Eingefroren in der Zeit

Birgit Elke Ising

Eingefroren in der Zeit

Bewältigung generationenübergreifender Kriegstraumata und Aufbruch in eigenes Lebensglück

Autofiktion

Inhalt

Vorwort

Prolog

Klar Schiff machen

1 Frühling – erinnern

Die Frauen ohne Männer

Das Kennenlernen

Das Zuhause

2 Sommer – erleben

Das Ankommen, theoretisch

Das Ankommen – in echt

Das Recht zu leben

Die Erziehungsgrundlagen

Die Eltern

Das Krankenhaus

Das Verschickungsheim

Der Auftrag, die Schuld

Der Mangel

Das Teilen

Die Lieder

Der Stiefvater

Der Name

Der Freund

Die Wurzeln

Der Mund

Der Merksatz!

Das Verschwinden

Der Koffer

Die Berufswahl

Der Anruf

Die Fotos

Die Lüge

Die Rache

Die Kälte

Das Rödeln

Die Verantwortung – Breakdown I

Das Projektgeschäft

Die Stille

Das Packen

Die Hetze

Der Dackel

3 Herbst – erfahren

Die Strategie – Breakdown II

Das Museum

Das Schweigen

Das Trauma

Die Entscheidungen – Breakdown III

Das Haus

Das Café

Der Mutterkrieg

Der Vaterkrieg

4 Winter – erlauben

Der Wahn

Der Brief

Das Heim

Der Altweibersommer

Der Abschied

Das Loslassen

Die Trauer

5 Kreis – schließen

Ansehen und mutig sein

Mitfühlen und anerkennen

Widersetzen und reden

Forschen und ahnen

Erkennen und durchbrechen

Sortieren und loslassen

Entschulden und ausschnappen

Verstehen und bekommen

Mich spüren, fühlen, mir trauen, für mich sorgen

Danken und füllen

Beenden

Schreiben und spielen

Ressourcen erkennen und mich weiterentwickeln

Epilog

Am Ahnenfeuer

Anhang zur Selbstreflexion

Woran glaubst du?

Sprichwörter

Aussagen von Bezugspersonen

Was sind deine Glaubenssätze?

Hast du etwas mit dem Krieg zu tun?

Bist du Kriegsenkel: in?

Themenkomplex Identität

Themenkomplex Gefühle

Themenkomplex Zugehörigkeit

Themenkomplexe Heimat/Sicherheit/Geborgenheit

Themenkomplex Mangel

Themenkomplexe Leistung/Beruf/Ziele

Themenkomplex Kommunikation

Beziehung zu den Eltern als Kind

Beziehung zu den Eltern als Erwachsene: r

Themenkomplex Verhalten der Eltern

Dank

Wer und was mir geholfen hat

Über die Autorin

Zitierte, weiterführende Literatur und Medien

Abbildungsverzeichnis

Anmerkung der Autorin

Ich nenne die Schilderung meiner Erlebnisse Autofiktion. Die beschriebenen Gegenbenheiten sind aus meiner Sicht so passiert und wahr, aber ich weiß, dass es die absolute Wahrheit nicht gibt. Ich schildere meine Wahrnehmungen und meine Wahrheiten. Andere Menschen würden die Geschichten ganz anders erzählen. Ich sage nicht, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen sei rein zufällig – jedoch habe ich die Namen und Identitäten der noch lebenden Personen zu ihrem Schutz verfälscht.

Widmung

Für alle,

die nicht mehr auf Zehenspitzen schleichen,

sondern die wie wir

(trotz aufgeschlagener Knie)

auf fremden Trümmern tanzen

und die beginnen,

das Beet für das eigene Leben

mit fruchtbarem, weichem Boden zu füllen.

Entstanden im

Gespräch mit

Milda Pretzell

Vorwort

„Wer von sich selbst erzählt, macht Ansprüche geltend. Sein Befinden in der Welt soll für die Welt Bedeutung haben.“ Dieser Satz stammt von der Psychoanalytikerin Brigitte Boothe. Hören wir diesem Satz hinterher, kommen ganz von selbst Fragen hoch wie diese: Wie meint sie das? Ist das eine Kritik? Findet sie, wir sollten doch bitte nicht so anmaßend daherkommen und etwa meinen, die Welt müsste von uns Kenntnis nehmen?

