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Aus dem Englischen von Karin Schuler und Dr. Maria Zettner

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel God: An Anatomy bei Picador, Pan Macmillan, London

© Francesca Stavrakopoulou, 2021

All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Lukas - Art in Flanders VZW / Bridgeman Images

Karten: Überarbeitung für die deutsche Ausgabe von Peter Palm

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

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»Es wäre mir lieb, wenn du nicht immer so plötzlich da und weg wärest: das macht einen ganz schwindelig.« – »Einverstanden«, meinte die Katze; und diesmal verschwand sie ganz allmählich – mit dem Schwanzende beginnend bis hin zum Grinsen, das noch einige Zeit in der Luft blieb, als der Rest schon verschwunden war.

»So etwas!«, dachte sich daraufhin Alice, »ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe!«

LEWIS CARROLL (1865)

(Aus: Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Frankfurt am Main 1970)

Vorbemerkung der Autorin

In diesem Buch geht es um Orte, Völker und Gottheiten, die teilweise unter vielen verschiedenen Namen bekannt sind – von denen wiederum einige kulturell beziehungsweise politisch vorbelastet sind. Wann immer möglich, habe ich mich bemüht, neutrale oder allgemeine Begriffe zu verwenden, ohne dass es zulasten der historischen oder geografischen Genauigkeit ging. Insbesondere habe ich bewusst das üblichere Etikett »alter Orient« vermieden. Es spiegelt, offen gesagt, eine westliche Sicht wider und ist mit kolonialem Ballast überfrachtet (ähnlich wie sein älteres Metonym »der Orient«). Stattdessen verwende ich »antikes Südwestasien« oder »südwestliches Asien des Altertums«. Auch greift das Buch auf Primärquellen zurück, die in verschiedenen alten Sprachen verfasst sind. Im Interesse der Leserinnen und Leser wurden die Transliterationen in verständlichem Rahmen gehalten, auch mit Blick auf die Aussprache (etwa »Assur« statt »Aschschur« oder »Jahwe« statt »JHWH«). Gelegentlich habe ich auf strikte Einheitlichkeit zugunsten von Worten und Wendungen in ihrer gängigeren Schreibweise verzichtet. Die Bibelzitate folgen der New Revised Standard Edition und ihrer Versifikation, allerdings habe ich, wenn nötig, die (konfessionelle) Übersetzung modifiziert, vor allem bei den vorchristlichen Texten der Bibel.[1]

 

 

Prolog

Denken Sie mal zurück. Wann sind Sie das erste Mal mit einer Bibel in Berührung gekommen? Ich war fünf, vielleicht auch sechs Jahre alt, saß im Schneidersitz auf einem kratzigen beigen Teppich und hatte ein großes Bilderbuch auf dem Schoß. Das Buch war eine illustrierte Kinderbibel, und seine Seiten rochen köstlich – herb, wie Plakatfarbe, wenn auch ein bisschen muffig, wie die Leihbibliothek. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, was ich da alles sah. Abraham hatte seinen Sohn Isaak gefesselt auf etwas gelegt, das aussah wie ein noch nicht entzündetes Lagerfeuer. Er hatte ein Messer und war drauf und dran, ihn damit zu erstechen und dann zu verbrennen. Doch da wurde er plötzlich von einem Engel am Himmel gestoppt, einem Engel mit gelben Haaren und einem wallenden Gewand, der auf ein fettes, flauschiges Schaf zeigte. Es waren noch mehr Bilder in dem Buch: ein alter Mann auf einem Berg mit zwei großen Steintafeln in den Händen; ein anderer alter Mann in einem Streitwagen, der von zwei Pferden aus Feuer gezogen wurde. Ich blätterte weiter und weiter. Da war ein Mann, ganz mit Seetang überzogen, er saß im Bauch eines großen blauen Wals. Der kleine Jesus in einem Bett aus Stroh, um den sich Schafe, Kühe und ein Esel scharten, die ihn ansahen. Eine Frau, die mit Schals herumwirbelte, während sie vor einem Kopf auf einem Teller tanzte. Ich hielt kurz inne und schaute auf das Bild des Mannes, der an ein großes Holzkreuz genagelt war. Er war über und über mit Kratzern bedeckt, und an seinem Kopf tropfte Blut herunter.

