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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Illustrationen: Martina Frank

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Helge Röske

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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Mut.

Leidenschaft.

Willenskraft.

Ausdauer.

Akzeptanz.

Optimismus.

Selbstvertrauen.

Liebe.

Respekt.

Verantwortung.

Dankbarkeit.

Vorwort

In den vergangenen Jahren durfte ich bei vielen großen Veranstaltungen als Referentin sprechen. Es ist dabei durchaus interessant, dass ich meist gebucht werde, weil den Firmen beziehungsweise den Menschen, die dahinterstecken, mein »beeindruckender Kampf zurück« nach meinem folgenschweren Unfall im Jahr 2014 so imponiert. Während eines Skitouren-Fotoshootings war ich abgestürzt und 800 Höhenmeter gefallen. Mein Weg soll als Vorbild für die Motivation der eigenen Mitarbeiter und Führungskräfte dienen, und zwar im Hinblick auf das Durchhaltevermögen, die Zielstrebigkeit und Disziplin und das klare Setzen eines Fokus. Es ist mein sogenannter eiserner Wille, über Widerstände hinweg weiterzugehen, der die Menschen besonders zu inspirieren scheint. Es geht um die mir zugeschriebenen Eigenschaften, die sich bei meinem Lebensmotto »Fight! Smile! Love!« wohl alle hinter dem Wörtchen »Fight!« verstecken. Es sind definitiv Werte, die es braucht, um schlussendlich »erfolgreich« zu sein, das steht für mich außer Frage. Trotzdem ist es für mich hochinteressant, da mir genau diese Dinge seit jeher eigentlich nicht sonderlich schwerfallen. Ich habe sie quasi mit in die Wiege gelegt bekommen, sie also keineswegs erst nach meinem Unfall entwickelt. So konnte ich in Hinblick auf meine Reha direkt mit »meiner Willenskraft« und meinem »Fokus« arbeiten – beides gehörte zu meinem Handwerk als Sportlerin, dessen ich mich schlichtweg wieder bediente. Für mich war es eher »ein wahrer Kampf«, plötzlich auch ganz andere Eigenschaften leben zu müssen: Milde mit mir walten zu lassen, ruhig zu werden und zu lernen, stets liebevoll auf mich selbst zu blicken, mich und meine Bedürfnisse ernst zu nehmen. Dinge loszulassen, ein Gefühl von Freiheit zu verspüren, auch wenn ich nicht oben am Berggipfel stehe. Vom Gas runterzugehen und mit einem guten Gefühl auch mal zu pausieren. Situationen anzunehmen. Diese Eigenschaften braucht man nämlich, wie ich heute weiß, mindestens genauso, um sein Ziel zu erreichen. Auch wenn diese eher »weichen Faktoren« in der Regel in unserer Leistungsgesellschaft ein bisschen weniger hoch angesehen sind. Dabei braucht jeder noch so starke Wille ebenso viel Güte, Leichtigkeit und Liebe. Nur sie können dafür sorgen, dass die Quelle der Kraft auf Dauer nicht versiegt und sich der Erfolg langfristig und nachhaltig einstellen mag.

Mir ist es heute entsprechend ein besonderes Anliegen, meine Botschaft, welche ebenso diese weichen Faktoren berücksichtigt, auch in der Führungs- und Mitarbeiterebene sämtlicher Firmen zu platzieren und den Menschen damit auch zu »erlauben«, einmal vom Gas runterzugehen, schwach zu sein, zu scheitern und sich nicht immer nur mit letzter Gewalt über das nächste Limit zu pushen. »Pause ist Training«, hat mir schon mein Leichtathlethik-Dozent an der Sport-Uni immer wieder gepredigt.

Oft werde ich gefragt: »Gela, kannst du über diesen Unfall überhaupt noch sprechen? Nervt es dich nicht, darauf reduziert zu werden?« Aber ich lasse mich gar nicht darauf reduzieren. Ganz im Gegenteil. Ich spreche am liebsten von all dem, was durch meinen Schicksalsschlag alles Großartiges entstanden ist und was ich daraus für mich persönlich lernen und mitnehmen durfte. Die Erfahrungen, die ich durch meine Nahtoderfahrung schon in recht jungen Jahren machen musste, möchte ich in meinen Vorträgen teilen und Menschen, die vor großen Herausforderungen stehen oder zu zweifeln drohen, Mut machen, an sich und ihre innere Stärke zu glauben.

Ich nutze dieses dramatische Ereignis heute also vor allem als »Türöffner«, damit mir die Menschen zuhören, und freue mich, wenn ich deutlich machen kann, dass neben meinem Kampfgeist vor allem auch die Auseinandersetzung mit einer gewissen Milde mir selbst gegenüber und das Annehmen der verschiedenen Lebenssituationen maßgeblich zu meinem persönlichen Erfolg beigetragen haben.

Nachdem die stationäre Krankenhaus- und Reha-Zeit nach sechs Monaten für mich vorüber war und alles wieder etwas ruhiger wurde, hat mein persönlicher Kampf in vielerlei Hinsicht wohl sogar erst richtig Fahrt aufgenommen.