Das Gegenteil ist richtig. Brigitte Boothe, die ein wichtiges Buch über die therapeutische Qualität des Erzählens geschrieben hat1, ist eine freundliche, sehr zugewandte Frau. Sie ist tief davon überzeugt, dass das Befinden jedes Menschen für die Welt Bedeutung hat. Aber indem wir beim Lesen ihrer schlichten Sätze ins Zweifeln kommen, ob sich darin eine Kritik verbergen könnte, haben wir uns schon als Zugehörige jener Generation geoutet, um die sich das Buch dreht, das Sie gerade in Händen halten: die Generation Kriegsenkel.

Geboren irgendwann zwischen Ende der 50er- und Mitte der 70er-Jahre, einen die meisten von uns Glaubenssätze, dass wir uns nicht so wichtig nehmen sollen. Uns nicht etwa einbilden, wir hätten Bedeutendes mitzuteilen, ja, seien womöglich für die Welt, in die wir hineingeboren wurden, von Bedeutung. So haben es die allermeisten von ihren Eltern gehört. Wollten wir aber nicht immer (na ja, meistens) liebe Kinder sein, die von ihren Eltern für Wohlverhalten anerkannt oder sogar geliebt werden? Also haben wir ihnen geglaubt.

Jetzt aber kommt Birgit Elke Ising daher und schreibt: „Wie bei vielen anderen gibt es auch in meiner Familie das ungeschriebene Gesetz: ‚Du darfst nicht schlecht über deine Familie reden. Es darf nichts nach außen dringen. Das, was in der Familie ist, geht keinen etwas an.‘“

Ich verrate nicht zu viel, wenn ich einräume: Bis zu dem Zeitpunkt, an dem in ihrer Geschichte diese Sätze fallen, haben wir schon eine Menge Schlechtes über ihre Familie erfahren, entsetzliche Erlebnisse eines kleinen Mädchens, einer Jugendlichen, einer erwachsenen Frau. Wir waren Zeugen von Familienkatastrophen, Bindungsunfähigkeit und Gewalt, Zusammenbrüchen und immer wieder der Tyrannei ihrer Mutter.

Warum schreibt sie das? Sie sagt: „Mir geht es besser, seitdem ich meine Worte, Wahrheiten und Wahrnehmungen in die Welt bringe … Ich rede! Ich darf fragen und reden. Ich drücke aus, was in meiner Familie abgedeckt und verdreht wurde, was meine Sinne, meine Wahrnehmung und mein ganzes Leben vernebelte. Ich habe ein Recht zum Ausdruck und ich wage es, über etwas zu schreiben, das ich nicht kenne und nicht erlebt habe, den Krieg. Ich drücke aus, was mich drückt. Jetzt. Ich würge mir den Mut hoch, ungehorsam zu sein, ein ‚undankbares‘ Kind, eine ‚Rabentochter‘.“

Ich finde das sehr beeindruckend. Seit Jahren gebe ich Seminare für Kriegsenkel: innen. In diesen Treffen öffnen viele Menschen ihr Herz und sprudeln Geschichten heraus, die anrühren und schockieren zugleich. Es ist tröstlich, in Gesichter zu schauen, die aufleuchten, wenn andere ihre Leidensgeschichten erzählen. „Ach, du auch?“, sagen sie. Wenn wir uns mitteilen können, stärken uns die Resonanz und Empathie der anderen.

Die schonungslose Offenheit von Birgit Ising aber ist besonders. Ihre Präsenz war schon in dem Seminar, in dem wir uns kennenlernten, sofort spürbar. Und natürlich ist es etwas anderes, einige Stunden gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichgesinnten zu verbringen, als ein Buch von mehr als 300 Seiten zu lesen, das in vielen Monaten des Schreibens und Ringens um die richtigen Worte entstand.