Ich habe nie an Gott geglaubt, aber Religion hat mich immer fasziniert. Als ich aufwuchs, war sie allgegenwärtig, drängte sich in mein Blickfeld und strukturierte den Lebensablauf – von den täglichen Schulversammlungen und dem Fernsehprogramm am Sonntagabend bis zur freudigen Erwartung vor weihnachtlichen Krippenspielen und Ostereiersuchen. Doch erst die Familienausflüge ins Museum machten Religion für mich konkret. Riesige Steinstatuen von Göttern, rundlich, fleischig und machtvoll. In Tuniken gehüllte Götter mit Sandalen an den Füßen. Götter mit Zehennägeln, Ellbogen, Augenbrauen. In anderen Räumen standen farbenfroh bemalte Särge mit Leichnamen, die in schmutzige Stoffstreifen eingewickelt waren, umgeben von Göttern mit den Gesichtern von Tieren. Eine Katze. Ein Hund. Ein Vogel. Ein Krokodil. Einmal die Ecke rum, und da waren noch mehr Götter, dieses Mal in kleine polierte Steine geritzt; in langen Röcken saßen sie auf Thronen, hatten Hörner auf ihren Kronen und Ungeheuer zu ihren Füßen liegen. In Museen lernte ich, dass die Gottheiten aus Ägypten, Mesopotamien, Griechenland und Rom zu der größeren Welt gehörten, in der die Bibel entstand. Aber wo waren die Statuen vom Gott der Bibel selbst – der einzigen Gottheit, die bis in die heutige Zeit überlebt hat?

Als ich Theologie und Religionswissenschaft studierte, gingen Dozenten wie Studenten gleichermaßen davon aus, dass der Gott der Bibel keinen Körper besitzt. Es war ein gestaltloser, unsichtbarer Gott, von dem es kein Bild gab und der sich in der hebräischen Bibel (dem Alten Testament) in geheimnisvoll von Propheten gesprochenen Worten offenbarte und dann im Neuen Testament in Jesus Christus Fleisch wurde, um für die Sünden der Menschheit zu sterben, bevor er wiederauferstand und in den Himmel zurückkehrte. Doch als ich mir die Bücher, aus denen die Bibel besteht, einmal etwas genauer anschaute, konnte ich diesen körperlosen Gott nicht finden. Vielmehr beschworen die alten Texte ein überraschend leibhaftiges Bild von einem Gott in Menschengestalt herauf, der herumlief, redete, weinte und lachte. Einem Gott, der aß und schlief, Gefühle hatte und atmete. Und einem Gott, der eindeutig männlichen Geschlechts war.

Während meines Grundstudiums schien niemand ein Wort über den Körper des biblischen Gottes verlieren zu wollen – bis zu einer denkwürdigen Vorlesung, in der es um die Genderthematik in der modernen christlichen Theologie ging. Begeistert stellte ich fest, dass feministische Theologen sowohl auf jüdischer als auch auf christlicher Seite schon lange Widerspruch gegen den rein männlichen Gott in ihren heiligen Schriften erhoben. Doch stellte sich schnell heraus, dass sowohl feministische als auch traditionalistische Theologen dieses heikle Thema dadurch zu umschiffen gedachten, dass sie sich darauf zurückzogen, Gott könne unmöglich ein Geschlecht haben, denn Gott habe ja keinen Körper. Ich weiß noch genau, dass ich in der Diskussionsrunde am Ende der Vorlesung Protest einlegte. »Aber viele biblische Texte lassen den Schluss zu, dass Gott männlich ist und einen männlichen Körper hat.«

»Das Problem ist nicht Gott«, erwiderte der Professor, ein hoch angesehener christlicher Theologe und Geistlicher. »Problematisch wird es nur, wenn wir die Beschreibungen der Bibel zu wörtlich nehmen.« Dann führte er weiter aus, dass jene lästigen biblischen Darstellungen eines leibhaftigen, männlichen Gottes schlicht und einfach metaphorisch gemeint seien oder poetisch. »Wir sollten uns nicht zu sehr von Anspielungen auf seinen Körper ablenken lassen«, sagte er. Denn sonst würde man sich zu vereinfachend mit den biblischen Texten auseinandersetzen. Anscheinend sollten wir nicht nur auf die Texte schauen, sondern durch sie hindurch, um ihren theologischen Wahrheiten auf die Spur zu kommen.