Denn es war vor allem der Kampf meiner Seele, von dem ich dir in diesem Buch berichten möchte. Unsere Seele ist so viel leiser und langsamer als unser oft so starker Körper und unser aufbrausender Geist. Meist schenken wir ihr erst so richtig Beachtung, wenn es schon fünf vor zwölf ist. Manchmal hören wir ihr ein Leben lang gar nicht richtig zu. Ich möchte dich einladen zu versuchen, deiner Seele ab und an Gehör zu schenken.

Mir wurde im Laufe der letzten Jahre intensiven Austauschs und knallharter Konfrontation auch einmal mehr auf so wunderbare Weise klar, wie unterschiedlich wir Menschen sind. Mit welch unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten wir ausgestattet sind. Keiner von uns gleicht dem anderen. Oft hätten wir ja gern genau von dem Attribut eine Scheibe mehr, welches uns fehlt und welches wir bei anderen bewundern. Doch ich kann dir an dieser Stelle schon einmal sagen: Du bist großartig, genau so, wie du bist. Das Schöne ist ja, dass wir alle ein Leben lang unsere Persönlichkeitsmerkmale entwickeln dürfen und unzählige Chancen zum geistigen und mentalen Wachstum bekommen, wenn wir diese nur erkennen und auch annehmen. Durch unsere Diversität können wir uns gegenseitig ausgleichen, helfen und stützen.

 

Ich hoffe, dieses Buch kann dir anhand vieler Beispiele in meinem 13-Punkte-Plan ein paar praktische Tipps und Herangehensweisen mit an die Hand geben, um auf deinem ganz eigenen Weg zum »Glücklichsein« wieder ein kleines Stück weiterzukommen – egal, ob du von deiner Persönlichkeit her eher »Typ Gela« bist, genau das Gegenteil oder irgendwo dazwischen liegst. Dieses Buch ist keine Anleitung zum Kämpfen, sondern eher eine Einladung, alle Kraft, Hoffnung und allen Mut, auch in den dunkleren Stunden des Lebens, in dir selbst zu suchen und vielleicht auch zu finden. Es ist eine Aufforderung, wieder mehr zu vertrauen, in dich, dein inneres Potenzial und in das Leben. Eine Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und hinzuschauen, wo wir eigentlich ganz gerne wegschauen. Aber es ist auch eine Aufforderung, niemals aufzuhören, nach den Sternen zu greifen und deine Träume zu leben.

Ich lade dich ein, Kapitel für Kapitel meine Gedanken auf dich wirken zu lassen und sie dann auf dich und deine derzeitige Lebenssituation zu übertragen. Fühle dich dabei immer frei zu sagen: Dieser Teil ist nichts für mich. Dafür sind wir ja alle viel zu verschieden, als dass jeder Vorschlag und jede Herangehensweise wie eine Schablone für jeden von uns passen würde. Mein Anliegen ist es vor allem, dich zum Nachdenken anzuregen, und vielleicht findest du ja einen kleinen Baustein, der dich persönlich wieder ein Stückchen weiterbringt, ganz egal, wo in deinem Leben du gerade stehen magst.

Als ich nach meinem Unfall so sehr auf der Suche nach dem Sinn des Ganzen war, habe ich sämtliche Literatur rauf- und runtergewälzt, habe Gespräche und Austausch mit Gleichgesinnten gesucht, und ich war so dankbar, wenn ich einen Satz, ein Zitat oder einen ganzen Absatz gefunden hatte, der mich berührte, der mich angesprochen und der es geschafft hat, mich wieder ein bisschen mehr begreifen zu lassen – unabhängig davon, dass wir sowieso immer alle unsere ganz eigenen Wahrheiten haben werden und unsere ganz eigenen Erfahrungen im Leben machen müssen. Vielleicht findest du so ein Zitat, so einen Satz oder Absatz ja in meinem Buch.

Die meisten Fragen, Gedankengänge und Anregungen, die ich aufwerfe, wirst du vielleicht ohnehin schon einmal gehört haben. Ich kann das Rad ja auch nicht neu erfinden. Aber ich finde es wichtig, sich gewisse Fragen immer wieder aufs Neue zu stellen. Und was ich kann, ist, dir sämtliche Gedankengänge mit Leben zu füllen und dich an meiner Reise, meinen Erfahrungen ein Stück weit teilhaben zu lassen.

Am Ende eines jeden Kapitels findest du ein paar Fragen, die du dir gerne selbst stellen kannst. Wenn du möchtest, nimm dir für die Beantwortung ein Blatt Papier und einen Stift, setze dich ganz in Ruhe irgendwo hin, entspanne dich und atme ein paarmal tief durch. Dann notiere dir die Fragen und versuche, für dich Antworten zu finden. Vielleicht möchtest du sie aufschreiben, vielleicht möchtest du sie aber auch lieber aussprechen und dabei mit deinem Handy aufnehmen, oder es reicht dir, sie einmal für dich in Gedanken zu formulieren. Ganz egal, mach das so, wie du dich wohlfühlst. Und lass dir ruhig Zeit mit dem Beantworten. Vielleicht findest du die Antworten auch bei einem Spaziergang durch die Natur oder nach einer Runde stiller Meditation. Achte nur darauf, dass du dir selbst gegenüber treu bleibst und wirklich ehrlich bist.

 

Ich wünsche dir ganz viel Spaß bei deiner Reise durch dieses Buch, beim Lesen, Fragenstellen, Suchen und Finden.

1 Weinen ausdrücklich erwünscht

Keiner muss immer stark sein!

