Für meine Schwester Sabrina.
Wir sind zwar nicht Mathilda und Alice,
ihnen in manchen Dingen aber ähnlich.
Ich vergebe dir, dass du mich einmal dazu
gebracht hast, ein Stück Schokolade zu essen,
das mit einem Haarknäuel gefüllt war.
Ein bisschen.
– L. B.

Eine höfliche Vorbemerkung

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie du dir vielleicht schon gedacht hast, ist dies ein völlig unsinniges Buch.

Gleichwohl scheint es mir angebracht, dich daran zu erinnern, dass der Verrückte Hutmacher eine fiktive Person ist, die nicht mit den strengen Regeln unserer Welt in Einklang steht.

Soll heißen: Quecksilber ist ein tödliches Gift.

Von Hutmachern hieß es im neunzehnten Jahrhundert, sie würden verrückt werden, weil sie bei ihrer Arbeit mit Quecksilber in Berührung kommen. Tatsächlich litten sie mitunter sehr lange an den Folgen einer Quecksilbervergiftung.

Heutzutage darf man Fische aus vielen Flüssen und Seen in Amerika nicht mehr essen, weil der Gewässergrund mit Quecksilber verseucht ist, das ewig dort bleiben wird, als Folge industrieller Umweltverschmutzung.

In dieser Geschichte trinkt der Hutmacher Quecksilber.

Das solltest du, liebe Leserin, lieber Leser, nicht tun.

Es würde dich umbringen.

– L. Braswell

Alice, wie ihr sie in Erinnerung habt

Erstes Kapitel

Die Morgensonne warf ein fröhliches Hallo auf die Tapetenwände eines ebenso fröhlichen Schlafzimmers. Über Nacht hatte es geregnet, ganz ordentlich, muss man sagen, und der Tag konnte frisch gewaschen und voller Eifer beginnen. Ein kühler Lufthauch drang durch das geöffnete Fenster, keck und fordernd. Ein Schwarm Spatzen, der seit einer Woche seine Nester draußen gebaut hatte, flatterte aufgeregt hin und her, mal in wirrem Durcheinander, mal in geballter Formation.

Sogar das hämmernde Klappern von Mrs. Anderbees Schuhsohlen auf dem Fußboden im Erdgeschoss klang heute elastischer und energischer als sonst.

Kopf und Hals des Mädchens, das friedlich in einem Bett mit Messingrahmen lag, wurden von einem goldenen Haarschopf umrahmt, der wie der Heiligenschein eines Engels wirkte. Es regte sich und glitt vom Schlaf langsam in den Wachzustand, als es die vielen fröhlichen Geräusche um sich herum wahrnahm. Alice schlug die Augen auf, und ihre langen Wimpern wiegten sich wie Weizenhalme im Sommerwind.

„Heute ist der perfekte Tag für ein Abenteuer!“, rief sie aus.

Sie lächelte, erfreute sich kurz an ihrem glorreichen Entschluss und sprang aus dem Bett. Dinah, die Katze, öffnete missmutig ein Auge und befand den Tag für wenig vielversprechend, woraufhin sie sich ausstreckte – an der Stelle, wo eben noch die Füße ihrer Herrin gelegen hatten –, das Auge wieder zukniff und erneut einzuschlafen geruhte.

„Tut mir leid, altes Mädchen!“, sagte Alice und gab ihr einen Kuss. „Aber tempus fugit, wie du weißt. Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt!“

Natürlich konnte ein abenteuerlustiges Mädchen in dieser Zeit und an diesem Ort nicht einfach im Nachthemd aus der Tür rennen. Das wäre skandalös gewesen. Daher musste Alice sich zunächst dem langwierigen Prozess des Ankleidens unterziehen und alles anlegen, was sie zu einer respektablen jungen englischen Dame machte. Und das waren:

Unterhosen, die ihr bis zu den Knien reichten.

Eine Krinoline, die wie eine Kombination aus Bienenstock und Vogelkäfig aussah. Sie bestand vor allem aus einer Reihe von Metallreifen, die ihren Körper von den Waden bis zur Hüfte umgaben und nach oben hin immer enger wurden. Ihr Zweck war, das Kleid zu halten, das darüber gezogen wurde, damit es wie eine riesige Glocke um ihren Körper lag und ihre Beine wie zwei Klöppel wirken ließ.

Ein Korsett. Sie schnürte es nicht eng, auch wenn die Mode und ihre Freundinnen das verlangten. In dieser Hinsicht war Alice sich mit ihrer Schwester einig: Dieses Ding war einfach lächerlich. Ihre Hüfte war schmal genug, vielen Dank auch, und sie überließ dem Korsett jene Funktion, die ihm hauptsächlich zukam: ihren Rücken zu straffen und ihre weiblichen Attribute zur Geltung zu bringen.

Ein Unterrock.

Noch ein Unterrock.

Das eigentliche Kleid. Sommerleicht und blau-weiß kariert.

Jacke und Hut.

Und zu guter Letzt eine Handtasche, besser gesagt, ein geräumiger Tornister zum Umhängen.

Alice legte alles an, so schnell es ging, und wäre beinahe übermütig die Treppe hinuntergehüpft wie ein Mädchen, das deutlich jünger war als achtzehn Jahre. Im letzten Moment erinnerte sie sich daran, dass sie leise gehen musste, aber da war es schon zu spät.

„Alice!“, ertönte eine schrille weibliche Stimme. Das war Mathilda, ihre Schwester. Natürlich.

Nun, da man sie bemerkt hatte, konnte sie auch erst mal frühstücken.

„Guten Morgen, Mutter, Vater, Schwester“, sagte sie würdevoll und eilte ins Speisezimmer. Ihre Familie hatte sich am Ende des langen Esstischs versammelt wie eine Gruppe von Eichhörnchen, köpfte weichgekochte Eier, strich Marmelade auf Toastscheiben, nippte an Tee und Kaffee und wirkte völlig ungezwungen in diesem formalen Rahmen eines Zimmers, das mit ungeheuer viel Plunder angefüllt war. Ihre Mutter hielt ihr eine schlaffe Wange zum Kuss hin, und Alice gehorchte. Der Kopf ihres Vaters war fast vollständig hinter einer Zeitung verschwunden, aber es gelang ihr trotzdem, ihm ein Küsschen zu geben, dicht neben eine seiner Koteletten.

