Cover-Bild von Eichmann in Jerusalem

Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

© Piper Verlag GmbH, München 2022
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

 

 

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, die erstmals 1955 vorgelegte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus und der zwei Jahre später veröffentlichte Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik und die im Jahr darauf erschienene Monografie Vita activa oder Vom tätigen Leben. Es folgen die Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung Über die Revolution. Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung Fragwürdige Traditionsbestände vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk Life of the Mind, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Vom Leben des Geistes erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

Hannah Arendts Werke sprechen für sich und die beigefügten Nachworte benötigen keinerlei Rechtfertigungen. Bleibt also der aufrichtige Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die sich der Aufgabe unterzogen haben, mit ihren Beiträgen die Schriften Hannah Arendts für hoffentlich viele Leserinnen und Leser zu öffnen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Piper Verlag gilt der Dank für die Zusammenarbeit und die Courage, das Werk Hannah Arendts in der vorliegenden Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Berlin, im Januar 2022

Thomas Meyer

Zu diesem Band

Die Zeitschrift The American Archivist bestätigte in ihrer Oktober-Ausgabe des Jahres 1965 sozusagen offiziell, was die amerikanische Presse zuvor schon über Hannah Arendts Besuch in der Library of Congress in Washington, D. C., berichtet hatte: nämlich die Übergabe von Briefen, die im Zusammenhang mit Diskussionen über die Staatsgründung Israels standen, Manuskripte gedruckter und ungedruckter Vorträge und Aufsätze sowie die Typoskripte zweier Bücher, der Aufsatzsammlung Between Past and Future von 1961 und der zwei Jahre später erschienenen Studie On Revolution. Der Anlass für das öffentliche Interesse ging allerdings nicht in erster Linie von diesen Materialien aus, sondern von dem, was die für »News« zuständige Archivarin Dorothy Hill Gersack in der Fachzeitschrift ganz nüchtern so aufführte: »The papers also include five separate volumes of Dr. Arendt’s Eichmann in Jerusalem.«[1] 1967 wird Arendt der Library of Congress eine weitere Lieferung von Materialien zu dem Buch übergeben.[2]

Hannah Arendt schien klar zu sein, dass die beiden mit weitem Abstand heftigsten Diskussionen, die ihr Werk ausgelöst hatte, über ihr eigenes Leben hinaus andauern würden. Und falls es so käme, sollten jede und jeder nachlesen können, wie sie ihre Positionen entwickelt hatte und in welchen Zusammenhängen sie entstanden waren. Offensichtlich verfügte Hannah Arendt über ein ausgeprägtes »Nachlassbewusstsein« (Lothar Müller).

Dass die Kritik an der Gründung Israels und die Kritik in ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« auf das Engste miteinander zusammenhingen, davon waren und sind seit dem Erscheinen der fünf Artikel in der Wochenzeitschrift The New Yorker im Februar und März 1963 nicht wenige der weit über eintausend Interpreten überzeugt, die sich seither dem Werk gewidmet haben. Ob das stimmt und ob es sogar Hannah Arendts eigener Position entspricht, darüber wird bis heute weltweit engagiert diskutiert. Der Titel eines Sammelbandes über Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem bringt diesen weithin geteilten Eindruck auf den Punkt: The trial that never ends.[3]

 

Die vorliegende Edition bietet dreierlei: Auf eine Skizze der Entstehung von Eichmann in Jerusalem und der Publikationsgeschichte folgen der Text der deutschen Ausgabe und schließlich ein umfassendes »Nachwort« des Aachener Politikwissenschaftlers Helmut König. Das Ziel der Edition lässt sich knapp so zusammenfassen: die Aufmerksamkeit auf das Werk Hannah Arendts zurückzulenken.

I.

