bezugsgröße liegt bei bis zu 75 % des vom Arbeitgeber gezahlten Arbeitsentgeltes.
Mit der dritten Reformstufe wurde der Vermögensfreibetrag erneut angehoben, außerdem werden nun Partnereinkommen und -vermögen nicht mehr berücksichtigt.
In diese Reformstufe fällt auch die Trennung von den Fachleistungen der Eingliederungshilfe und den existenzsichernden Leistungen. Diese Veränderung wirkt sich vor allem auf die bisherigen Wohnheime aus, da mit diesem Schritt die pauschale Vergütung der Wohnangebote wegfällt und aus Mitteln der Eingliederungshilfe nur noch die Fachleistungen vergütet werden. Diese Trennung ist in den Worten des BMAS nicht weniger als ein »kompletter Systemwechsel« (BMAS, 2018, S. 2), der sich dadurch auszeichnet, dass der individuelle Bedarf für die Bestimmung der jeweiligen Hilfen maßgeblich sein soll. »Was Menschen wegen ihrer Behinderung an Unterstützungsleistungen bekommen, ist dann nur noch davon abhängig, was sie brauchen und was sie möchten und nicht länger vom Ort der Unterbringung« (ebd.).
Zum 01. Juli 2021 (Bundesgesetzblatt Teil I, 2021, Nr. 29 vom 09.06.2021) und damit früher als geplant wurde § 99 SGB IX neu gefasst. Diese Vorschrift regelt, welche Personen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben. Seit dem 01. Juli 2021 heißt es:
»Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann« (§ 99 Abs. 1 SGB IX).
Wer ist angesprochen? § 2 Absatz 1, Satz 1 lautet: »Menschen mit Behinderungen sind Menschen, …« oder verkürzt: »Menschen … sind Menschen«, ein Satz, der zweifelsfrei als wahr bezeichnet werden kann. Im alten Recht bis zum 31.12.2017 hieß es in § 2 Abs. 1 Satz 1: »Menschen sind behindert, wenn …«. Der Unterschied ist augenscheinlich: im alten Recht waren Menschen behindert (»sind behindert«), Behinderung war eine Eigenschaft einer Person wie Alter, Geschlecht, Körpergröße … jedenfalls etwas, das stets als verbunden mit der Person begriffen wurde und die Person bestimmt hat. Diese Vorstellung wurde aufgegeben: Menschen mit Behinderung sind wie alle anderen Menschen auch, und sie haben – vermutlich wie alle anderen Menschen auch – körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen. Damit nicht genug: Menschen leben in einer Umwelt, die auf sie wirkt und die sie beeinflusst und auf die sie wirken und die sie beeinflussen. Vorgestellt wird also ein Modell der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt. Behinderung ist seit dem 01.01.2018 im deutschen Sozial- und Rehabilitationsrecht das Ergebnis der Wechselwirkung gesundheitlicher Beeinträchtigungen »mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren« im Hinblick auf die »gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft« (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Damit ist man anspruchsberechtigt auf Leistungen beispielsweise der beruflichen oder medizinischen Rehabilitation, jedoch noch nicht für Leistungen der Eingliederungshilfe. Um hierfür anspruchsberechtigt zu sein, muss die Behinderung »wesentlich« sein. Dies bedeutete nach altem Recht, das eine wesentliche Beeinträchtigung der Teilhabefähigkeit vorliegen musste (Eingliederungshilfeverordnung in der bis zum 30. Juni 2021 geltenden Fassung), die Betonung liegt auf Teilhabefähigkeit. Es bestand die Vorstellung, dass es Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit zur Teilhabe gibt mit der Folge, dass sie erst zur Teilhabe zu befähigen sind. War diese Fähigkeit zur Teilhabe wesentlich (»erheblich«, »essentiell«, »bedeutend«, »vornehmlich«) eingeschränkt, hatte die Person Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe. Auch diese Vorstellung wurde aufgegeben. Es gibt keine Menschen, die nicht zur Teilhabe fähig sind oder zur Teilhabe befähigt werden müssten. Es gibt lediglich Menschen, deren Umwelt so auf ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen wirkt und umgekehrt, dass sie in erheblichem Maße nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. »Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind« (§ 99 Abs. 1, Satz 1 SGB IX in der Fassung ab dem 01. Juli 2021). Zur Teilhabe befähigt werden also nicht Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern die Umwelt wird so gestaltet, dass sie mitmachen und sich einbringen können.