Ihrer Schwester gab sie einen herablassenden Klaps auf die Schulter, als würde sie ein paar Schuppen wegstreichen.

„Schon verheiratet?“, fragte ihr Vater hinter der Zeitung.

„Nein, Papa.“

„Auf dem Weg dorthin?“

„Nein, Papa.“

„Hm. Na schön.“ Er schüttelte die Zeitung, um einen Knick zu beseitigen und fuhr fort, über Vorkommnisse in fremden Ländern zu lesen, was seine Lieblingsgeschichten waren.

„Denkst du wirklich, dass das schön ist, Papa?“, fragte Mathilda. Sie war streng, schön auf eine einschüchternde Art, mit dunklen Augen und Wimpern und Haaren, wogegen die ihrer Schwester ganz hell waren. Ihr dunkles Kleid war so eintönig und trübselig, wie Alices blau-weiß kariertes fröhlich und sommerlich war. Aber wenn sie jemals den Versuch unternommen hätten, auszugehen – und Mathilda sich über das Haarebürsten hinaus um ihr Äußeres bemüht hätte –, hätten sie das ganze Städtchen Kexford erobern können.

Nicht, dass Alice Kexford erobern wollte. Aber zumindest eine Party wäre schon ein echter Knüller gewesen.

„Sie ist schon achtzehn Jahre alt“, stichelte Mathilda und strich mit ernster Miene Marmelade auf ihren Toast.

„Und soweit ich weiß, bist du bereits sechsundzwanzig“, stellte ihre Mutter fest.

Ich habe Aussichten!“

„Ja, ja, hast du“, sagte ihre Mutter hastig und beschwichtigend.

„Ich werde meine kleine Alice so lange wie möglich bei mir behalten“, verkündete ihr Vater hinter der Zeitung. „Misch dich da bloß nicht ein.“

„Mein guter Freund Mr. Headstrewth hat einen Freund namens Richard Coney“, erzählte Mathilda und wandte sich an Alice, ohne weiter auf ihre Eltern zu achten. „Ich glaube, ich habe dir schon mehrfach von ihm erzählt. Hast du ihn nicht sogar einmal getroffen? Ein sehr intelligenter junger Mann. Gut aussehend. Mit großartigen Zukunftsaussichten. Er arbeitet für Gilbert Ramsbottoms Wahlkampagne. Ich habe ihn eingeladen …“

„Oh, er ist wirklich reizend und überaus interessant, fantastisch geradezu. Halte mich bitte über sein Wirken auf dem Laufenden, unbedingt! Guten Morgen und auf Wiedersehen!“

Alice zwinkerte ihrer Mutter zu, die sich arg zusammenreißen musste, um nicht aufzulachen.

Dann lächelte sie fröhlich und eilte davon. Erst als Mathilda sich verstimmt wieder ihrem Frühstück zuwandte, bemerkte sie, dass ihr sorgfältig gebutterter und mit Marmelade bestrichener Toast verschwunden war.

Alice lief die sonnenbeschienene Straße entlang und genoss ihr gestohlenes Frühstück, das mit großer Hingabe und Akribie bestrichen worden war. Nachdem sie sich Mund und Wangen mit dem Handrücken abgewischt hatte wie eine Katze, hielt sie ihr Gesicht der Sonne entgegen und erfreute sich an der Wärme, die ihre Haut streichelte. Sie rückte ihren Hut zurecht und …

„Ach du liebe Güte!“

Sie hatte ihre Handschuhe vergessen.

„Bei meinem Fell und meinen Schnurrbarthaaren“, seufzte sie. „Ich sehe nicht respektabel aus.“

Kurz überkam sie ein eigenartiges Gefühl. Es war nicht direkt Traurigkeit. Aber es war auch nicht so etwas wie Nostalgie. Dieses Gefühl, was immer es auch war, beinhaltete einen goldenen Tropfen Glückseligkeit und fühlte sich warm und angenehm an wie das Sonnenlicht. Eine Erinnerung an alte Träume, die so abgenutzt waren wie ein altes Kissen, von dem man sich aber trotzdem nicht trennen mochte.

Wunderland.

Die Einzelheiten waren schon vor langer Zeit verblichen, aber das Gefühl war geblieben: Abenteuer, Magie, faszinierende Kreaturen. Es stimmte schon, nicht all ihre Abenteuer im Wunderland waren lustig und ungefährlich gewesen. Nicht alle Personen dort waren nett oder höflich zu ihr gewesen. Sogar einige Blumen dort waren gewalttätig.

Und die Herzkönigin! Sie hatte Alice den Tod gewünscht! „Herunter mit ihrem Kopf!“ Dieser Satz jagte ihr immer noch einen Schauer über den Rücken.

Aber …

Seither hatte sie nicht mehr einen solchen Traum gehabt.

„Was für ein Unsinn.“ Alice schüttelte den Kopf. „Heute ist ein großartiger Tag! Gehen wir also los und suchen das Zauberhafte um die Ecke!“

Um die Ecke, das war natürlich Kexford, eine hübsche kleine Stadt mit vielen Professoren, würdigen Gebäuden, grünen Parks und schimmernden Kanälen. Es gab hier leuchtend weiße Fußwege, altertümliche Steinhäuser und Gärten, die so klein und gepflegt waren, dass sie wie Schmuckstücke aussahen. Alles war ordentlich und perfekt und alt an diesem weihevollen Ort – sogar die trunksüchtigen Studenten, die in ihren Roben zu den Vorlesungen eilten, nachdem sie die Nacht hindurch gefeiert und über Petrarcar diskutiert hatten.

Das Haus von Alice lag nördlich des Universitätsviertels, wo es viele Gärten und Rasenflächen gab. Von dort war es nicht weit bis zur Innenstadt, aber weit genug, um morgens um drei Uhr nicht die „Gaudeamus igitur“-Gesänge zu hören.

Nachdem sie vor langer Zeit aus ihrem zauberhaften Traum erwacht war, hatte die kleine Alice es sich zur Aufgabe gemacht, in ihrer Freizeit die Stadt nach Dingen abzusuchen, die sie an das Wunderland erinnerten. Kein Ort war vor ihrer Neugier sicher. Kein Glockenturm, in den sie schleichen, keine Seitengasse, in der sie verschwinden konnte, wenn ihre Eltern gerade wegschauten. Oben, unten, rechts, links und geradeaus, nirgendwo gab es einen Stein, den sie nicht schon umgedreht hatte.