Der vorliegenden Ausgabe von Hannah Arendts erstmals im September 1964 im Münchner Piper Verlag erschienenem Buch Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen liegt die letzte zu ihren Lebzeiten erschienene Ausgabe von 1965 zugrunde. Für diese Edition stand das im Archiv des Piper Verlages aufbewahrte Exemplar der Erstauflage zur Verfügung. Die darin befindlichen Korrekturen wurden ebenso eingearbeitet wie jene, die Arendt von einem Leser erhalten und an den Verlag weitergeleitet hatte. Darüber hinaus wurden die Fehlerhinweise des Frankfurter Germanisten und Historikers Werner Renz berücksichtigt, die er freundlicherweise dem Verlag und dem Herausgeber zukommen ließ. Schließlich fand durch den Herausgeber ein Abgleich zwischen den erhaltenen Fahnenkorrekturen und den drei Druckausgaben statt, die zu Hannah Arendts Lebzeiten erschienen sind, woraufhin sich weitere Änderungen ergaben. Die insgesamt wenigen Eingriffe beziehen sich auf Druckfehler, drucktechnische Details und Falschschreibungen von Eigennamen.[4] In einem Fall wurde ein Übersetzungsfehler korrigiert, da er einen Sachverhalt verfälschte: Statt von »Belastungszeugen« muss von »Entlastungszeugen« gesprochen werden (432). Zahlreiche weitere, zum Teil schon von zeitgenössischen Kritikern benannte sachliche Fehler wurden natürlich nicht korrigiert.

Die von Hannah Arendt in ihrem Text aufgeführte, aber seinerzeit nicht in die Bibliografie übernommene Literatur wurde jetzt in eine gesondert ausgewiesene Bibliografie aufgenommen.

Die Erstauflage wird in den Verlagsunterlagen mit 10 000 Exemplaren angegeben. Noch im Oktober des gleichen Jahres erschien eine weitere Auflage, die mit 11. – 16. Tausend ausgewiesen wurde. In dieser »Zwischenauflage« (Klaus Piper) wurden Korrekturen vorgenommen, die Hannah Arendt bei einem Besuch in München übermittelt hatte. Die vermeintlich zweite Auflage von 1965 war mit der Auflagenhöhe »17. – 20. Tausend« angegeben. »Gut 10 500« Exemplare seien bis zum 31. Dezember 1964 verkauft worden, gibt der Verleger an. Die Zahlen bezogen sich auf die Standard-Ausgabe, die als »piper paperback«[5] in den Handel kam. Zugleich wurde eine Hardcover-Ausgabe in sehr geringer Auflage herausgebracht. Davon waren zum 31. Dezember 1964 laut Verlag etwa 600 Exemplare abgesetzt worden. Die Ausgaben waren druck- und seitengleich, sogar der Hinweis »piper paperback« blieb im Hardcover erhalten.[6] Arendt hatte sich zuvor enttäuscht darüber geäußert, dass Piper ihr Buch nur als kartonierte Ausgabe herausbringen wolle, und so geht es vermutlich auf ihre Initiative zurück, dass ein Hardcover aufgelegt und gelegentlich auch beworben wurde.

Markante Unterschiede gibt es dennoch: Während man bei der Standard-Ausgabe auf eine Vorstellung Hannah Arendts verzichtete, enthielt das Hardcover ausführliche Texte zu Autorin und Buch sowie Hinweise auf ihre bei Piper verlegten Schriften Rahel Varnhagen, Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten und schließlich die Ankündigung von »Krieg und Revolution«, wie Über die Revolution zunächst heißen sollte.