Die Wucht dieser Geschichte zu erfahren, Sätze wie diese zu lesen: „Ich habe keinen Krieg erlebt. Ich weiß nicht, was Hunger ist, Hunger nach Essen, Nahrung, Ernährung. Ich weiß aber, was emotionaler Hunger ist, der Hunger, den ich spürte, so nagend in mir spürte nach Wahrgenommen-Werden mit meinen Gefühlen, meinen Fragen, meinen Ansichten. Der Hunger danach, gesehen und ernst genommen zu werden. Der Hunger danach, dass ihr, meine Eltern, mein Leben seht, eines, das sich nicht nur in euren Augen spiegelt, eines, das nicht auf der Welt ist, um euer Trauma zu kompensieren, zu lindern oder gar ungeschehen zu machen, zu heilen, euch zu retten!“

Wir erleben eine Frau, die sich nicht schont, die mit teils bedrängender Offenheit ihre Verletzungen unter die Lupe nimmt und sich fragt: Wie sind sie entstanden? Welche Verheerungen hat der Krieg in den Seelen meiner Ahnen hinterlassen? Warum sind sie mit mir immer wieder so unbarmherzig umgegangen? Warum bin ich so oft gescheitert? Und wir als Leser: innen können uns aufgefordert sehen zu fragen: „Hat das was mit mir zu tun?“ Wenn wir einen Bruchteil so ehrlich sein wollen wie Birgit Elke Ising, ist die Antwort eindeutig: Ja natürlich!

Mit ihrer Geschichte spricht sie allen Menschen dieser Generation, die sich ihr Betroffensein als Kriegsenkel: innen eingestehen, aus der Seele, auch mir. Das seltsame Schuldgefühl, das wir immer mit uns herumtrugen, obwohl wir doch gar nichts verbrochen hatten. Die eigentümliche Hemmung, das zu tun, was uns wirklich erfüllte. Die rätselhaften Momente, in denen unsere Wahrnehmung wie von einem alles verschluckenden Nebel eingehüllt war. „Ich brauchte drei Burn-outs und viele Stunden Psychotherapie“, schreibt Birgit Elke Ising, „bis ich die Idee zulassen konnte, dass die immer wiederkehrenden und herausfordernden Themen in meinem Leben etwas mit den Erfahrungen meiner Eltern und Großeltern im Krieg zu tun haben könnten … Ich war verblüfft und ungläubig zugleich. Ja, okay, die Kindheit und Jugend meiner Eltern fanden im Krieg statt, sie waren Kriegskinder. Aber ich, deren Tochter, bin eine ‚Kriegsenkelin‘? Das sollte die Erklärung sein? Nie im Leben!“

Na ja …

Damit auch wir Leser: innen dieser grundstürzenden Erkenntnis und deren Konsequenzen für unser weiteres Leben auf die Spur kommen können, gibt es in diesem Buch einen ausführlichen Anhang mit Anleitungen zur Selbstreflexion sowie viele Literaturhinweise und Zitate aus historischen Quellen. Erschütternd etwa die Passagen aus dem berüchtigten sogenannten Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, dem entsetzlich wirkungsmächtigen Hauptwerk der Schwarzen Pädagogik.

Dennoch ist „Eingefroren in der Zeit“ ein sehr persönliches Buch. Es nimmt für sich in Anspruch, dass die Welt Kenntnis nehmen soll von dem, was Birgit Ising zu erzählen hat. Aber was sie erzählt, weist deutlich über das Persönliche hinaus. Sie bricht ein Schweigen, das unsere Gesellschaft in vielen Teilen immer noch belastet und gefangen hält. Das unselig wirkt, gerade weil wir nicht wissen, welche unterdrückten Geschichten in uns nachwirken, mehr als 75 Jahre nach Ende von Weltkrieg und Nazi-Diktatur. Und damit hat dieses Buch eine gesellschaftliche, eine politische Dimension.

Was ich aber auf keinen Fall unterschlagen möchte: Vor allem erzählt es eine faszinierende Geschichte. Mal krass, mal poetisch, mal wütend, mal weise. Das Mutter-Tochter-Drama, dessen Zeuge wir sind, ist spannend und ergreifend und erschütternd – und manchmal auch zum Lachen irre! Aber dann auf einmal wandelt sich der Ton, der so polemisch und schneidend sein kann, und wird zärtlich und anrührend. Warum, das sei der Lektüre vorbehalten. Da weichen dann aller Ärger und alle Wut, alle Vorwürfe und Verletzungen. Und endlich kann sich ganz entfalten, was uns mit den Menschen verbindet, denen wir unser Leben verdanken. Liebe.