Fragen, die in diesem Kapitel beantwortet werden

Wie schaffst du es, Schmerz, Trauer, Wut, Angst und Enttäuschung in einem sinnvollen Maß auszuleben?

Wie schaffst du es, dieses sinnvolle Maß zu erkennen?

Was kannst du in schmerzhaften Situationen konkret tun?

Wieso ist Weinen Balsam für die Seele?

 

Endlich zu Hause. Zu Hause in unserer Wohnung. Ein halbes Jahr hatte ich nach meinem schweren Bergabsturz mit stationären Klinikaufenthalten verbracht. Ein halbes Jahr voll mit Operationen, Hiobsbotschaften, Schmerzen, Tiefschlägen und dem unerbittlichen Kampf zurück auf meine zwei Beine. Ich war durch die Hölle gegangen und jetzt bereit für den Himmel. Nach sechs Monaten mit sehr eingeschränkter Bewegungsfreiheit und quasi ohne jegliche Privatsphäre war ich endlich wieder frei. Wie lange hatte ich den Moment herbeigesehnt, wieder zu Hause in meinem eigenen Bett schlafen zu können? Nicht mehr jede Nacht das Piepsen irgendwelcher Geräte zu hören, das Tapsen der emsigen Krankenschwesternfüße auf den langen sterilen Krankenhausfluren und schließlich das Öffnen der eigenen Zimmertür, wenn die Schwester nachts um zwei Uhr hereinkommt, um den Blutdruck zu messen. Wie sehr hatte ich mich auch in der darauffolgenden Reha nach einer freien, selbstbestimmten Zeiteinteilung meines Tages gesehnt? Ohne eng getaktete Pläne, die mir genau vorgaben, wann ich wo zu sein hatte und wann ich die Trainingsräume wieder zu verlassen hatte. Die ganze Zeit über hatte ich mich so nach meinem Zuhause gesehnt, danach, mein eigenes Leben wieder frei zu leben, so wie ich es vor meinem Unfall getan hatte. Ich wollte wieder ich sein. Die Entlassung aus den stationären Einrichtungen war immer eines meiner großen Ziele gewesen, neben all den Gipfeln natürlich, die ich danach so schnell wie möglich wieder erklimmen wollte. Irgendwie hatte sich über die ganze lange Zeit in meinem Kopf dieses Mantra manifestiert: »Wenn ich entlassen werde und nach Hause darf, ist alles wieder gut.« Vielleicht war das im Nachhinein betrachtet etwas naiv.

Die schwerste Zeit lag hinter mir, das stimmte natürlich. Schließlich ist niemand gern im Krankenhaus und lässt Woche für Woche chirurgische Eingriffe über sich ergehen. Elf Operationen hatte ich bisher hinter mich gebracht. Und trotzdem fühlte ich mich hier, in der neu gewonnenen Freiheit plötzlich einfach nur leer, müde und irgendwie ziellos. Ich wusste gar nicht, wie ich den neuen Raum füllen sollte. Hatte ich vergessen, wie man lebte? So fremdgesteuert, wie ich in letzter Zeit gewesen war, war das durchaus denkbar.

»Ich bin in der Arbeit, mach dir einen coolen Tag und genieß deine Unabhängigkeit!«, verabschiedete sich mein Freund Marcel an diesem Morgen, während er voll Zuversicht und Energie die Haustür öffnete und heraustrat.

»Logo, mache ich!« Ich nickte und rang mich zu einem Lächeln durch. Schließlich hatte Marcel etwas positiven Spirit meinerseits verdient! Er musste ebenso erleichtert sein wie ich, dass dieses Kapitel endlich vorbei war. »Mein Freund« war eigentlich seit zwei Monaten mein Mann, aber irgendwie war unsere Hochzeit so in meinem körperlichen »Kampf zurück« untergegangen, dass ich unseren neuen Status noch gar nicht wirklich realisiert hatte. Marcel hatte im letzten halben Jahr so sehr mit mir gelitten, gebangt und gehofft, und wann immer er es einrichten konnte, war er an meiner Seite gewesen. So viele Urlaubstage hatte er geopfert und noch mehr Abende und freie Stunden, um an meinem Krankenbett zu wachen. Er hatte sein soziales Leben auf ein Minimum heruntergefahren, um mich fast täglich zu besuchen und auf andere Gedanken zu bringen. Ich fühlte ihm gegenüber eine unglaubliche Dankbarkeit, die ich gar nicht in Worte fassen konnte. Marcel war es, bei dem ich mich abends ausgeweint hatte, wenn nichts mehr ging. Er war diesen langen Weg gemeinsam mit mir gegangen und hatte mich nie hängen lassen. Er war definitiv mit dafür verantwortlich, dass ich wieder dort stand, wo ich heute stehe. Nun war es an der Zeit, dass wieder etwas mehr Normalität in meinen, aber auch in seinen Alltag kam.