Die beiden Texte der Hardcover-Ausgabe sind hier erstmals seit 1964 wiedergegeben. Auf der Umschlagrückseite findet sich folgende Biografie:

Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren und wuchs in Königsberg auf. Sie studierte Philosophie, Theologie und Griechisch bei Heidegger, Bultmann und vor allem bei Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. In den folgenden Jahren arbeitete sie als Stipendiatin der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft an ihrer Biographie über Rahel Varnhagen. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1940/41 weiter nach New York, wo sie seither lebt. Nachdem sie vorher eine leitende Tätigkeit bei der Jewish Cultural Reconstruction ausgeübt hatte, dann Cheflektor des Verlags Schocken Books war, arbeitet sie seit 1951 als freie Schriftstellerin. Jedoch wurde sie immer wieder von führenden amerikanischen Universitäten als Gastprofessorin und für Einzelvorlesungen eingeladen, die sich ebenso wie die meisten ihrer Bücher und Zeitschriften-Beiträge mit der philosophisch vertieften Analyse politisch-zeitgeschichtlicher Phänomene befaßten. 1961/62 wohnte sie als Beobachterin dem Eichmann-Prozeß in Jerusalem bei. Ihr analysierender Bericht über den Prozeß erschien zuerst in fünf Fortsetzungen in der Zeitschrift »The New Yorker«, dann, überarbeitet, als Buch in Amerika und wurde zum Gegenstand einer weltweiten Diskussion.

 

Der Klappentext lautet:

Indem Hannah Arendt über den Eichmann-Prozeß und seinen Verlauf referiert, werden nicht nur die Fakten rekapituliert, sondern auch die rechtliche Problematik von Anklageerhebung und Urteil erörtert. Im Zusammenhang mit der Analyse der Anklage wird Eichmanns Funktion innerhalb des nationalsozialistischen Staatsapparats untersucht. Die Aussagen der Zeugen sowie des Angeklagten werden mit den ausführlich zitierten historischen Dokumenten verglichen, und Hannah Arendt rekonstruiert das Bild der planvollen Deportation, die die jüdische Bevölkerung aus dem Reich, aus Westeuropa, aus den Balkanländern und der Tschechoslowakei in die Vernichtungslager führte. Der Bericht ist zugleich kritische Analyse – Hannah Arendt bringt dabei auch die soziologischen und psychologischen Gesichtspunkte ins Bild. Die Hauptbedeutung aber liegt in den philosophisch-moralischen Folgerungen. Der deutschen Ausgabe ihres Buches, in der einige Stellen gegenüber der amerikanischen Ausgabe noch verdeutlicht und die Ergebnisse der Autorin durch Zusätze erhärtet wurden, hat die Autorin eine ausführliche Einleitung vorangestellt.

Die Figur Adolf Eichmanns, in der die grauenvollsten Geschehnisse der neueren Geschichte wieder repräsentiert wurden, gibt dem psychologischen Verständnis und der moralischen Wertung ganz neue Probleme auf. Hannah Arendts Buch, aus der Unabhängigkeit und Konsequenz ihres politisch-philosophischen Denkens erwachsen, zielt über die Ergebnisse des Prozesses in Jerusalem hinaus auf ein Grundproblem politisch-moralischen Begreifens der Gegenwart: auf die Erkenntnis von der Banalität des Bösen, der Durchschnittlichkeit der Schuldigen, der Rolle des anonymen Machtapparats.[7] Schwierigste Probleme der Zeitgeschichte, deren Erörterung sich von tabuierten Vorstellungen nicht beeinflussen lassen darf, sind hier in klarer Analyse freigelegt und zur Diskussion gestellt.

 

 

II.

Da es sich bei der deutschen Ausgabe von Eichmann in Jerusalem um eine von »der Autorin durchgesehene und ergänzte deutsche Ausgabe« handelt, die aus »dem Amerikanischen von Brigitte Granzow«[8] übersetzt wurde, so die Angaben im Buch, muss zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Originals eingegangen werden. Das kann hier nur sehr kursorisch geschehen.[9]