Das Bundesteilhabegesetz hat sich von der Vorstellung verabschiedet, dass »Behinderung« eine Eigenschaft, ein die Person bestimmendes Attribut sei (»Menschen sind behindert«). Vielmehr wird Behinderung im Einklang mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als eine negative Folge einer Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seiner Umwelt (Kontextfaktoren) (vgl. § 2 SGB IX, n. F., s. u.) verstanden.
D. h. eine Behinderung liegt dann vor, wenn eine Person
a. ein Gesundheitsproblem in Form einer Diagnose nach ICD-10 »hat« und
b. im Zusammenhang mit dieser Diagnose die körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereiches) bzw. die Körperstrukturen nicht der biomedizinischen Norm entsprechen und dies
c. Auswirkungen darauf hat, was eine Person in ihren jeweiligen Lebensbereichen tut oder tun kann. Bezugspunkt dieser Beurteilung ist, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme im jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld an Handlungen erwartet wird.
d. sie unter Berücksichtigung der Wirkung von Kontextfaktoren (Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren)
e. zu Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, keinen oder nur eingeschränkt Zugang hat bzw. sich in diesen Lebensbereichen nicht so entfalten kann wie Personen ohne Gesundheitsproblem.
Die wechselseitige Beeinflussung der unterschiedlichen Komponenten der ICF will die nachfolgende Abbildung darstellen ( Abb. 1.4). Es gelten folgende Definitionen:
• Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologischer Funktionen).
• Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und Bestandteile.
• Eine Aktivität bezeichnet die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen.
• Partizipation (Teilhabe) ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation.
• Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt ab, in der Menschen leben und ihr Dasein entfalten (DIMDI 2010: ICF, S. 11).
• Personbezogene Faktoren sind der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen und umfassen Gegebenheiten des Menschen, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind. Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Fitness, Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene oder gegenwärtige Erfahrungen etc. sein, die in ihrer Gesamtheit oder einzelnen eine Rolle spielen können (DIMDI 2010: ICF, S. 20).
Abb. 1.4: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
Die nachfolgenden Beispiele6 verdeutlichen, wie mithilfe des bio-psycho-sozialen Modells der ICF unterschiedliche Behinderungen und Fallkonstellationen beschrieben werden können.
Im ersten Fallbeispiel findet sich eine Diagnose der geistigen Behinderung (ICD-10 F 70). Es liegt eine Beeinträchtigung der Intelligenz vor, wie im Rahmen einer gesonderten Testung ermittelt wurde. Beeinträchtigungen der Intelligenz gehören zu den mentalen Funktionen (Kapitel 1 in der Komponente Körperfunktionen der ICF). Sie werden dort mit dem alphanumerischen Code b117 bezeichnet. Auf eine Darstellung des Schweregrades wird in diesem Beispiel verzichtet. In tatsächlichen Fällen wäre der Schweregrad einer Beeinträchtigung der Intelligenz – auch im Zusammenhang mit gänzlich anderen Diagnosen – abhängig von den jeweiligen in entsprechenden Tests ermittelten Ergebnissen. Im vorliegenden Beispielfall finden sich Schwierigkeiten der Person, Mehrfachaufgaben zu bewältigen. Dies ist plausibel und mit der Beeinträchtigung der Körperfunktion und der Diagnose assoziiert. Mehrfachaufgaben sind ein Merkmal in Kapitel 2 (Allgemeine Aufgaben und Anforderungen) der Komponente »Aktivitäten«. Einmal angenommen, die Schwierigkeiten der Personen, die Mehrfachaufgaben zu bewältigen, wären erheblich. In diesem Falle kann begründet geschlossen werden, dass bei Handlungen in allen Lebensbereichen, deren Umsetzung mit der Bewältigung von Mehrfachaufgaben verbunden sind, Schwierigkeiten bestehen. Dies trifft beispielsweise auf das häusliche Leben zu, zu dem auch das Einkaufen, die Erledigung von Hausarbeiten etc. gehören. Aber auch die Mobilität kann betroffen sein, wenn es etwa darum geht, den öffentlichen Personennahverkehr zu nutzen. Zur Umwelt des hier vorgestellten Falles geistiger Behinderung gehört ein Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe, der Assistenzleistungen zur eigenständigen Bewältigung des Alltags einschließlich der Tagesstrukturierung erbringt. Der alphanumerische Code hierfür wäre e570, der Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der allgemeinen sozialen Unterstützung bezeichnet.