Hamburg, im Dezember 2021

Sven Rohde

Coach und Autor, Vorstand im Kriegsenkel e. V.

Brigitte Boothe: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess, Stuttgart 2011

Prolog

Zarte Triebe einer aufkeimenden Liebe

Ich beginne, mich so zu lieben wie ich bin, während ich suche nach den Leerstellen, den Unbekannten, Verleugneten, Vergessenen, Verlorenen, Seelen, die mich am Ende ihrer Reihe stehen lassen mit meinen Füßen, fest verbunden in der Erde.

Ich ehre meinen eigenen Weg des Spürens, des Sehens, des Verstehens – langsam.

Take your Time, Honey!

Ich weiß, das Dunkel wird sich licht-en, leicht und klar. Schon eine zarte Morgendämmerung in meinem Horizont.

Ich lerne langsam. Wichtig ist, Bröckchen für Bröckchen gut zu kauen, zu verdauen.

Ich fühle den Zusammenhang, ich liebe mein Erkennen und finde eine Sprache, finde Worte, die gut abgelagert im Dunkel der Verdrängung nun emporstreben.

Sie stülpen mein Grauen nach außen.

Ich weiß, welche Lebensaufgabe auf mich gewartet hat wie eine Frucht, die nur sehr langsam reift am alten dunklen Holz.

Die lang schon durch mein Leben scheint, verhüllt in Pergamentpapier. Geduldig reifend, wartend, wissend.

Ich spür, wie meine Löcher heilen, schwarz und blutlos, ohne Luft. Wie langsam die Samen in der düstren Erde keimen und sich emporstrecken zum Licht – zu mir.

Zur Wärme, zum Willkommensein und zu allem, was ich bin und tu und sage.

Birgit Elke Ising

KLAR SCHIFF MACHEN

In meiner Herkunftsfamilie haben alle meiner Vorfahren Kriegserfahrungen, haben Bombenangriffe, körperliche Gewalt, Trennung und den Tod von geliebten Menschen erfahren. Viele verloren ihre Heimat – ihr Zuhause wurde zerbombt, verbrannt oder ihnen weggenommen. Sie flüchteten oder wurden vertrieben.

Sie lebten in der Zerrissenheit zwischen willigem oder fremdbestimmtem Tätertum und wegschauendem oder unschuldigem Opfersein.

Was machten diese traumatischen Erfahrungen mit meinen Eltern? Wie gingen sie damit um und wie prägten ihre Bewältigungsstrategien ihr Verhalten und in der Folge auch ihren Umgang mit mir, ihrem Kind? Wie zeigten Mutter und Vater sich in Beziehungen und welche Auswirkungen hatte das auf mich und mein Leben? Und vor allem: Auf welchen Weg hat mich das Leben „geschubst“, um damit umzugehen?

Wie konnte ich es überhaupt schaffen, zu spüren? Mich und meine Umwelt? Wie lernte ich, mir und meinen Wahrnehmungen zu trauen? Und was tat ich, um nicht mehr daran zu glauben, unwichtig und unsichtbar zu sein? Wie wurde ich sichtbar vor mir selbst und für mich selbst – und auch für andere? Wie fand ich zu meinen Werten, jenseits von „Ruhe und Ordnung“, wenn niemand da war, der mir half, sie zu finden? Kurz: Wie fand ich meine Lebendigkeit und wie bewältige ich mit diesem Erbe meiner Vorfahren mein Leben? Geht das überhaupt?