Von der Couch im Wohnzimmer aus starrte ich aus dem Fenster. Marcel war in der Zeit, in der ich in der Klinik war, mit all unseren Habseligkeiten hierhergezogen. Über zehn Jahre hatten wir zusammen in einer schönen Wohnung im Münchner Stadtteil Sendling gewohnt, unser neues Eigenheim befand sich nun im nahe gelegenen Umland östlich der Stadt. Meine Freunde und Familie hatten ihm beim Umzug geholfen und die neue Wohnung komplett eingerichtet. Ich sah mich um, ließ meinen Blick durch den ganzen Raum schweifen. Nett hatten sie es gemacht, einige dekorative Highlights gesetzt, neue Teile dazugekauft. Ich hatte eigentlich nichts auszusetzen. Vielleicht hätte ich es ähnlich eingeräumt, hätte ich es selbst gemacht. Trotzdem konnte ich in diesem Moment nicht behaupten, dass ich mich hier zu Hause oder besonders wohlfühlte. Ich hätte aber auch nicht sagen können, wo es mir in diesem Moment besser gegangen wäre. Oder doch? Ich schloss die Augen und atmete einmal tief ein. Gedanklich stand ich auf einem Berggipfel. Meine Hand lehnte am Gipfelkreuz, das mir Halt gab. Der Wind blies mir um die Nase, meine langen blonden Haare tanzten in einer kleinen Böe und strichen mir immer wieder sacht über meine Wangen. Ich war ganz allein und weit weg von allem, frei und unbeschwert. Ganz leicht fühlte ich mich dort oben, voll Energie und Elan. Ich öffnete die Augen und richtete meinen Blick wieder auf die kleinen, jungen Tannen, die draußen aus dem lichten Wald durch das große Fenster in mein Blickfeld traten. Ich lächelte bei ihrem Anblick.

Das würde sich sicher alles bald wieder normalisieren, und ich würde dieses seltsame Unbehagen abstreifen können. Damals, als wir Ende 2013 den Kaufvertrag für die Wohnung unterschrieben hatten, hatte ich mich schließlich so darauf gefreut! Darauf, etwas weiter raus aus der Stadt zu ziehen, in unsere eigenen vier Wände, mit mehr Platz und einer Umgebung, von der aus man direkt von der Haustüre aus mit dem Rad ins Grüne starten konnte, ohne sich von Ampel zu Ampel durch den Münchner Stadtverkehr zu schieben. Doch nun saß ich hier, und der Funke sprang irgendwie nicht über. Die Stadt fehlte mir kein bisschen, auch wenn ich die Vorzüge des Stadtlebens während meiner Studienzeit durchaus genossen hatte. Auch zu ländlich war es in der neuen Umgebung nicht. Oder war vielleicht genau das das Problem? Dass es irgendwie nicht Fisch, nicht Fleisch, nichts Halbes und nichts Ganzes war? Wir sahen zwar den Wald vom Fenster aus, doch mir fehlte die Weite hier in diesem Münchner Vorort. Für mich hätte es gern noch viel ländlicher sein können. Ich sehnte mich nach der Natur und der Ruhe, die diese für mich immer ausstrahlte.

Im Dachauer Hinterland im beschaulichen Markt Indersdorf in einem großen Haus mit Garten aufgewachsen, war ich es von klein auf gewohnt gewesen, ständig draußen unterwegs zu sein und Platz und Weite zu haben, wenn ich einen Fuß vor die Haustür gesetzt hatte. Statt in diesem Moment glücklich darüber zu sein, dass wir nun zumindest nicht mehr mitten in der Stadt lebten, frustrierte mich plötzlich die neue Wohnlage. Ich versuchte, die Gedanken darüber schnell wieder wegzuwischen, hatte ich doch in letzter Zeit viel schwerwiegendere Themen im Kopf gehabt. Es fühlte sich fast schon beschämend an, nun wegen des Wohnorts unglücklich zu sein, wo ich doch froh und dankbar sein musste, überhaupt am Leben zu sein. War es da nicht egal, wo ich lebte, wo es mir doch eigentlich an nichts fehlte und wir ein schönes Zuhause hatten?

Außerdem gab es jetzt doch Wichtigeres. Immer noch konnte ich nur mit Krücken gehen, und auch mein gesundheitlicher Kampf zurück ins Leben war noch lange nicht beendet. Von nun an jedoch war ich auf mich allein gestellt, was die Organisation meiner weiteren ambulanten Reha und insgesamt meines Lebens betraf. In Kliniken und stationären Reha-Einrichtungen lebt man ein bisschen wie unter einer Glasglocke, gut behütet und abgeschirmt vom normalen Leben, und es wird einem der Rücken freigehalten, sodass man sich voll und ganz auf die eigene Genesung konzentrieren kann. Alle Trainingsgeräte sind fußläufig zu erreichen. Man braucht kein Auto, keine Bahn, um erst einmal zur Trainingsstätte zu kommen, es gibt immer eine warme Mahlzeit, ohne dass man sich mit Krücken in die Küche stellen oder mit Einkaufstasche durch den Supermarkt humpeln muss. Ich hatte das, um ehrlich zu sein, bisher komplett ausgeblendet und dieses »Nach-Hause-Kommen« in meiner Vorstellung geradezu glorifiziert. Die neuen Herausforderungen, die das alles mit sich brachte, hatte ich nicht sehen wollen. Das wurde mir erst jetzt so richtig bewusst. Hier war niemand, der mir tagsüber das Essen zubereitet oder mich anderweitig entlastet hätte. Marcel ging wieder zur Arbeit, meine Eltern wohnten weiter weg. Freunde oder Bekannte ums Eck hatte ich in der neuen Nachbarschaft noch keine. Es war ja auch an der Zeit, dass ich mich wieder allein organisieren konnte und es schaffen würde, den Weg zur Reha mit der Bahn und zu Fuß selbst in Angriff zu nehmen. Jetzt, wo das erste Ziel erreicht war. Doch auch wenn ich bis dato eine Meisterin darin gewesen war, mir das alles schönzureden, war es gar nicht so sehr die Angst vor der nächsten körperlichen Herausforderung, die mich so aufwühlte. Ich spürte, dass ein ganz großer Kraftakt erst noch vor mir lag, ein ganz anderer, der mit meiner Genesung und der Organisation drum herum nichts zu tun hatte. Alles um mich herum – bis auf die neue Wohnumgebung – schien genauso zu sein wie vorher, und doch war alles anders. Ich war anders. Wo sollte die Reise nun hingehen?