Meist suchte sie unten: nach Kaninchenhöhlen, Pilzen, Raupen, großen Spinnennetzen, Speiseaufzügen oder überraschend kleinen Türen in den Häusern anderer Leute, wo es sich nicht gehörte, in dunklen Ecken herumzustöbern.

In ihrer Schatzkiste aus Holz lagen lediglich die üblichen Dinge, die Kinder so sammelten: kleine Messingschlüssel, Glasfläschchen, Proben von ungewöhnlich schmeckenden Keksen, ein linker weißer Handschuh, ein rechter nicht-weißer Handschuh, sorgfältig beschriftete Zettel mit den Aufforderungen ISS MICH und TRINK MICH, so schnörkelig wie möglich geschrieben, um ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.

Alice war kein miesepetriges Mädchen gewesen – wahrhaftig nicht –, aber manchmal fragte sie sich, ob sie nicht selbst daran schuld war, dass sie nicht mehr vom Wunderland geträumt hatte.

„Bei allem albernen Unsinn –

dies ist die dümmste Teegesellschaft,

der ich jemals beigewohnt habe!“

„Genug, es reicht jetzt mit diesem Unsinn.

Ich gehe nach Hause – auf direktem Weg.“

„Oh, bitte nicht! Keinen Unsinn mehr.“

Keinen Unsinn mehr. Jetzt hatte sie es selbst gesagt. Und ihr Unterbewusstsein hatte gehorcht und ihre nächtlichen Exkursionen auf eine Welt ohne Unsinn beschränkt.

Also hatte Alice versucht, die wenigen Dinge aus ihrem Traum, an die sie sich erinnerte, zu zeichnen – die Grinsekatze, das weiße Kaninchen, einen kleinen goldenen Schlüssel – oder auch die eigenartigen Dinge, die sie entdeckte, wenn sie herumsuchte – einen Studenten mit erstaunlich spitzen Ohren, einen interessanten Klumpen Moos, eine Mauer mit Weinranken, die aussahen, als könnte man sie zur Seite schieben und so eine versteckte Tür entdecken, als Tor zu einer fantastischen Welt.

„Hm“, hatte ihr Vater beim Betrachten ihrer Zeichnungen gesagt.

„Auch auf meiner Seite der Familie gibt es niemanden mit künstlerischer Begabung“, hatte ihre Mutter kommentiert.

„Sie bemerkt erstaunlich viele … merkwürdige Dinge. Auch wenn sie sie nicht … reproduzieren kann.“

„Ja, sie verbringt viel Zeit damit, Dinge zu bemerken. Vielleicht sollte sie sich etwas mehr konzentrieren – also, äh, weniger zeichnen natürlich, denke ich?“

Und da war Tante Vivian hereingekommen.

Sie konnte ebenfalls nicht zeichnen, aber sie konnte Dinge aus Lehm formen, besuchte literarische Salons, war gelegentlich in Skandale verwickelt und trug Hosen wie ein Grubenarbeiter. In ihrem Haus gab es etliche Lampen mit Fransenschirmen, Kunstwerke ihrer Freunde und Freundinnen, Räucherstäbchen und Samt. Sie war auch nicht verheiratet. Tatsächlich war sie genau das, was man gemeinhin als „schwarzes Schaf der Familie“ bezeichnet.

Und sie half ihrem Bruder und seiner Frau und auch deren Tochter, indem sie diese Rolle perfekt spielte: Sie hatte ihrer Nichte einen Fotoapparat geschenkt.

Eins der neuesten Modelle, eine Phoebus Box-Kamera. Es war ein hübscher kleiner Kasten, den man überall mit hinnehmen konnte, er hatte weder Stativ noch Balg. Man konnte ihn in einer mittelgroßen Handtasche oder einem Tornister unterbringen und schnell hervorziehen, um etwas Interessantes aufzunehmen – wenn die Lichtverhältnisse es gestatteten.

Tante Vivian hatte bereits eine Dunkelkammer, um die belichteten Glasplatten zu entwickeln. Sie war berühmt für die Kostümtableaus, die sie in ihrem Salon mit einer traditionelleren und sehr großen Portraitkamera aufnahm.

Alice war begeistert. Der ganze Aufnahmeprozess hatte tatsächlich etwas Wunderländisches: Licht und Schatten, Spiegel und Glas, Linsen und Bilder wirkten auf magische Weise zusammen.

Ein Nebeneffekt ihres neuen Hobbys war, dass sie viel mehr Zeit mit ihrer Tante verbrachte, zur großen Erleichterung ihrer Eltern, die sich Sorgen machten, weil sie ganz allein durch die Straßen von Kexford streifte, und zur Beunruhigung ihrer Schwester, die glaubte, Tante Vivian werde einen schlechten Einfluss auf sie haben, weniger im modernen als im lasterhaften Sinn. Dabei hätte Mathilda sich nicht allzu viele Sorgen machen müssen, denn Alice liebte ihre Tante zwar, aber sie war jetzt achtzehn und hatte eigene Interessen, die nichts mit Künstlern, Vermouth, Mohnblumen oder Hosen zu tun hatten.

Alice benutzte die Kamera, um alles zu dokumentieren, was auch nur im Entferntesten mysteriös war. Sie verbrachte ihre Tage mit dem, was sie „Foto-Gänge“ nannte. Sie suchte nach Objekten oder Menschen, bei denen sie etwas Verborgenes, Entrücktes oder Abseitiges vermutete, das sie mit ihrer Kamera herauszulocken versuchte. Wenn sie ein solches Objekt gefunden hatte, arbeitete sie lange und hart daran, die Aufnahme zu komponieren, manchmal sogar mithilfe von Spiegeln oder einer Lampe, wenn es in der jeweiligen Gasse zu dunkel war. Die Bilder entwickelte sie dann in der Dunkelkammer ihrer Tante und breitete sie in ihrem Zimmer aus, betrachtete sie eingehend und versuchte, aus dem, was sie sah, eine andere Welt heraufzubeschwören. Glitzernde Tautropfen auf einem Spinnennetz, düstere Dachkammern, ein Haufen Abfall, unter dem sich womöglich ein Monster oder ein Gedicht verbarg. Sie betrachtete alles mit der elfenhaften Aufmerksamkeit eines Kindes, das die Welt gleichzeitig mit unschuldigen und wissenden Augen sieht.