An dem »e« ist erkennbar, dass es sich um einen Umweltfaktor handelt. Merkmale der Komponente »Umweltfaktor« werden in der ICF durchgängig mit einem »e« (environmental factors) bezeichnet. Ein »b« bezeichnet die Komponente Körperfunktionen (body functions), ein »s« steht für die Körperstruktur. Ein »d« steht immer für Lebensbereich (life domain).
Es handelt sich um eine freundliche, kontaktfreudige Person, der es mit ihrer sympathischen Art gelingt, andere Menschen für sich positiv einzunehmen. Die leistungsberechtigte Person möchte in ihrer eigenen Wohnung leben. Dies adressiert den Lebensbereich Kapitel 6: Häusliches Leben der Komponente »Partizipation« der ICF. Ob es der Person möglich sein wird, im eigenen Haushalt zu leben, hängt, wie gut gesehen werden kann, ausschließlich an Inhalt, Ausrichtung, Qualität und Umfang der Assistenz ab.
Abb. 1.5: Das bio-psycho-soziale Modell am Beispiel einer geistigen Behinderung
Der zweite Fall beschäftigt sich mit einer Suchterkrankung, diagnostisch bezeichnet als ICD-10: F 10. Eine fachärztliche Untersuchung legt eine starke Beeinträchtigung des Antriebs in Form des Drangs nach Suchtmitteln offen. Gleichzeitig hat der langjährige Konsum zu einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses und der höheren kognitiven Funktionen geführt. Die Beeinträchtigung des Antriebs, des Gedächtnisses und der höheren kognitiven Funktionen gehört zur Komponente »Körperfunktionen« der ICF und finden sich sämtlich im Kapitel 1: »Mentale Funktionen«. Beschrieben werden im Bereich der Aktivitäten Schwierigkeiten, Probleme zu lösen und die tägliche Routine durchzuführen. Dies erscheint im Zusammenhang mit den beeinträchtigten mentalen Funktionen plausibel. Es besteht eine rechtliche Betreuung mit dem Aufgabenkreis der Vermögenssorge und der Vertretung gegenüber Behörden. Bedeutsam scheint, dass die betreffende Person viele Jahre zur See gefahren ist und insoweit Eigenheiten entwickelt hat, die nicht im Zusammenhang mit der Suchterkrankung zu sehen sind. Wirtschaftliche Eigenständigkeit ist der betreffenden Person außerordentlich wichtig, weshalb in der Komponente »Partizipation« der 3. Abschnitt des 8. Kapitels der Lebensbereiche aufgeführt ist. Auch hier zeigt sich, dass Ausmaß bestehender oder eingeschränkter Teilhabe wesentlich von der Arbeitsweise und Qualität des Umweltfaktors, hier der rechtlichen Betreuung, abhängt.
Abb. 1.6: Das bio-psycho-soziale Modell am Beispiel einer Suchterkrankung
Im letzten Beispiel schließlich geht es um eine körperliche Behinderung in Form einer Querschnittslähmung. In der Komponente »Körperfunktionen« ist das Kapitel 7: »Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen«, dort die Abschnitte Funktionen der Muskeln (b730 – b749) und die Funktionen der Bewegung (b750 – b789) betroffen. Im Zusammenhang mit diesen beeinträchtigten Körperfunktionen bestehen in der Komponente der »Aktivitäten« erhebliche Schwierigkeiten, zu gehen und sich fortzubewegen. Der technikbegeisterten Person ist es wichtig, nach einem Unfall wieder in Arbeit und Beschäftigung zu kommen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, die als Ressource aktiviert werden können. Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation können sowohl technische Hilfsmittel mit Einfluss auf beeinträchtigte körperliche Funktionen und die Aktivitäten sein, beispielsweise in Gestalt eines Rollstuhls. Gleichzeitig üben sie einen erheblichen Einfluss darauf aus, ob es der betreffenden Person möglich sein wird, mit bestehenden Beeinträchtigungen und Schwierigkeiten zukünftig einer Arbeit und Beschäftigung nachzugehen, um den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.