Sollte ich wieder in meinen alten Job als freie TV-Redakteurin und Moderatorin bei einer Münchner Produktionsfirma zurück? Das Angebot stand zumindest. Ich meine, das war doch toll. Ich wusste es sehr zu schätzen, dass mich meine beruflichen Partner nicht hängen ließen und ich vor zwei Wochen sogar schon wieder ein Fotoshooting von der Reha aus absolviert hatte. Aber wollte ich das überhaupt? Wollte ich wieder zurück in meinen »alten« Job? Wer sollte ich künftig sein, wenn ich nicht Gela, die »Supersportlerin« und das »Model« war? Wie würde mein Leben aussehen? Wollte ich hier wirklich wohnen bleiben? Ich wusste es nicht. Ich wusste plötzlich gar nichts mehr. Ich hatte überhaupt keine Vision im Kopf. Alles war leer. Da kam kein Bild, ich konnte mich selbst nicht mehr sehen.

Doch diesen Gedanken wollte ich mich nicht hingeben, schließlich war ich gerade dem Tod von der Schippe gesprungen. War jetzt nicht die Zeit, einfach nur dankbar zu sein und das Leben zu genießen, das mir noch einmal geschenkt worden war? Dankbar zu sein, dass alle zu mir hielten? Dass ich als Selbstständige direkt wieder eine Jobperspektive hatte? Dankbar für meinen Mann, meine Familie und meine Freunde, die mich umsorgten und für mich da waren? Ich schämte mich dafür, dass diese Dankbarkeit gerade nicht aufkommen wollte und ich mich gedanklich an scheinbar so banalen Kleinigkeiten aufrieb. Aber waren es wirklich Kleinigkeiten? Der Wohnort? Der Job? Die Perspektive? Der Blick auf mich selbst? Im letzten halben Jahr war alles so weit in den Hintergrund gerückt. Nichts hatte mehr Platz gehabt, außer die stetige Verbesserung meiner Gesundheit im Hier und Jetzt. Mit 120 Prozent hatte ich Tag für Tag an dieser Genesung gearbeitet, war jeden Tag nur mit dem einen Ziel aufgestanden: wieder fit werden! Und jetzt ploppten all diese Themen plötzlich auf. Ich war überfordert. Es war aber auch skurril: Knallhart hatte ich das letzte halbe Jahr durchgezogen, oft gnadenlos mir selbst gegenüber. Und jetzt auf einmal war ich mut- und kraftlos. Jetzt, wo ich nicht mehr unter OP-Schmerzen litt oder mich auf den Reha-Geräten abmühen musste, sondern auf der heimischen Couch saß und hinaus auf die Tannenspitzen blickte, die sachte im Wind wippten.

Plötzlich liefen mir Tränen die Wangen hinunter. Wie Sturzbäche sprudelten sie nur so aus mir heraus. Ich erlaubte mir, meinen seelischen Schmerz und die Enttäuschungen zu spüren und zu weinen. Ich wusste noch nicht, wo die Reise hingehen würde und ob ich den Mut und die Kraft haben würde, mich mit all den nun aufkommenden Themen zu konfrontieren, aber das war im Moment auch gar nicht nötig. Es war einfach nur wichtig, den Schmerz, den ich noch gar nicht richtig zuordnen konnte, einfach zu spüren. Ihn herauszulassen. Das tat verdammt gut.

Sobald ich mich halbwegs wieder gefangen hatte, schlüpfte ich in meine Sportklamotten und stellte mich auf den Crosstrainer, den ich mir extra für meine Reha-Zeit zu Hause zugelegt hatte, und begann, Gas zu geben. So schnell ich konnte, zog und drückte ich mit den Armen und Beinen, um die Trainingsmaschine voll in Fahrt zu bringen. Der Schweiß tropfte mir von der Stirn, hinunter auf den Boden und begann, dort Pfützen zu bilden. Doch das war mir egal. Ich wollte nur weitermachen, schnaufte laut und energisch ein und aus, ein und aus, ein und aus. Ich kam in meinen ganz eigenen rhythmischen Flow. Ich spürte, wie die Energie wiederkam. Mit jeder Bewegung auf dem Crosstrainer fand ich mehr zurück in meine Kraft und wurde innerlich ruhiger. Meine Gedanken konnten abfließen. Ganz klar: Sport zu treiben und mich auszupowern war meine ganz persönliche Art der Meditation, mein persönliches Ventil, das mir half, mich wieder einzunorden und aufgestaute Gefühle rauszulassen.

