VORWORT
Noch immer sind wir von römischen Herrschern umgeben. Seit annähernd zweitausend Jahren ist Rom nicht mehr die Hauptstadt eines Imperiums, aber noch heute kennt – zumindest im Westen – fast jeder den Namen und manchmal sogar das Bild Cäsars oder Neros. Ihre Gesichter begegnen uns nicht nur in Museen und Galerien, sondern auch in Filmen, Werbung und Zeitungskarikaturen. Ein Karikaturist braucht sehr wenig (einen Lorbeerkranz, Toga, Lyra und ein paar Flammen im Hintergrund), um aus einem modernen Politiker einen »Nero, der fiedelt, während Rom brennt«, zu machen, und die meisten von uns verstehen die Pointe. In den vergangenen gut fünfhundert Jahren wurden diese Kaiser und manche ihrer Ehefrauen, Mütter, Söhne und Töchter unzählige Male in Gemälden, Tapisserien, Silberzeug, Keramiken, Marmor und Bronze abgebildet. Nach meiner Einschätzung gab es vor dem »Zeitalter der mechanischen Reproduktion« in der westlichen Kunst mehr Darstellungen römischer Kaiser als von allen anderen Persönlichkeiten, abgesehen von Jesus, der Jungfrau Maria und einer Handvoll Heiliger. Caligula und Claudius finden über die Jahrhunderte und die Kontinente hinweg mehr Resonanz als Karl V. oder Heinrich VIII. Ihr Einfluss reicht weit über die Bibliothek oder den Hörsaal hinaus.
Mit diesen antiken Herrschern habe ich mich in meinem Leben mehr befasst als die meisten Menschen. Seit nunmehr vierzig Jahren machen sie einen wesentlichen Teil meiner beruflichen Tätigkeit aus. Ich habe ihre Äußerungen von ihren Rechtsurteilen bis hin zu ihren Scherzen genauestens studiert. Ich habe ihre Machtbasis analysiert, ihre Nachfolgeregelungen (oder deren Fehlen) zerpflückt und oft genug ihre Dominanz bedauert. Ich habe mir ihre Köpfe auf Kameen und Münzen angesehen, und ich habe Studenten beigebracht, sich an dem zu erfreuen, was römische Schriftsteller über sie zu sagen hatten, es aber auch eingehend zu hinterfragen. Die Schauergeschichten über Tiberius’ Eskapaden in seinem Swimmingpool auf Capri, die Gerüchte über Neros Begierde nach seiner Mutter und über Domitians Umgang mit Fliegen (die er mit seinem Schreibgriffel quälte) kommen in der modernen Vorstellungswelt gut an und verraten uns sicher eine Menge über die Ängste und Fantasien der alten Römer. Aber wie ich allen, die solche Berichte gern für bare Münze nehmen, immer wieder sage, sind sie nicht unbedingt »wahr« im üblichen Sinne des Wortes. Ich bin von Beruf Altertumsforscherin, Historikerin, Professorin, Skeptikerin und gelegentlich Spaßverderberin.
In diesem Buch richte ich meine Aufmerksamkeit auf die modernen Kaiserbilder, die uns umgeben, und stelle einige der grundlegendsten Fragen dazu, wie und warum sie produziert wurden. Warum haben Künstler seit der Renaissance diese antiken Charaktere in so großen Mengen und auf so vielfältige Weise dargestellt? Warum haben Kunden diese Werke gekauft, seien es nun aufwendige Skulpturen oder billige Plaketten oder Drucke? Was bedeuten die Gesichter längst verstorbener Autokraten, von denen weitaus mehr für ihre Schurkereien als für ihr Heldentum berühmt sind, einem modernen Publikum?