Ihren Eltern und ihrer Schwester erzählte sie nichts von ihren Exkursionen in die weniger hübschen Ecken von Kexford. Aber gerade dort, wo die Dinge nicht so sauber und perfekt und ordentlich waren, glaubte sie, konnten Magie und Unsinn aufblühen.

Und dorthin zog es sie an diesem glorreichen Tag.

Die Straße entlang nach Süden … und dann Osten, fort von den hübschen Anlagen des Universitätsviertels und den lästigen Studenten. Sie nahm den Weg, der sie an Mrs. Yaos Teeladen vorbeiführte. Eigentlich war es ein viel zu schöner Tag, um eine Tasse Oolong zu trinken und zu tratschen, und außerdem war sie noch zu satt von ihrem gestohlenen Marmeladentoast, um sich nach einem Milchbrötchen zu sehnen. Aber sie betrat dennoch die geschwungene Gasse, winkte und schenkte der Frau hinter dem Schaufenster ein Lächeln. Mrs. Yao erwiderte das Lächeln und winkte zurück. Sie servierte ihren Tee in bunten, nicht zueinander passenden Tassen und Untertassen aus England, China oder Russland, was tatsächlich magisch war und ein wenig ans Wunderland erinnerte.

Hinter dem Teeladen, unter einem Regenrohr, wuchs ein kleines Farnpflänzchen, das letzte Woche noch nicht dort gewesen war. Alice bemerkte sofort das frische Grün, das gar nicht zu diesem Ort passte, und die ineinander verdrehten, noch nicht aufgegangenen Blattwedel. Eindeutig magisch. Sie prüfte die Lichtverhältnisse und verzog traurig das Gesicht. In der Gasse war es zu dunkel, und sie hatte weder Lampe noch Spiegel dabei und nur noch wenige Fotoplatten übrig. Die durfte sie nicht für eine schlechte Aufnahme verschwenden.

„Tut mir sehr leid, mein guter Farn“, sagte sie und machte einen Knicks. „Vielleicht das nächste Mal, wenn du ein wenig gewachsen bist.“

Oder dich geöffnet hast wie ein Teleskop, genau genommen.

Sie folgte der gewundenen Straße, erreichte ein Gewirr aus alten Häusern, bückte sich, um einen niedrigen Bogengang zu passieren, und erreichte endlich ihr Ziel. Früher hatte man diesen Bereich offiziell Wellington Square genannt, aber inzwischen sprach man nur noch vom „Square“. Hier trafen sich die Kinder zum Spielen, zumeist die Söhne und Töchter – oder Waisen – von Einwanderern, die in den hübscheren Parks nicht gern gesehen wurden. Alice machte Portraitfotos von ihnen und ließ sich Geschichten aus ihrer Heimat und von ihrer Reise nach England erzählen, die oftmals mit Märchen aus ihren Herkunftsländern angereichert wurden, vor allem von den Jüngeren.

Heute hatten einige der Kinder einen Ball ergattert und spielten damit in einer Ecke, wo sie Staub aufwirbelten. In einer anderen Ecke spielten drei Mädchen ein Zählspiel und wechselten dabei mühelos zwischen Englisch, Russisch und Jiddisch. Alice holte ihre Kamera heraus und komponierte mögliche Motive in ihrem Kopf.

„Oh, sieh mal, da kommt das berühmte englische Mädchen, um Fotos von uns armen, niedlichen fremden Kindern zu machen.“

Alice wirbelte herum, alarmiert durch die Worte und den Tonfall. Ein junger Mann, kaum älter als sie selbst, lehnte lässig am Standbild einer Kanone und schenkte ihr ein uneindeutiges Lächeln. Er trug andere Kleidung als die Kinder: Zum einen waren es Erwachsenensachen, gebügelt und sauber, grau und formell. Seine Jacke war makellos, seine Weste passte ihm gut. Er hatte keine Uhr, aber seine violette Krawatte sah teuer aus und war womöglich aus Seide. Sein Hut war sorgfältig gebürstet. Darunter war rotes Haar zu sehen, so dunkel, dass es beinahe schwarz wirkte, um Ohren und im Nacken sorgfältig geschnitten. Seine Wangen hatten einen Anflug von gesundem Rot.

„Sagen Sie mal …“, fuhr er fort und streckte die Hand aus, um eine Katze zu streicheln, die hastig um die Ecke verschwand, „… weinen Ihre Kunden Krokodilstränen, wenn sie diese Portraits von der dunklen Seite der Gesellschaft anschauen? Bekümmert es sie, in welchem Dreck die Kinder leben müssen?“

„Entschuldigen Sie bitte“, erwiderte Alice kühl und reckte sich so stark, dass es knackte. „Diese Fotografien sind lediglich für meinen privaten Gebrauch bestimmt und werden nur gelegentlich einem ausgewählten Kreis interessierter Personen im Haus meiner Tante gezeigt. Ich bin keineswegs daran interessiert, mich am traurigen Schicksal anderer Menschen zu ergötzen.“

„Ach, tatsächlich? Und wie viel wissen Sie von ihrem traurigen Schicksal? Wie viel wissen Sie überhaupt über sie?“, hakte er nach.

Alice warf ihm einen eisigen Blick zu.

„Das Mädchen dort drüben in der Jacke mit den großen Hornknöpfen, das ist Adina. Sie kommt aus einem Schtetl in der Nähe von St. Petersburg und musste vor den Pogromen flüchten. Ihre Mutter ist tot. Ihr Vater und ihre Tante Silvy sind ihre einzigen Angehörigen.“ Sie deutete auf ein anderes Kind. „Das ist Sascha. Er ist wahrscheinlich fünf Jahre alt und mag Käse lieber als Süßigkeiten. Seine Mutter ist Akkordarbeiterin, sein Vater sammelt Lumpen für die Papierfabriken. Seine Schwester stirbt an Tuberkulose, auch wenn er das noch nicht verstehen kann. Ich spreche niemals herablassend über sie, und ich habe sie nie mit Geld oder Süßigkeiten dazu gebracht, mir Modell zu sitzen. Wenn ich etwas mitbringe, dann so viel, dass es für alle reicht, und das tue ich, weil ich gerne etwas gebe. Ich behandle selbst die Kleinsten mit der gleichen Freundlichkeit und Achtung, wie ich sie von jedermann erwarte.“ Die letzten Worte betonte sie besonders und warf dem Fremden einen finsteren Blick zu.