Ich war und bin fast süchtig danach, intensiv Sport zu treiben. Vielleicht liegt es sogar nahe zu denken: »Ach, das ist doch ein tolles Ventil, das hätte ich auch gern. Hat sicherlich auch einige nette Nebeneffekte.« Vielen Menschen fehlt ja eher die Motivation, sich überhaupt zum Sport aufzuraffen. Sport zu treiben ist wichtig und toll, keine Frage. Aber sicherlich ist auch Sport nur zu einem gewissen Maß gesund, und heute weiß ich, dass ich Schmerz und Überforderung oft mit zu viel Sport verdrängt habe, anstatt mich ernsthaft damit zu konfrontieren. Von Läufern wird ja auch gern behauptet, dass sie einfach nur vor etwas weglaufen. So weit möchte ich nicht gehen, aber eine selbstkritische Betrachtungsweise ist immer sinnvoll. Und wenn ich heute ein zu starkes Bedürfnis habe, laufen zu gehen oder generell Sport zu machen, frage ich mich, ob es Dinge in meinem Leben gibt, vor denen ich gerade weglaufen möchte und ob es nicht besser wäre, mich mit ihnen zu konfrontieren. Auch wenn es schmerzt und ich im ersten Schritt nur weinen oder schreien möchte, muss genau das manchmal auch sein.

In meinem Fall war die Frustration darüber, dass ich nun zwar wieder zu Hause, aber immer noch nicht wieder richtig fit war, immens. Ich konnte noch nicht mal ohne Krücken gehen, und der Weg, der noch vor mir lag, schien mir unendlich lang. Meine Stärke, die mich durch das letzte halbe Jahr getragen hatte, war aufgebraucht. Ich wusste plötzlich nicht einmal mehr, ob ich überhaupt noch stark sein wollte, wie ich hier so saß – zu Hause und doch nicht zu Hause. Ich wusste nicht mehr, wo ich hingehörte.

Die Kunst liegt darin, Trauer abfließen zu lassen, aber nicht in Selbstmitleid zu ertrinken.

Die Psychologin hatte mir in der Klinik gesagt: »Du hast etwas verloren – dein bisheriges Leben –, also darfst du auch trauern, weil etwas weg ist, weil etwas fehlt.« Mir hat diese Aussage damals extrem geholfen. Bisher hatte ich mich Woche für Woche, Tag für Tag durchgebissen. Aber jetzt merkte ich, dass ich einfach mal durchhängen wollte. Und das ist auch wichtig und ab und an notwendig. Jeder Akku muss von Zeit zu Zeit geladen werden. Wenn wir ein Leben lang nur auf dem Gaspedal stehen, werden wir uns irgendwann überschlagen. Wichtig ist nur, dass wir in dieser Trauer, in dieser Planlosigkeit nicht langfristig stecken bleiben und nicht in Selbstmitleid zerfließen. Ich ließ sie also zu, die destruktiven Gedanken – zumindest eine Zeit lang, und es tat verdammt gut. So konnte ich alle in mir aufkommenden negativen Emotionen in Form von Tränen und Sport abbauen und mich innerlich reinigen.

 

 

Lass Frust, Wut und Schmerz heraus!

Dass es Situationen im Leben gibt, in denen wir einfach nur heulen, schreien oder wütend irgendwo dagegentreten wollen, kennen wir alle. Wenn uns das Leben mal wieder alles abverlangt, wir verzweifelt sind und nicht mehr weiterwissen, wir versagen, aufgeben wollen und uns alleingelassen fühlen. Vielleicht haben wir auch Liebeskummer oder einen geliebten Menschen verloren, oder wir stehen vor Herausforderungen, die wir glauben, einfach nicht allein bewältigen zu können. Wir haben Angst, fühlen uns unsicher und leer. Uns fehlen der Mut und die Kraft, Dinge wieder positiv zu sehen und energisch anzupacken. Manchmal weiß man auch gar nicht so genau, wo diese Leere herkommt, sie ist einfach da und nimmt uns völlig ein. Ein andermal reicht nur eine banale Kleinigkeit, die das Fass zum Überlaufen bringt oder uns von jetzt auf gleich explodieren lässt.

Aber – und diese Botschaft ist absolut zentral: Wir dürfen alles rauslassen! Natürlich sollen wir nicht den ganzen Tag herumschreien oder uns langfristig Trauerphasen hingeben und in Selbstmitleid ertrinken, es ist vielmehr ganz wichtig, immer wieder auch positiv nach vorne zu schauen. Aber wenn sich etwas in uns aufgestaut hat und wir uns erst einmal Luft machen müssen, ist das im ersten Schritt völlig okay. Diese Botschaft betrifft vor allem all die, die sich selten oder nie erlauben, ihre Emotionen in diesem Bereich auszuleben und Schwäche nur schwer zulassen können. Auch Männer dürfen und sollen weinen. Genauso, wie liebevolle Frauen und Mütter ihre Wut herausschreien dürfen, wenn es ihnen danach besser geht. Denn ungelebte und unausgesprochene Emotionen sind die schlimmsten. So habe ich es zumindest erlebt. Ich habe viel zu oft Dinge nicht aus- oder angesprochen und Trauer und Wut nicht zulassen können.