In den folgenden Kapiteln spielen die antiken Kaiser eine herausragende Rolle, besonders die ersten »zwölf Cäsaren«, wie sie häufig genannt werden (siehe Tafel 1) – von Julius Cäsar (ermordet 44 v. Chr.) über Tiberius, Caligula, Nero und weitere bis hin zum Fliegen quälenden Domitian (ermordet 96). Nahezu alle modernen Kunstwerke, die ich bespreche, entstanden im Dialog mit den römischen Darstellungen ihrer Herrscher und mit all den antiken Berichten über deren Taten und Missetaten, so weit hergeholt sie auch sein mögen. In diesem Buch teilen sich die Cäsaren das Rampenlicht jedoch mit einer großen Bandbreite moderner Künstler: Manche wie Mantegna, Tizian oder Alma-Tadema sind in der westlichen Tradition wohlbekannt, andere gehören Generationen von mittlerweile anonymen Webern, Kunsttischlern, Silberschmieden, Druckern und Keramikern an, die einige der beeindruckendsten Bildnisse dieser Cäsaren geschaffen haben. Sie teilen sich das Rampenlicht wiederum mit einer Auswahl von Humanisten der Renaissance, Altertumsforschern, Gelehrten und modernen Archäologen, die viel Energie darauf verwandt haben, diese antiken Gesichter der Macht – richtig oder falsch – zu identifizieren oder zu rekonstruieren, und mit einer noch größeren Bandbreite von Menschen, von Reinigungskräften bis hin zu Höflingen, die von dem, was sie sahen, beeindruckt, aufgebracht, gelangweilt oder verwirrt waren. Mit anderen Worten: Mich interessieren nicht nur die Herrscher und die Künstler, die sie in Bildnissen wieder aufleben ließen, sondern auch wir, die wir sie uns anschauen.
Ich hoffe, dass uns einige Überraschungen und unerwartet »extreme« Aspekte der Kunstgeschichte erwarten. Wir werden Kaiser an äußerst überraschenden Orten begegnen, von Schokolade bis hin zu Tapeten des 16. Jahrhunderts und schrillen Wachsfiguren aus dem 18. Jahrhundert. Wir werden über Statuen rätseln, deren Datierung bis heute so umstritten ist, dass die Experten sich nicht einigen können, ob es sich um antike römische Werke, moderne Pastiches, Fälschungen, Repliken oder kreative Renaissance-Beiträge zur Tradition der römischen Kaiserzeit handelt. Wir werden der Frage nachgehen, warum so viele dieser Bildnisse jahrhundertelang fantasievoll anderen Personen zugeordnet oder durcheinandergebracht wurden: Ein Herrscher wurde für einen anderen gehalten, Mütter und Töchter verwechselt, Frauengestalten der römischen Geschichte als männlich (fehl)gedeutet oder umgekehrt. Und wir werden anhand erhalten gebliebener Kopien und anderer schwacher Hinweise eine verloren gegangene Reihe von Porträts aus dem 16. Jahrhundert rekonstruieren, die Menschen aus der römischen Kaiserzeit zeigten und heute nahezu in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie damals so bekannt waren, dass sie die in ganz Europa gängige Vorstellung der Cäsaren prägten. Mein Ziel ist, aufzuzeigen, warum Bildnisse dieser römischen Kaiser – obwohl sie vielleicht Autokraten und Tyrannen waren – nach wie vor in der Kunst- und Kulturgeschichte eine Rolle spielen.
Die Ursprünge dieses Buches gehen auf die A.W. Mellon Lectures in the Fine Arts zurück, die ich im Frühjahr 2011 in Washington, D. C., gehalten habe. Seitdem habe ich neues Material entdeckt, neue Kontakte geknüpft und einige meiner Fallstudien eingehender (und in unterschiedliche Richtungen) erforscht. Aber das Buch beginnt und endet ebenso wie die Vorlesungen mit einem merkwürdigen Objekt, das früher nur einen Steinwurf vom Vortragssaal der National Gallery of Art entfernt stand, in dem ich meine Vorträge hielt: kein Kaiserporträt, sondern ein großer römischer Marmorsarg oder Sarkophag, der – wie manche glaubten und in einem entsprechenden Hype verbreiteten – einst als letzte Ruhestätte eines Kaiser gedient hatte.