„Schon gut, schon gut.“ Der junge Mann lachte leise. „Ich entschuldige mich. Ich habe Ihnen etwas unterstellt, ohne zu wissen, wovon ich rede. Das war hinterhältig und gemein.“

Er verbeugte sich ohne jede Ironie.

„Ich nehme die Entschuldigung an“, entgegnete Alice höflich, aber immer noch distanziert. „Darf ich fragen, mit wem ich das … Vergnügen … habe?“

„Katz“, sagte er und nahm den Hut ab. „Abraham Joseph Katz. Anwalt bei Alexandros und Ivy. Aber Sie dürfen mich Katz nennen. Stets zu Diensten.“

„Ich bin …“, begann sie.

„Oh, jeder hier kennt doch Alice mit der Kamera“, unterbrach er sie. „Es gibt nur diese eine sagenhafte Alice. Aber jetzt mal ernsthaft. Sie müssen bedenken, dass diese Kinder – auch die unter uns, die hier aufgewachsen sind – meist keine besonders guten Erfahrungen mit Ihren Landsleuten gemacht haben. Mal werden sie beschimpft oder bespuckt, mal begegnet man ihnen als hochnäsiger Wohltäter oder übler Ausbeuter. Dazwischen ist wenig Platz für anderes.“

„Mit meinen Landsleuten? Aber Sie klingen … und sehen aus wie …“, Alice zögerte, denn sie wollte nicht unhöflich sein, „… ein Brite.“

„Ich wurde hier geboren. Meine Eltern jedoch nicht“, sagte er schulterzuckend. „Sie arbeiteten hart, und ich studierte hart. Jetzt helfe ich manchmal, indem ich kostenlose Rechtshilfe erteile. Manchmal muss jemand mit juristischen Kenntnissen dazwischentreten und ein Kind vor dem Armenhaus oder Eltern vor dem Gefängnis bewahren. Oder Schlimmerem. Manchmal kommt jemand – mitunter mit einer Kamera – und schnappt sich ein Kind, das ihm gefällt. Um es fortzugeben, angeblich aus Menschenfreundlichkeit, oder um etwas zu tun … worüber man besser nicht spricht.“

„Das ist ja furchtbar“, sagte Alice mitfühlend. „Und es tut mir wirklich sehr leid. Aber trotzdem können Sie mich nicht für die schlimmen Taten einiger meiner Landsleute verantwortlich machen. Das wäre genauso, als würde ich Sie für die schlechten Äpfel verantwortlich machen, die aus Russland kommen.“

„Absolut richtig“, stimmte er zu. „In diesem Fall stelle ich Ihnen gern mein Gesicht zur Verfügung für den Fall, dass Sie irgendwann wiederkommen wollen, um ein Portrait von mir zu machen. Ich bin erwachsen und ein Sohn von Einwanderern, und ich bin in der Lage, selbst zu entscheiden, was mit meinem Gesicht geschieht, falls es einmal so weit kommen sollte.“

In seinem Ton war nichts Unangebrachtes. Er klang weder herablassend, noch schien er unausgesprochen etwas andeuten zu wollen. Sein Lächeln wirkte unvoreingenommen, er neigte auch nicht den Kopf, um zu posieren. Alice fühlte sich weder geschmeichelt noch angegriffen.

Das war eigenartig.

„Ihr Englisch klingt besser als das vieler meiner Landsleute“, sagte sie langsam, während sie herauszufinden versuchte, was das bedeutete. „Meiner Nachbarn jedenfalls.“

Wovon um Himmels willen rede ich denn da? War das grob? Er ist hier aufgewachsen – das hat er doch gesagt! Selbstverständlich spricht er ein gutes Englisch!

„Ah ja, ich bin Anwalt, erinnern Sie sich? Ich beherrsche Latein genauso gut wie Russisch und Englisch. Que usque tandem und so weiter. Ich sollte außerdem Französisch lernen, damit ich zumindest die Weine richtig aussprechen kann.“

Alice hatte das Gefühl, die Welt um sie herum würde sich drehen, ganz so, als würde sie in ein Kaninchenloch fallen. Was für ein eigenartiger Mann und was für eigenartige Umstände, ihm zu begegnen. Normalerweise ging sie jungen Männern aus dem Weg, besonders, wenn sie von ihrer Schwester auf sie hingewiesen wurde. Wenn sie mal einen kennenlernte, vergaß sie ihn bald wieder. Die meisten waren langweilig – und an Orten wie diesem hier ohnehin nicht zu finden. Sie machten wenig amüsante, anzügliche Scherze und spielten auf irgendwelche römischen Gelehrten an, von denen sie glaubten, sie kenne sie nicht.

Sie hatte noch nie das Bedürfnis gehabt, einen von ihnen zu fotografieren.

Im Gegensatz zu diesem Mr. Katz.

„Ich habe leider nicht genug Fotoplatten bei mir“, log sie. Tatsächlich aber hatte sie schon jede Menge Aufnahmen gemacht, die sie bei Tante Vivian entwickeln musste. Das hätte sie eigentlich heute tun sollen, anstatt auf der Suche nach Abenteuern herumzuwandern. „Das fiel mir in dem Moment auf, als Sie auftauchten.“

„Oh, das mit den Fotos war nur ein Scherz. Ich kann Ihnen nur nichts Besseres anbieten als mein gutes Aussehen, um meine beleidigenden Äußerungen wiedergutzumachen. Ich sollte immer eine Tüte mit Süßigkeiten bei mir haben. Das sollten Sie sich merken – immer etwas Süßes für plötzliche Notfälle dabeihaben. Das könnte Ihnen eines Tages das Leben retten. Oder, falls es Ratten in der Nähe Ihres Hauses gibt, könnte ich sie einfangen. Ein Freund von mir kennt sich damit aus.“

„Das dürfte nicht notwendig sein“, gab Alice hastig zurück. „Ich bin mir sicher, dass unser Garten rattenfrei ist.“

„Das weiß man nie. Ratten sind sehr heimtückisch. Manchmal schaffen sie es sogar, in den Beamtenstand gewählt zu werden. Wenn man nicht aufpasst, kann es sogar passieren, dass sie Bürgermeister werden.“

Alice konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, fast hätte sie gelacht. Ganz offensichtlich spielte er auf Ramsbottom an, den Kandidaten, den ihre Schwester und der langweilige Mr. Headstrewth so glühend unterstützten. Es gab nur noch einen anderen Mitbewerber um den Posten, aber an seinen Namen konnte Alice sich beim besten Willen nicht erinnern. Was kein Wunder war, denn er ging nicht auf Partys und schrieb auch keine Briefe an den Kexford Weekly, worin er Arbeitshäuser für die Armen forderte oder die Ausweisung aller Fremden aus dem Land oder größere Schlagstöcke für die Polizei.