Die Initiative, den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zu beobachten, ging von Hannah Arendt selbst aus. Nachdem der israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion am 23. Mai 1960 in der Knesset die Inhaftierung Eichmanns bekannt gegeben hatte, teilte Arendt verschiedenen Freundinnen und Freunden mit, dass sie plane, für das 1925 gegründete Wochenmagazin The New Yorker über das Verfahren zu schreiben. In Absprache mit dem seit Januar 1952 als »editor« der Zeitschrift fungierenden und längst legendären William Shawn reiste sie im Auftrag des New Yorker nach Jerusalem.[10] Aus Hannah Arendts engstem Umfeld hatten unter anderem die Schriftstellerin Mary McCarthy und der Journalist Dwight Macdonald für das Magazin geschrieben, Letzterer war von 1951 an für einige Jahre dort fest angestellt. Zudem war Hannah Arendt seit dem Erscheinen der Studie Origins of Totalitarianism im Jahr 1951 einem größeren Publikum bekannt und spätestens seitdem in verschiedenen intellektuellen Szenen New Yorks bestens vernetzt. Es war also für Hannah Arendt leicht, mit dem stets als sehr scheu und distanziert charakterisierten William Shawn in Kontakt zu treten und ihn von ihrem Ansinnen zu überzeugen.

Eichmann in Jerusalem war in den Jahren von 1960 bis 1965 keineswegs ihr einziges Projekt: 1960 kam im Piper Verlag ihr philosophisches Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben[11] heraus. Im gleichen Jahr begann die Ausarbeitung der als Gastprofessorin an der Princeton University im Frühjahr 1959 gehaltenen Vorlesungen »The United States and the Revolutionary Spirit«. Vier Jahre später erschien dann die Studie On Revolution, an der Hannah Arendt zeitweise parallel zu Eichmann in Jerusalem schrieb. Ein Werk, das sie während der Auseinandersetzungen zu ihrem Bericht von der Banalität des Bösen im Rahmen der selbst vorgenommenen Übersetzung um gut ein Viertel grundlegend veränderte und das Piper 1965 als Über die Revolution veröffentlichte.[12] Zudem schrieb Hannah Arendt an einer »Introduction to Politics«, deren Vorarbeiten postum unter dem Titel Was ist Politik?[13] publiziert wurden. Daneben veröffentlichte sie während der Zeit Aufsätze, hielt Vorträge und machte ausgedehnte Reisen nach Europa, darunter zu dem mit ihr eng befreundeten Paar Gertrud und Karl Jaspers in Basel.

Anfang 1961 erfolgte die Akkreditierung Hannah Arendts am Bezirksgericht in Jerusalem, die es ihr erlaubte, im Auftrag des New Yorker als Prozessbeobachterin teilzunehmen. Zum Prozessbeginn am 11. April 1961 war sie in Jerusalem und reiste am 5. Mai wieder ab. Vom 20. bis 22. Juni 1961 war sie nochmals im Gerichtssaal. Am Ende wird Hannah Arendt an 29 von insgesamt 121 Sitzungen teilgenommen haben.[14] Schon am 21. Juli 1961 berichtete sie erstmals über die beim Eichmann-Prozess gewonnenen Eindrücke im Kolloquium ihres Freundes, des Ordinarius für Politikwissenschaft Dolf Sternberger an der Heidelberger Universität.[15] Zu diesem Zeitpunkt hatte Hannah Arendt sich bereits für mehrere Veröffentlichungen zum Prozess entschieden. Nicht nur für den New Yorker, der das ausdrückliche Erstveröffentlichungsrecht hatte und der mit der Berichterstattung beginnen wollte, nachdem das Urteil gesprochen worden war, sondern auch mit den von ihr geschätzten deutschen Zeitschriften Merkur und Hochland, mit denen sie seit Langem in Verbindung stand, hatte sie Vereinbarungen über Beiträge getroffen. Zu dieser Zeit war mit dem Piper Verlag der Plan abgesprochen, eine Broschüre zu veröffentlichen, der man in Ankündigungen den vorläufigen Titel »Der Eichmann-Prozeß« gab. Vorgesehen waren dafür drei Kapitel: Einer Biografie Eichmanns sollten »das von Hausner entworfene geschichtliche Panorama« und »der Prozess selbst« folgen. In der Broschüre solle vor allem Eichmann selbst zu Wort kommen, so Hannah Arendt. Ob sie zu der Zeit noch mit dem dann im Buch scharf kritisierten Generalstaatsanwalt und Ankläger Gideon Hausner übereinstimmte, muss offenbleiben.