Beeinträchtigungen des Körpers, der Seele, des Geistes oder der Sinne sind in der ICF in den Komponenten der Körperfunktionen und -strukturen beschrieben; einstellungs- und
Abb. 1.7: Das bio-psycho-soziale Modell am Beispiel einer Querschnittslähmung
umweltbedingte Barrieren bezeichnet einzelne Merkmale in der Komponente Umweltfaktoren, während die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft dem Begriff der Partizipation entspricht.
Dies hat für Instrumente zur Bedarfsermittlung in der Eingliederungshilfe zur Konsequenz, dass sie in Inhalt und Aufbau die einzelnen Komponenten der ICF beschreiben müssen. Darüber hinaus muss es möglich sein, die Wechselwirkung der einzelnen Komponenten und die Folgen dieser Wechselwirkung auf die Teilhabe in nachvollziehbarer Art und Weise transparent zu machen. Zu den Wechselwirkungen heißt es in der ICF:
»Diese Wechselwirkungen sind spezifisch, stehen aber nicht immer in einem vorhersehbaren Eins-zu Eins-Zusammenhang. … Es kann oft vernünftig erscheinen, eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit aus einer oder mehreren Schädigungen oder eine Einschränkung der Leistung aus einer oder mehreren Einschränkungen der Leistungsfähigkeit abzuleiten. Es ist jedoch wichtig, Daten über diese Konstrukte unabhängig voneinander zu erheben und anschließend Zusammenhänge und kausale Verknüpfungen zwischen ihnen zu untersuchen (DIMDI 2010: ICF, S. 22, Hervorhebung vom Autor).«
Im Folgenden werden die Begriffe »Aktivität«, »Leistungsfähigkeit« und »Leistung« im Sinne der ICF eingehender erläutert.
Die ICF definiert Aktivität wie folgt: »Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung durch eine Person. Sie repräsentiert die individuelle Perspektive der Funktionsfähigkeit.« (DIMDI 2010: ICF, S. 272).
Eine Person ist aktiv, wenn sie fähig ist, eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen oder eine Handlung auszuführen. Damit eine Aufgabe bewältigt oder eine Handlung ausgeführt werden kann, müssen drei Bedingungen erfüllt sein (Nordenfelt 2003, S. 1076), wie die nachfolgende Abbildung verdeutlichen will ( Abb. 1.8).
Damit eine Aufgabe bewältigt oder eine Handlung durchgeführt werden kann, muss die Person leistungsfähig sein. »Leistungsfähigkeit« bezeichnet die innere Möglichkeit zur Durchführung einer Handlung, mithin die biochemischen, physiologischen und psychologischen Bedingungen, die einer Person eigen sind (Nordenfelt 2003, S. 1076).
Abb. 1.8: Konzept der Aktivität nach der ICF
Das Vorliegen von Leistungsfähigkeit allein führt noch nicht zur Bewältigung einer Aufgabe bzw. der Durchführung einer Handlung. Hinzukommen müssen die äußeren Gegebenheiten als äußere Möglichkeiten der Person, eine Handlung zu tun oder einer Aufgabe zu bewältigen. In der ICF werden die »äußeren Gegebenheiten« mithilfe der Klassifikation der Umweltfaktoren beschrieben.
Ist eine Person fähig, eine bestimmte Aufgabe zu bewältigen oder eine bestimmte Handlung zu tun und ist ihre Umwelt so gestaltet, dass der Bewältigung dieser Aufgabe oder der Ausführung der Handlung nichts im Wege steht (keine Barrieren vorhanden sind), so bedeutet dies nicht, dass die Aufgabe tatsächlich bewältigt oder die Handlung tatsächlich ausgeführt wird. Es muss eine weitere Bedingung hinzutreten, nämlich die der Handlungsbereitschaft.