„Ich sollte dann gehen“, sagte Alice und schob ihre Kamera in ihren Tornister und verschloss ihn.

„Kommen Sie bald wieder“, bat Katz. „Sie sind die interessanteste Person, mit der ich seit Ewigkeiten gesprochen habe.“

Nicht: Sie sind ein helles Licht in dieser dunklen Ecke der Welt. Nicht: Was für ein hübsches Gesicht in dieser düsteren Gegend. Nicht: Muse oder Nymphe oder Heilige mit einem liebreizenden Lächeln, das sie ihren Bittstellern schenkt. Keine von diesen dummen Floskeln, mit denen die Männer sie normalerweise bedachten. Er bat sie lediglich, wiederzukommen, weil er mit ihr reden wollte.

Alice machte einen Knicks, denn es war immer gut, einen Knicks zu machen, während man überlegte, was man antworten sollte. Dann eilte sie davon, ohne dass ihr etwas eingefallen wäre.

Zweites Kapitel

Sie merkte, dass sie sich sehr schnell vom Wellington Square entfernte – schneller als sonst und viel schneller, als nötig gewesen wäre. Sie zwang sich zu einem damenhafteren Tempo und bemühte sich, ruhig zu atmen – was nicht einfach war mit diesem Korsett, das das Durchatmen verhinderte. Ihre Wangen fühlten sich warm an und waren wahrscheinlich hübsch rosig.

Es war nicht gänzlich gelogen. Sie war auf dem Weg zu Tante Vivian, wo sie ihre Fotos entwickeln wollte.

Wenigstens vergaß sie nicht, die Straße zu überqueren, um einen Blick ins Schaufenster von Willards Kurzwarenladen zu werfen, auf den ein Schild mit goldenen und silbernen Buchstaben hinwies. Im Fenster lagen kunstvoll arrangierte Hüte, die geschickt übereinandergestapelt waren, als hätte sich ein Zirkuskünstler betätigt. Sie waren verziert mit bunten Federn, Bändern und sonstigem Flitter. Es sah wundervoll aus – und kam ihr irgendwie vertraut vor. Tatsächlich hatte Alice sich mit Mr. Willard angefreundet, weil er sie unbewusst an jemanden erinnerte, dem sie einmal in einem Traum begegnet war und den sie seither vergessen hatte.

Wenn er Alice eine Tasse Tee anbot, passten die Tassen zueinander. Dann saßen sie da und diskutierten über die Vorteile eines ökonomischen Systems, in dem die einfachen Leute die Produktionsmittel besaßen – oder sie zumindest kontrollierten – und wo man für medizinische Hilfe und juristischen Rat nichts bezahlen musste. Auch sollte in dieser Welt der Besuch von Schulen und Universitäten für alle gratis sein.

Das kam ihr zwar sehr langweilig vor und war außerdem völlig verrückt, aber seine Haare waren weiß und nicht zu bändigen. Er und ihre Tante passten gut zueinander – nicht in romantischer Hinsicht, aber sie hatten sich sofort angefreundet, als er zum ersten Mal in ihrem Salon Gast gewesen war.

Heute stand er nicht an seinem Arbeitstisch, sondern draußen vor dem Laden, mit geschlossenen Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt wie eine Blume, die sich an ihren Strahlen erfreut.

„Wie geht es Ihnen, Mr. Willard?“, fragte sie und machte einen Knicks. Er schlug die Augen auf und lächelte sie an. Auf seinen Wangen waren zahllose Lachfalten zu sehen.

„Oh, du bist es, meine Liebe. Ich genieße den Tag. Die Sonne ist immer noch für alle da – vergiss das niemals. Wir alle können ihre lebensspendende Wärme genießen, so viel wir wollen.“

„Das ist so wahr, wie der Himmel blau ist, Mr. Willard.“

„Ganz recht, meine Liebe! Sag mal, hast du das Portrait von mir schon entwickelt? Ich möchte nicht eitel erscheinen – nun gut, offenbar bin ich das. Alt und eingebildet! Aber ich würde es zu gerne einmal sehen und meiner Freundin Mrs. Alexandros zeigen. Sie interessiert sich sehr für Fotografie, aber nicht so ernsthaft wie du, die sie sich als Hobby erwählt hat.“

„Ich bin gerade auf dem Weg zu Tante Vivian, Mr. Willard. Dort werde ich es sofort entwickeln.“

„Oh, ausgezeichnet. Grüße doch bitte deine Tante von mir, ja? Sag ihr, dass ich einen Hut habe, den sie unwiderstehlich finden wird. Und außerdem ein Pamphlet, das auf der Grundlage wissenschaftlicher Betrachtungen beweist, dass alloparentale Pflege – also die nicht-elterliche Erziehung eines Kindes, zum Beispiel einer Nichte oder eines Neffen – nicht nur normal ist, sondern tatsächlich ein integraler Bestandteil unserer Evolution hin zu einer höherwertigen Spezies! Nicht jeder muss eine Horde Kätzchen um sich haben, um Teil des menschlichen Lebenskreislaufs zu sein, das meine ich damit.“

„Alloparentale Pflege. Kätzchen. Ganz genau, Mr. Willard. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!“, sagte Alice und machte wieder einen Knicks.

„Guten Tag, Alice!“

Sie spazierte fröhlich die Straße entlang, vollkommen erfüllt von der freundlichen, sonnigen Atmosphäre. Es war ein Tag, an dem alles möglich erschien. Und dann war da noch dieser junge Mann, den sie gerade kennengelernt hatte. Nicht zuletzt er verlieh diesem Tag etwas Wundersames und Aufregendes.

In Gedanken versunken lief sie über den Marktplatz, der manchmal ein sehr interessanter Ort für Fotos war, manchmal aber auch einfach nur langweilig. Oder lästig, wenn getratscht wurde und einige seiner Besucher oder Händler allzu genaue Vorstellungen von Alice und ihren Zukunftsaussichten äußerten. Schon duckte sie sich und wollte ihn heimlich überqueren, besann sich dann aber eines Besseren.