Vom 11. bis 15. Dezember 1961 wurde das Urteil gegen Eichmann verlesen, das auf Tod durch den Strang lautete. Zwei Tage später beantragte die Verteidigung Revision, die vom obersten israelischen Gericht am 29. Mai 1962 abgelehnt wurde. Die Urteilsvollstreckung fand schließlich in der Nacht zum 1. Juni 1962 statt. Nun war es an Hannah Arendt, ihren Bericht über Eichmann in Jerusalem zu verfassen und dann zu veröffentlichen.

Hannah Arendt hatte seit der Verbringung Eichmanns nach Israel mit ihrem Lektor beim Verlag The Viking Press, ihrem Freund Denver Lindley, über den Fall gesprochen. Im Juli 1962 einigte man sich auf eine Buchpublikation, wobei auch hier dem New Yorker das Erstzugriffsrecht auf ein anzufertigendes Manuskript eingeräumt wurde. Zu dieser Zeit ging an den Piper Verlag die Mitteilung, dass sie am Eichmann schreibe. Tatsächlich befand sich Hannah Arendt längst mitten in der Arbeit, unterbrochen von Verletzungen bei einem Autounfall während einer Taxifahrt, und kündigte dem Verlag die Abgabe des Manuskripts zum 1. Oktober 1962 an – falls man es dort überhaupt wolle. Tatsächlich sprachen sich Viking Press und New Yorker in der Folgezeit ab und tauschten die Texte aus – ein äußerst komplizierter Prozess begann.

Hannah Arendt hatte im Laufe des Jahres 1962 ein Manuskript getippt, das Prozessmaterial war ihr Ende 1961 zugegangen, dem im späteren Buch die Kapitel eins bis sieben entsprechen. Doch weder dem New Yorker noch Viking Press wurde diese Version geschickt. Mitte September 1962 meldete Hannah Arendt dem Piper Verlag, dass das (neue) Manuskript bis auf einen von William Shawn erbetenen »Epilog« fertig sei und es der New Yorker nahezu ungekürzt bringen wolle, die Buchfassung erscheine bei Viking Press. Und für die Übersetzung hatte sie eine »wilde Idee«: Ob wohl die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, eine Piper-Autorin, die Hannah Arendt Monate zuvor kennengelernt hatte, nicht die richtige Kandidatin sei? Als Titel für das Buch schwebte ihr nun entweder »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht« oder als Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« vor. Das gedruckte Brecht-Motto stand ebenfalls schon fest.

Danach folgte eine wahre Flut von Manuskripten und Typoskripten, die teils im New Yorker wieder abgetippt wurden, um der berühmten »fact checking«-Abteilung und Hannah Arendt Möglichkeiten zu Änderungen zu geben, und teils von dort an Viking Press gingen. Alles lief über die Autorin, die wiederum ein vom Verlagshaus penibel redigiertes Typoskript, dem eine Version des New Yorker zugrunde lag, aus dem Verkehr zog, weil ihr die Korrektorin angeblich zu viel angemerkt, nachgebessert und verändert hatte. William Shawns redigierte Version ist eine in jeder Hinsicht beeindruckende Arbeit am Text, die diverse Farbsysteme nutzt, wie überhaupt in der Manuskript- und Typoskriptüberlieferung, zu denen einzuarbeitende Zitate aus den Verhörprotokollen Eichmanns und andere Quellen gehören, komplexe Anweisungen und Farbkataloge Anwendung fanden. Zwischendurch schickte Hannah Arendt erst ein Manuskript, später dann die Viking Press-Fahnen an den Piper Verlag.[16]