Alle anderen im Raum schienen mit dieser Herangehensweise an den Gott der Bibel erstaunlich zufrieden zu sein, aber ich fand sie zutiefst frustrierend. Warum sollte ich an dem klaren Bild von Gott als riesenhaftem Mann mit einem schweren Schritt, Waffen in der Hand und einem Atem so heiß wie Schwefel vorbeisehen? Einem Gott, der es in einem physischen Kampf mit einem gewaltigen Seeungeheuer aufnahm – und siegte? Einem Gott, der in seinem himmlischen Garten und in den Friedhöfen seines Volkes herumlief? Einem Gott, der eine Frau nackt auszog und sie der Gruppenvergewaltigung und Verstümmelung preisgab? Einem Gott, der auf einem Thron in einem Tempel saß und sich am Aroma von verbranntem Tierfett erfreute, während er auf sein Abendessen wartete? Einem Gott, der nicht nur Kinder hatte, sondern auch noch bereitwillig und mutwillig seinen geliebten Sohn hergab, damit er den Opfertod erlitt? Wie konnte ich davon nicht abgelenkt werden? Hier war eine Gottheit, genau wie die, die ich als Kind in Museen besucht hatte – ein Gott aus alten Mythen, fantastischen Geschichten und längst verloren geglaubten Ritualen, ein Gott aus der fernen Vergangenheit, aus einer Gesellschaft so ganz anders als die unsere. Unter diesen Vorzeichen wollte ich ihm begegnen, nicht als distanziertes, abstraktes Wesen, sondern als Produkt einer bestimmten Kultur, zu einer bestimmten Zeit, nach dem Bild der Menschen gemacht, die damals lebten; ein Gott, den sie nach ihren eigenen physischen Gegebenheiten formten, nach ihrer Weltsicht – und nach ihren eigenen Vorstellungen.

Als ich da so in dem Hörsaal saß, kam es mir vor, als wäre diese kraftvolle Gestalt irgendwie wegtheoretisiert und ersetzt worden durch das abstrakte Wesen, mit dem wir heute vertrauter sind: einen Gott, den wir in unseren kulturellen Ritualen feiern, auf den unsere Politiker sich gerne berufen und der jeden Sonntag im Fernsehen gepriesen wird. Einen Gott, dem ich, nach Meinung vieler meiner Kommilitonen und Dozenten, Rechenschaft schuldig war, ob nun in diesem Leben oder im nächsten. Einen Gott, dessen angebliche Gebote unsere gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen bezüglich Gender, Sex und Moral, Macht und sozialer Schicht, Leben und Tod geprägt haben. Und dann dämmerte es mir mit einem Mal. Alle anderen im Raum, mein Theologieprofessor eingeschlossen, zensierten die Bibel, desinfizierten ihren Gott, befreiten ihn von allen mythologischen, diesseitigen und verstörenden Merkmalen. Ich war enttäuscht von ihnen. Und sie taten mir leid.

Das hier ist das Buch, das ich gern gelesen hätte, als ich auf der Uni war. Es erzählt die Geschichte des wahren Gottes der Bibel in all seinen leiblichen, unzensierten, skandalösen Ausprägungen. Indem es die theologische Fassade über die Jahrhunderte angesammelter jüdischer und christlicher Pietät herunterreißt, befreit das Buch den Gott der Heiligen Schrift von seinen biblischen und dogmatischen Fesseln und bringt eine Gottheit hervor, die ganz anders ist als der Gott, der heute von Juden und Christen verehrt wird. Der in diesem Buch enthüllte Gott ist die Gottheit, als die seine Anhänger im Altertum ihn sahen: ein überdimensionaler, muskelbepackter, gut aussehender Gott mit übermenschlichen Kräften, irdischen Leidenschaften und einer Schwäche für das Fantastische und Monströse.

Einleitung