„Alice“, sagte sie sich in einem ruhigen, aber tadelnden Tonfall, „du bist achtzehn Jahre alt und erwachsen. Du darfst dich nicht länger von anderen Erwachsenen herumschubsen lassen. Benimm dich dementsprechend.“

Sie holte tief Luft, bedankte sich bei sich selbst für diese Zurechtweisung und ging mit erhobenem Kopf zwischen den Ständen mit den Kohlköpfen hindurch.

ALICE!“

Sie sackte zusammen.

„Hallo, Mrs. Pogysdunhow“, sagte sie so höflich wie möglich. „Guten Morgen, Mrs. Pogysdunhow.“

Die kleine, rotgesichtige Frau – Piggysdunhow, wie Alice sie gegenüber Dinah nannte – bahnte sich einen Weg durchs Gedränge, um mit ihr zu reden. Sie sah immer noch genauso aus wie zu der Zeit, als Alice noch vor solchen Personen Reißaus genommen hatte: mattes graues Haar, das von einer altmodischen Haube plattgedrückt wurde, ein dunkles altmodisches Kleid mit einer Krinoline, die kaum der Rede wert war, was auch auf ihre Strümpfe zutraf. Obwohl sie die Herrin über ein respektables Haus in der Nachbarschaft von Alices Familie war, wirkte sie wie ein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert und vor allem knausrig. Sie redete so laut wie eine Kneipenwirtin. Trotzdem – oder vielleicht auch deshalb – hatten Alices Eltern sie gelegentlich engagiert, um auf Alice und ihre Schwester aufzupassen, als sie noch jünger gewesen waren. Sie kochte grauenhaft und hatte grässlichen Mundgeruch. Und ständig hatte sie kleine Kinder um sich herum, ihre eigenen oder Enkel oder sonstige junge, unschuldige und daher harmlose Angehörige ihrer sehr weitläufigen Familie.

ALICE, WIE GEHT ES DEINER MUTTER?“

Sie hielt ein Baby unter dem linken Arm, so wie man einen Ball halten würde, und versuchte, es zu bändigen.

„Ihr geht es bestens, Mrs. Pogysdunhow. Vielen Dank.“

HAT SIE IHREN GICHTANFALL GUT ÜBERSTANDEN?“

„Äh … ja. Es geht ihr wieder gut, vielen Dank.“

DAS KOMMT DAVON, WENN MAN ZU VIEL FLEISCH ISST“, erklärte die ältere Dame vertraulich, was bedeutete, dass sie ihre Stimme senkte und nur noch leise schrie. „ES IST IMMER GUT, NACH EINEM BRATEN EINIGE TAGE PORRIDGE ODER GEMÜSEPÜREE ZU SICH ZU NEHMEN. STECKRÜBENPÜREE WIRD IHR WIEDER AUF DIE BEINE HELFEN!“

Beinahe hätte Alice sich vor Ekel geschüttelt.

„Das klingt sehr vernünftig, Mrs. Pogysdunhow. Ein ausgezeichneter Ratschlag. Aber Sie müssen mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss zu meiner Tante, um die Portrait-Fotos zu entwickeln, die ich letzte Woche gemacht habe. Von Ihnen ist auch eins dabei.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf. „ACH, DEINE TANTE. NUN, IN JEDER HERDE GIBT ES EIN SCHWARZES SCHAF, UND IN JEDEM SCHAL IST AUCH PLATZ FÜR SCHWARZE WOLLE, DENKE ICH. GRÜSSE DEINE MUTTER VON MIR UND BESTE EMPFEHLUNGEN AN DEINEN VATER!“

„Jawohl, Mrs. Pogysdunhow, das werde ich ausrichten.“

Erleichtert und fast schon schwindelig angesichts der Tatsache, dass sie sich so schnell hatte herauswinden können, eilte Alice weiter. Auch wenn die alte Kohlhändlerin etwas verträglicher war, seit Alice sie – mit mehreren Babys im Arm – porträtiert hatte, war sie immer noch anstrengend. Früher hatte sie Alice und Mathilda gezwungen, lange altmodische Passagen in Büchern zu lesen … über etwas, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sie dachte nur ungern an diese stundenlange Lektüre von vollkommen sinnlosen Texten zurück.

Die Bücher haben die Alte bestimmt keinen Cent gekostet, dachte Alice, denn sie wusste, dass das Geld bei ihr immer knapp war.

Nun ging es den Berg hinab, und unten kam sie in einer eher bohemeartigen Gegend an, einem ärmlichen Viertel, wo eigenartige, aber stets gutgelaunte Menschen wohnten. Manche waren mittellose Philosophen, die lieber auf eine Mahlzeit als auf ihre Lektüre verzichteten, andere Künstler, die noch ihren letzten Heller für Materialien ausgaben und sich jede Einmischung in ihr Leben verbaten. Einige entstammten der Aristokratie und erfreuten sich an der dekadenten Atmosphäre, die ihre Künstlerfreunde verbreiteten und an der sie mitunter mitwirkten. Tante Vivian gehörte zu den Letzteren.

Sie hatte ein ganzes Haus für sich allein, nicht nur eine Wohnung, und es war in einem etwas besseren Zustand als die meisten anderen in der Gegend. Alice betätigte die Klingel und trat ein. Die Tür war niemals verschlossen. Sofort musste sie husten. Abgesehen von den üblichen Utensilien eines künstlerischen Lebensstils wie halb-durchsichtigen Spiegel, jeder Menge seidener Vorhänge, mit denen man ein ganzes Theater hätte ausstatten können, mit großartigen und schauderhaften Gemälden vollgehängten Wänden, war ihre Tante eine Liebhaberin von Räucherdüften. Überall standen Feuerschalen herum, aus denen blauer Rauch aufstieg, der schwer in der Luft hing wie ein Schleier aus kratziger Wolle. Alice hielt sich die Hände vor den Mund, um atmen zu können, und versuchte, sich daran zu gewöhnen, bevor ihre Tante auftauchte.

„Alice.“

Ihre Tante kam ihr mit großer Geste entgegen und klatschte dramatisch in die Hände. Sie trug weite Hosen, die an ihren Waden endeten und ein paar glänzende Stiefel sehen ließen, die sehr schick aussahen. Statt einer Bluse trug sie eine Tunika aus Samt, darüber zum Schutz eine kleine Schürze. Außerdem hatte sie eine kleine Brille mit Goldrand aufgesetzt und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, was bedeutete, dass sie gerade an einer Skulptur arbeitete.