Während in den USA Ende 1962 die Vorbereitungen für die geplante Veröffentlichung im Januar im New Yorker und im April bei Viking Press auf Hochtouren laufen, Hannah Arendt stets mittendrin, liest man bei Piper die neueste übermittelte Fassung. Zunächst der Verleger, dann der Lektor Hans Rößner.[17] Dass die Autorin gern Ingeborg Bachmann als Übersetzerin hätte – »ich brauche jemanden der schreiben kann«, zudem sei »für diese Art der Reportage den geeigneten Ton zu finden« die eigentliche Herausforderung –, wird vom Verlag unterstützt. Auf die ausdrücklichen Warnungen Hannah Arendts zu diesem Zeitpunkt, dass das Buch in den für New York wichtigen »jüdischen Kreisen« möglicherweise »Anstoß« oder sogar »Entrüstung« auslösen werde, obwohl es »keineswegs deutschfreundlich« sei, wird nicht weiter reagiert. Gegen Ende 1962 bekommt das Vorhaben neuen Schwung: Nachdem Ingeborg Bachmann abgesagt hat, wird neben vielen anderen renommierten Übersetzerinnen und Übersetzern der 1914 in München geborene, 1933 nach Palästina emigrierte und zwanzig Jahre später nach Frankfurt zurückgekehrte Soziologe und sehr erfahrene Übersetzer aus dem Englischen, Hebräischen, Jiddischen und weiteren Sprachen Harry Maòr vorgeschlagen. Er hatte einen Auszug des Urteils gegen Eichmann aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen.[18] Zugleich habe man Kontakt mit dem Institut für Zeitgeschichte in München, namentlich: Dr. Martin Broszat, aufgenommen, der »größte Bereitschaft zur Mitarbeit, was die Dokumente und alle sonstigen sachlichen Fragen anbetrifft«, signalisierte.[19]

Doch Hannah Arendt wird Anfang 1963 Positionen formulieren, die sie in der Folge immer wieder hervorhebt: Sie möchte, dass möglichst eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller das Buch übersetzt, auf keinen Fall möchte sie einen »Emigranten« oder einen »Juden« in die deutsche Publikation involviert sehen. Für sie sei das eine »politische Frage«. Mögliche Änderungen lehnt sie kategorisch ab, das Buch müsse auf Deutsch als genaue Übertragung des amerikanischen Originals erscheinen.

Zu einer ersten sehr ernsthaften Krise kommt es, nachdem Klaus Piper im Januar 1963 einen achtseitigen Brief mit zahlreichen Hinweisen, Bedenken und von Hannah Arendts Urteilen und Wahrnehmungen abweichenden Einschätzungen nach New York geschickt hat. Ihre Antwort lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie beruft sich auf ihre Sachkompetenz, indem sie etwa auf eine unveröffentlichte Dissertation zum deutschen Widerstand im »Dritten Reich« verweist und die »fact checking«-Abteilung des New Yorker als Rückhalt hinter sich weiß. Mindestens ebenso deutlich ist Hannah Arendt, wenn sie den Eindruck hat, in den Briefen des Verlegers zwischen den Zeilen Entlastungsversuche aus deutscher Perspektive zu lesen.[20] Immer wieder kommt es zu der Situation, dass Hannah Arendt am Willen des Verlegers zweifelt, das Buch tatsächlich zu veröffentlichen. Wobei der Verlag, namentlich Klaus Piper und Hans Rößner, sich gegenüber den Kritiken aus den USA, Israel und Deutschland unempfindlich zeigen. Ihrerseits beginnen sie bereits 1963 mit einer umfangreichen Pressekampagne für das Buch. Die großen Fernseh- und Radiosender werden ebenso informiert, wie man bei den wichtigen Zeitungen und Zeitschriften Interviews zu lancieren versucht oder herausfinden möchte, wer das Buch besprechen soll, um gegebenenfalls Einfluss zu nehmen.[21]