Jeder geht mit Stress- oder Konfliktsituationen unterschiedlich um, doch im Grunde gibt es drei Varianten: Entweder wir weinen, wir werden wütend, oder, und das ist wohl die am weitesten verbreitete Variante, wir werden still und machen die Sache irgendwie mit uns selbst aus.

Was bist du für ein Typ? Ich bin heute die, die sich entweder still umdreht und geht oder aber direkt zu weinen anfängt. Je nachdem, ob ich mir die Tränen noch verkneifen kann, bis ich den Raum verlassen habe, oder ob ich denjenigen, der mir gegenübersteht, so gut kenne und ihm genügend vertraue, um die Tränen einfach laufen zu lassen. Früher ist mir das mit dem Weinen meist sehr schwergefallen. Heute weiß ich, wie reinigend es sein kann, sich einen Moment lang einfach fallen zu lassen und sich seinen Gefühlen hinzugeben.

Emotionen sind prinzipiell etwas Wunderbares. Sie sind der Spiegel unserer Seele, sie drücken aus, was wir fühlen, sie helfen uns, uns mitzuteilen, wenn Worte keinen Platz mehr finden. Und sie sind so viel stärker und oft auch aussagekräftiger, als es ein Wort je sein könnte. Negative Emotionen herauszulassen ist unendlich wichtig, um wieder Platz für Positives zu schaffen und unsere Seele zu reinigen. Leider haben wir oft verlernt oder trauen uns nicht, diese Emotionen auch authentisch zu leben.

Mit dem Wütendsein und Lautwerden tue ich mich hingegen bis heute schwer. Sagen wir mal, ich übe es. Zu viel Wut auszuleben ist, wie oben schon kurz angesprochen, natürlich nicht gut, aber gar keine Wut zuzulassen, ist auch nicht gesund. Wie so oft ist der goldene Mittelweg auch hier nicht ganz verkehrt. Sonst staut sich etwas in uns an und findet seinen Weg dann durch Ersatzventile nach außen, die sich viel schlechter kontrollieren lassen. So wie das Wasser in einem verstopften Schlauch irgendwann aus einer Naht herausplatzt und eine ziemliche Sauerei anrichtet.

Ich habe in der Zeitschrift Happinez, die ich nach meinem Unfall geradezu verschlungen habe, mal gelesen, dass es vier Ur-Emotionen gibt, die alle ihre Berechtigung haben und ausgelebt werden wollen und sollen, damit sie in ihr positives Gegenstück umgewandelt werden können: Wut, Trauer, Leere und Angst.

Wenn ich mich recht erinnere, hieß es dort sinngemäß:

»Wir müssen Leere erfahren, um wieder Fülle und Lebendigkeit erfahren zu können. Erst durch die Angst entstehen auch Mut und Tapferkeit. Angst zeigt uns auf, was wir wirklich brauchen. Wut birgt das Potenzial von Kraft, Stärke, Kreativität, Motivation und Sinn für Gerechtigkeit. Und Trauer zeugt von der Fähigkeit zu lieben, Leichtigkeit und Vertrauen zu erfahren.«

Ist das nicht wunderbar? Alle von uns angestrebten Emotionen können wir erst in voller Stärke erfahren, wenn wir die vier Ur-Emotionen ehrlich ausleben.

Und wusstest du, wie viele positive Effekte das Weinen tatsächlich hat? Es mindert Stress, reinigt die Seele und hilft uns, positive Gefühle zurückzugewinnen. Auch wenn es uns oft unangenehm ist, vor anderen zu weinen, so kann genau das sehr befreiend und sogar gesund sein. Wer sich das Weinen zu häufig verbietet und die Tränen zurückhält, erhöht seinen Stresslevel und begünstigt damit Beschwerden wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Magenprobleme, Depressionen oder Angstzustände. Beim Weinen werden »giftige« Stoffe aus dem Körper gespült, die im Körper das Stresshormon Cortisol anheben. Zudem schüttet unser Körper unter anderem beruhigende Stoffe wie Endorphine aus, um unsere Gefühle wieder ins Gleichgewicht zu bringen.[1]

Frag dich doch mal, welche Ventile und Ersatzventile du hast, wenn du aus dem Gleichgewicht geraten bist, und ob du mit ihnen zufrieden bist? Wie lässt du deinen Frust raus, wenn du nicht weinst oder schreist? Verkriechst du dich mit der Chipstüte auf der Couch? Ertränkst du dich in Arbeit? Konsumierst du Alkohol, Zigaretten oder andere eventuell gefährliche Genussmittel? Hungerst du oder kompensierst negative Gefühle mit Essen? Neigst du dazu, dich selbst zu verletzen? Oder ist vielleicht Sex dein Ventil?

Ersatzventile gibt es unendlich viele, und einige sind sicherlich nicht gut und auch nicht zielführend.

Doch wie schafft man das, Schmerz, Wut, Trauer, Leere, Angst und Enttäuschung in einem sinnvollen Maß auszuleben, und woher weiß man überhaupt, wann dieses Maß erreicht ist? Bei dieser Frage hilft ein möglichst objektiver Blick von außen. Das können Freunde und Vertraute sein, oder auch ein Therapeut oder ein guter Coach. Auf jeden Fall solltest du dich an jemanden wenden, dem du zutraust, dass er dir offen und ehrlich seine Meinung sagt, auch auf die Gefahr hin, dass du diese gar nicht hören willst. Richtig gute Freunde sind nicht die, die dir »nach der Schnauze« reden, sondern die, die dich mit der Wahrheit konfrontieren.