»Handlungsbereitschaft« bezeichnet den Willen der Person7, die Aufgabe zu bewältigen und die Handlung auszuführen.
Nach diesem Handlungsmodell kommt eine Aktivität somit dann zustande, wenn eine besondere Person mit ihrer jeweils besonderen Leistungsfähigkeit in einer konkreten Umwelt lebt, welche die Bewältigung der Aufgabe bzw. die Durchführung der Handlung ermöglicht und diese Person diese Aufgabe tatsächlich bewältigen oder die Handlung tatsächlich durchführen will.
Als Beispiel: Für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stellt die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, eine besonders bedeutsame Fähigkeit dar. Denn in der Entscheidung, der Auswahl unterschiedlicher Handlungsoptionen, kommt Selbstbestimmung als solche zum Tragen.
Fuchs (Fuchs 2020) gliedert Störungen der Willensbildung und damit der Entscheidungsfindung in drei Gruppen:
• in Störungen der Konation (Antriebsmangel oder -überschuss),
• der Inhibition (Hemmungsmangel oder -überschuss) und
• der Volition (Störungen der Willensbildung).
In der Sprache der ICF: Störungen der Konation und der Inhibition bezeichnen Schädigungen der mentalen Funktionen im ersten Kapitel der Komponente Körperfunktionen und -strukturen der ICF. Sie werden mit psychologischen bzw. medizinischen Methoden ermittelt und nach ihrer Schwere beurteilt. Störungen der Volition sind Beeinträchtigungen der Aktivität im ersten Lebensbereich der Komponente der Aktivitäten und Teilhabe der ICF: d177 Entscheidungen treffen als »eine Wahl zwischen Optionen zu treffen, diese umzusetzen und ihre Auswirkungen abzuschätzen, wie einen besonderen Gegenstand auswählen und kaufen, oder sich entscheiden, eine Aufgabe unter vielen, die erledigt werden müssen, übernehmen und diese ausführen.« (WHO 2005).
Um eine Entscheidung zu ermöglichen, könnte man die Störungen der Konation bzw. der Inhibition und deren Auswirkungen auf die Volition beeinflussen wollen. Oder man bemüht sich, eine Umwelt zu gestalten, die – bei bestehenden Störungen von Konation und Inhibition – gleichwohl Handlungsspielräume eröffnen, bspw. indem Alternativen vorgelegt werden, Zeit geschaffen wird, um eine Auswahl zu treffen und Anreize gegeben werden, eine Option zu wählen. Abbildung 1.9 will den Zusammenhang aufzeigen ( Abb. 1.9).
Teilhabe als »Einbezogensein« in eine Lebenssituation ist in diesem Verständnis keine Fähigkeit, wie dies im alten Recht angenommen wurde. Teilhabe in diesem Verständnis ist das Ergebnis einer Wechselwirkung, also eine Form der Interaktion.8 Eine Person mit einem Gesundheitsproblem interagiert vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Besonderheiten und ihrer Lebensgeschichte (personbezogene Faktoren) in den für sie wichtigen Lebensbereichen. Ist die Leistungsfähigkeit der Person beeinträchtigt, so kann Teilhabe ermöglicht werden, indem diese durch Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation erhöht oder eine Verschlechterung vermieden wird. Diese Wechselwirkung ist im bio-psycho-sozialen Modell als Wechselpfeil zwischen den Körperfunktionen und -strukturen und den Aktivitäten abgebildet. Außerhalb der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wird Teilhabe als Schaffung eines Kontextes begriffen, der an die individuelle Leistungsfähigkeit der Person angepasst ist.9 Dieses Wirken ist im bio-psycho-sozialen Modell zwischen den Aktivitäten und der Partizipation abgebildet.
Die Möglichkeiten einer Person teilzuhaben beziehen sich also grundsätzlich auf die Zugänglichkeit der Umwelt. Die für die Person relevante Umwelt, in deren Rahmen
Abb. 1.9: Ziele von Hilfen im bio-psycho-sozialen Modell
Leistungen zur sozialen Teilhabe erbracht werden, ist der Sozialraum.10