Bis Ende März 1963 ist auch die Frage nach der Übersetzerin oder dem Übersetzer weiterhin ungeklärt. Es werden von Seiten des Verlags und Hannah Arendts zahlreiche Vorschläge unterbreitet, darunter Heinrich Böll, Günter Grass und Dieter E. Zimmer. Aber entweder kommt es zu keiner Einigung oder Piper erhält Absagen. Schließlich verweist die Piper-Mitarbeiterin Christa Dericum auf ihre frühere Heidelberger Kommilitonin Dr. Brigitte Granzow. Hannah Arendt lässt sich trotz Bedenken auf die gänzlich unerfahrene Übersetzerin ein.

Das noch vor dem Erscheinen von Eichmann in Jerusalem in der Nymphenburger Verlagsanstalt von dem Neue Politische Literatur-Redakteur, Historiker und FDP-Funktionär Friedrich Arnold Krummacher herausgegebene und vom Cheflektor des Verlages, Martin Gregor-Dellin, betreute Buch Die Kontroverse spielte in der Kommunikation keine sonderliche Rolle. Die darin enthaltenen Kritiken und Polemiken waren zum großen Teil schon zuvor publiziert worden.[22]

Der geplante Erscheinungstermin im September 1964 schien mehr als einmal gefährdet. Immer wieder schoben sich Schwierigkeiten bei der Übersetzung dazwischen – Arendt wird schreiben, dass sie ein »re-writing« von Brigitte Granzows Arbeit vorgenommen habe –, bei der Umsetzung von Korrekturwünschen tauchten eklatante Nachlässigkeiten auf, schließlich wurden rechtliche Bedenken durch ein dubioses Gutachten, den Verleger Klaus Piper und den Lektor Hans Rößner zu Aussagen im Buch gegen noch lebende Personen ins Feld geführt, sodass sich die Drucklegung immer wieder zu verzögern drohte. Schließlich konnte der Termin doch gehalten werden: Am 14. September 1964 kam Eichmann in Jerusalem in die deutschen Buchhandlungen. Die bis zum heutigen Tag anhaltende Diskussion um das Buch begann nun auch in Deutschland.

 

Berlin, im Januar 2022

Thomas Meyer

Literatur

Arendt, Hannah: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. v. Ursula Ludz, München 2003.

Arendt, Hannah: Über die Revolution. Mit einem Nachwort von Jürgen Förster, München 2020.

Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Mit einem Nachwort von Hans-Jörg Sigwart, München 22021.

Arendt, Hannah/Sternberger, Dolf: »Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär«. Briefwechsel 1946 bis 1975. Hg. v. Udo Bermbach, Berlin 2019.

Gersack, Dorothy Hill/Gingerich, Melvin: »News Notes«, in: The American Archivist 28 (1965), 589 – 607.

Golsan Richard J./Misemer, Sarah M. (Hg.): The trial that never ends. Hannah Arendt’s Eichmann in Jerusalem in Retrospect, Toronto 2017.

Granzow, Joachim: Die Löwengrube. Als Arzt in DDR-Haftanstalten Mitte der fünfziger Jahre. Ein Erlebnisbericht. Hg. v. Siegfried Suckut, Berlin 2006.

Mehta, Ved: Remembering Mr. Shawn’s New Yorker. The Invisible Art of Editing, New York 1998.

Nellessen, Bernd: Der Prozess von Jerusalem. Ein Dokument, Düsseldorf 1964.

Renz, Werner: ad Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die Kontroverse um den »Bericht von der Banalität des Bösen«, Hamburg 2021.

Voegelin, Eric: Hitler und die Deutschen. Hg. v. Manfred Henningsen, München 2006.

O Deutschland, bleiche Mutter!

Wie sitzest du besudelt

Unter den Völkern.

Unter den Befleckten

Fällst du auf.

Hörend die Reden, die aus deinem Hause dringen, lacht man.

Aber wer dich sieht, der greift nach dem Messer.

Bertolt Brecht (1933)