Um noch einmal beim eigenen Beispiel zu bleiben: Meine Eltern und auch einige Freunde sagten mir vor meinem Unfall immer wieder, dass ich aus ihrer Sicht zu exzessiv laufen, mir zu wenige Pausen gönnen würde und dass sie meine »Sportsucht« für bedenklich hielten. Natürlich wollte ich das damals nicht hören, war vielmehr traurig über ihr Unverständnis für meine große Leidenschaft. Doch im Nachhinein muss ich zugeben, dass sie in gewisser Weise recht hatten. Ich war eine Zeit lang so vernarrt in den Wettkampfsport, dass ich meinem Körper nicht mehr die Pausen gönnte, die er gebraucht hätte, um wieder zu 100 Prozent leistungsstark zu sein. Dadurch war ich anfälliger für Verletzungen und energetisch nicht mehr ganz auf der Höhe. Und auch hier lag die Wahrheit in der Mitte. Erstaunlicherweise lässt man sich von besonders nahestehenden Personen oft ja nur schwer etwas sagen, was in der Regel jedoch nur am eigenen Ego liegt und keineswegs daran, dass die anderen tatsächlich im Unrecht wären.

Befrage also bezüglich deiner offensichtlichen Ventile gern mal ein paar deiner engsten Freunde oder Familienmitglieder. Finden sie, dass du generell zu weinerlich, zu negativ oder zu aufbrausend bist? In welchen Situationen nutzt du ihrer Meinung nach ungesunde Ersatzventile? Zur Eigenkontrolle kannst du dir außerdem angewöhnen aufzuschreiben, wann und warum du weinst, aufbrausend wirst oder vielleicht laut schreien musst. Das wird dir helfen, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie du mit deinen Emotionen umgehst.

Mein Geheimnis für einen sinnvollen Umgang mit negativen Gefühlen wie Angst, Frust, Trauer, Leere, Wut und Schmerz liegt hierin: Zum einen baue ich absolut auf die Kraft der Natur. Frische Luft, Bewegung und immer wieder kleine Auszeiten von dem, was einen gerade so in Wallung gebracht hat, wirken Wunder, du wirst sehen! Draußen kann man seine Gedanken neu sortieren und die Situation aus einem anderen Blickwinkel betrachten.

Außerdem muss wirklich alles raus, was sich an Gefühlen angestaut hat. »Schrei doch einfach mal laut«, hat mir meine Freundin Katja geraten, weil ich mich damit ja eher schwertue. Ein lauter, kräftiger Schrei kann sehr befreiend wirken. Ich gebe zu, das ist nicht ganz einfach, man will ja nicht, dass die Leute einen schräg anschauen, auch ich habe mich das zunächst nicht getraut, weder im Haus noch draußen in der freien Natur. »Was, wenn mich jemand hört? Was denken denn da die Nachbarn?«, habe ich mich gefragt. Irgendwann bin ich dann einfach in den Wald gestapft und habe drauflosgeschrien. Selten habe ich etwas so Reinigendes erlebt.

Wenn dir das laute Schreien erst einmal zu wild vorkommt, kann es auch sehr hilfreich sein, Worte oder Dinge, die dir auf dem Herzen liegen, einfach laut auszusprechen. Nur für dich oder auch vor anderen, wie es sich für dich am besten anfühlt. Alles ist besser, als Dinge in sich hineinzufressen. Natürlich mag es für einen Freund nicht immer toll sein, nur der Kummerkasten zu sein, und es gibt Menschen, die dazu neigen, die ganze Zeit nur vor anderen zu jammern und ihnen ihr Leid zu klagen. Sich in Selbstmitleid zu ertränken bringt keinen weiter und zieht auch das Gegenüber auf Dauer nur runter. Aber ein konstruktives, ehrliches Gespräch macht Spaß und kann eine Freundschaft durchaus auf ein neues Niveau heben.

Fragen, die du dir stellen solltest

Hast du schmerzhafte Erfahrungen, Niederlagen, anderweitige Herausforderungen oder Krisen erlebt, die du für dich noch nicht voll verarbeiten konntest?

Fühlst du in dir Wut, Trauer oder auch Angst, die besser heraussollten?

Kannst du dich fallen lassen, wenn du ein Problem hast?

Hast du jemanden, dem du vertraust, bei dem du dich ausweinen und dem du dich anvertrauen kannst?

Machst du Kummer lieber mit dir selbst aus? Fühlt sich das für dich gut an, oder willst du das ändern?

Welche Methode hast du für dich, Wut, Trauer oder Schmerz loszulassen?

Bist du mit dieser Methode zufrieden oder würdest du gern etwas ändern/ergänzen?

 

Meine Tipps für dich

Lass deinen Schmerz, deine Wut und deine Trauer abfließen …

  • durch Weinen
  • durch Bewegung, z. B. Laufen, Wandern, Krafttraining, Boxsack, Yoga, Meditieren etc.
  • durch Naturnähe, Barfußgehen
  • dadurch, Worte laut auszusprechen/laut rauszuschreien
  • durch Gespräche mit Freunden, Vertrauten oder der Familie und/oder professioneller Hilfe