Sie umarmten sich, und ihre Tante gab ihr einen sehr europäischen Kuss auf jede Wange.

„In der Dunkelkammer wartet viel Arbeit auf dich“, sagte Tante Vivian mit leicht vorwurfsvollem Unterton, während Alice ihren Hut und ihren Tornister ablegte. „Wir müssen beide Überstunden machen, wenn wir alle Bilder entwickeln wollen. Zum Glück habe ich alle nötigen Substanzen beim Apotheker bestellt, denn mir schwante schon, dass es einiges zu tun gibt, zumal …“

Alice hörte gar nicht richtig zu. Sie schaute sich die verschiedenen Gemälde mit Portraits an, die überall hingen und die sie schon tausendmal gesehen hatte: Bauern, Schauspieler, Politiker, Arbeiter, Hebammen, eine Prinzessin, Jungen, Mädchen, Babys, alle farbenfroh porträtiert. Eine Fotografie bildete jemanden genauso ab, wie er war, aber es fehlten die Farben. Würde sie zum Beispiel ein Portrait von Katz machen, würde es ihm nicht wirklich gerecht sein, es sei denn, sie würde hinterher seine Wangen mit einem rosigen Pastellton einfärben. Das Gleiche galt für den goldenen Schimmer in seinen Augen.

„Hallo? Alice? Bist du noch da?“, fragte Vivian, kniff ihre grauen Augen zusammen und schnippte mit den Fingern. „Du bist gar nicht anwesend, sondern ganz woanders. Woran denkst du?“

„Oh, mir ist gerade der gravierende Unterschied zwischen der Fotografie und der Malerei aufgefallen …“

Ihre Tante musterte sie schweigend.

„Na ja, ich habe jemanden kennengelernt“, gab Alice schließlich zu. Sie erwartete, dass sie errötete, was aber nicht der Fall war.

„Einen Jungen?“

„Einen jungen Mann. Einen Anwalt. Er war bei den Kindern auf dem Square. Er hilft ihren Familien. Seine Eltern sind auch vor Jahren eingewandert.“

„Oh, ein jüdischer Junge. Da werden sich deine Eltern aber freuen“, bemerkte Vivian mit einem hinterhältigen Lächeln. Sie nahm Alice bei der Hand und zog sie weiter ins Haus und dann hinunter in den Keller, wo sich die Dunkelkammer befand.

„Nein, du verstehst mich ganz falsch …“

„Rede nicht, lüge nicht. Jetzt wird gearbeitet. Es geht um die Kunst!“

Vivian nahm ein Räucherstäbchen aus einem Messingständer und wedelte damit herum, als wollte sie auf diese Weise die Luft reinigen.

Nachdem sie sich beide größere Schürzen umgebunden hatten, verfielen Tante und Nichte für die folgende Stunde in tiefes Schweigen. Die Dunkelkammer war klein, und es roch darin nach frischen Chemikalien und irgendwie magisch. Sie waren beide geübt in dem, was hier getan werden musste, kannten jeden Handgriff und wussten schon im Voraus, was welche von ihnen zu welchem Zeitpunkt zu tun hatte: diese Lösung in jene Pfanne gießen – die trockene Platte hineintauchen – die feuchte Platte in das Stoppbad legen – sie vorsichtig herausnehmen und trocknen lassen. Und das Ganze wiederholen.

Die meisten Fotos, die sie entwickelten, stammten von Alice, aber einige von ihrer Tante waren auch dabei, darunter ein besonders detailreiches Großformat, eine Neugestaltung von Der Tod des Sokrates. Sie konnte es kaum erwarten, sie endlich bei Tageslicht anzuschauen. Im dämmrigen Zwielicht der roten Lampe war kaum etwas zu erkennen, selbst wenn sie sie hin- und herbewegte und die Augen zusammenkniff.

Schließlich waren sie fertig, wischten die verschütteten Chemikalien auf und legten die Platten zum Trocknen auf ein halbes Dutzend sauberer und gebügelter Handtücher.

„Ich werde mir ein Gläschen Vermouth genehmigen und schaue mal, ob Monique uns ein kleines Mittagessen machen kann“, sagte Vivian und seufzte schwer, als hätte sie die letzte Stunde mit Gewichtheben verbracht. Mit nervöser Geste schob sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und verschwand in den verräucherten Räumen jenseits der Dunkelkammer.

Sie sollten eigentlich eine Stunde warten, bevor sie die Platten in die Hand nahmen, aber Alice war ungeduldig wie immer und konnte sich nicht beherrschen. Sie griff sich eine und versteckte sie in ihrer Handfläche, weil sie wusste, dass ihre Tante, wenn sie sie dabei erwischen sollte, einen Vortrag darüber halten würde, dass Geduld und Zeit die Geschwister der anderen Musen seien, von denen nie jemand sprach, im Gegensatz zu den Auffälligeren wie Terpsichore oder Urania. Alice eilte in das Solarium hinter dem Arbeitszimmer, den hellsten Raum im ganzen Haus.

Das Portrait, das sie mitgenommen hatte, war das von Mrs. Pogysdunhow. Kurz war ihr das Sofa ins Auge gefallen, das in dem Raum gestanden hatte, wo das Foto entstanden war. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob die alte Frau ein miesepetriges oder ein fröhliches Gesicht gemacht oder die Zähne gebleckt hatte. Vielleicht war es ein Meisterwerk des künstlerischen Realismus geworden, vielleicht auch eine schauderhafte lächerliche Darstellung, die sie der armen Frau besser nicht zeigte. Die Babys hatten sich arg gewunden. Die Aufnahmezeit hatte schätzungsweise eine halbe Sekunde betragen – was zu lange gewesen war, um die Bewegungen der kleinen Quälgeister einzufrieren. Bestimmt waren ihre Konturen verwischt. Aber waren die Konturen von kleinen Kindern nicht immer verwischt, weil sie sabberten, ihre Haare durcheinander waren und überall um sie herum Lappen und Tücher lagen?

Alice trat in das helle Sonnenlicht des Solariums und hielt das Foto mit beiden Händen vorsichtig in die Höhe, um es genau anzuschauen.

Sie riss die Augen auf, als sie sah, was sich da in ihrer Hand befand.

Tatsächlich handelte es sich keineswegs um ein Portrait von Mrs. Pogysdunhow.

Das Bild zeigte die Herzkönigin.