Während meiner Arbeit als Führungskraft und Projektmanagerin in einer großen deutschen Bank als Trainerin, Theaterfrau, Improvisationstheater-Schauspielerin und Coachin begegneten mir immer wieder Menschen, die einen diffusen Schatten mit sich herumtragen, der ihr Handeln bestimmt, den sie jedoch nicht verstehen. Sie haben keine Erklärung für ihr eigenes herausforderndes und/ oder sich selbst beschränkendes Verhalten. „Ich weiß gar nicht, wo das herkommt. Ich habe doch gar nichts Schlimmes erlebt.“ Bis hin zu den Fragen: Wer bin ich überhaupt? Was will ich wirklich? Was fühle ich? Und was kann ich anders machen, damit es mir besser geht? Andere quälten sich – so wie ich – mit der Grundsatzfrage ab: „Was ist das überhaupt, das Ich, ein Ich, mein Ich?“ Auch ich bemerkte diese diffusen Schattengefühle, schob sie aber zur Seite, kümmerte mich nicht darum, machte einfach weiter. Ich sagte zu mir selbst und zu anderen „Was soll schon sein? Ich habe ja nichts!“ und erbrachte: Leistung, Leistung, Leistung. Ich ging über meine Grenzen, bis ich zusammenbrach – nicht nur einmal. Ich brauchte drei Burnouts und viele Stunden Psychotherapie, bis ich die Idee zulassen konnte, dass die immer wiederkehrenden und herausfordernden Themen in meinem Leben etwas mit den Erfahrungen meiner Eltern und Großeltern im Krieg zu tun haben könnten.

In meinen Therapien stieß ich auf die Bücher von Sabine Bode Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen1 und Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation2. Ich war verblüfft und ungläubig zugleich. Ja, okay, die Kindheit und Jugend meiner Eltern fanden im Krieg statt, sie waren Kriegskinder. Aber ich, deren Tochter, bin eine „Kriegsenkelin“? Das sollte die Erklärung sein? Nie im Leben! Es war für mich schon schwer genug, meine belastenden Gefühle und Muster überhaupt in Worte zu fassen. Und diese dann auch noch mit dem Thema Krieg in Verbindung zu bringen, erschien mir ungeheuerlich, undenkbar und komplett abwegig. Immer wieder hörte ich die Stimme in mir: „Hör auf mit dem Quatsch! So ein Unsinn!“

Doch das Thema ließ mich nicht los und je mehr ich über „transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumafolgen“ las und lernte, desto mehr wich diese abwiegelnde Stimme einer sich langsam festigenden Gewissheit. Ich erkannte etwas als in meinem Leben wirkend an, das ich selbst gar nicht erlebt hatte. Ich fand Erklärungen für das Verhalten meiner Eltern und Großeltern und ich spürte, dass meine diffusen Regungen und Schattenkindgefühle klar zu benennende Ursachen haben, die außerhalb meiner selbst liegen: in lange vergangenen Kriegen.

Seitdem ich das weiß, bin ich nicht mehr „auf dem falschen Dampfer“. Ich fühle mich nicht mehr wie ein Wesen von einem anderen Stern, denn ich teile meine wiederkehrenden, fast stereotypen Annahmen über das Leben mit vielen anderen Menschen.

Ich bin eine Kriegsenkelin – und ich bin mit meinen Problemen nicht allein.

Mit meinem Buch Eingefroren in der Zeit möchte ich dich mitnehmen auf meinen Weg der Erkenntnis und der Heilung. Ich nehme dich mit auf die Reise meiner Suche zu mir, zu meiner Familie und ihrer Geschichte.

Ich fand auf meiner Reise meine Wut und konnte endlich um Verluste und Verletzungen trauern – und das Beste: in tiefem Verständnis der Ursachen. Das machte mich milder und nachsichtiger mit meinen Eltern und mit mir selbst. Ich sehe und verstehe immer mehr Zusammenhänge zwischen dem Kriegserleben meiner Eltern und Großeltern, ihrem Verhalten und meinem Leben.

Ich zeige dir, welchen Themen ich auf meiner Reise begegnet bin, und vielleicht sind dir meine Erlebnisse eine Anregung, deinen unerklärlichen Lebensthemen auf die Spur zu kommen. Eingefroren in der Zeit will dich inspirieren, in deinen eigenen Geschichten und denen deiner Familie zu fahnden. Ich möchte dich ermutigen, dir deinen Lebensweg anzuschauen, bis jetzt, da du heute diese Zeilen liest, und dich einladen, den Weg in deine eigene Vergangenheit zu gehen, sie dir genau anzuschauen und die alten Geschichten auszugraben. Und wenn du ihn einschlägst, den holperigen Pfad der Erkenntnis, dann wünsche ich dir, dass deiner etwas leichter wird als meiner. Vielleicht können meine Geschichten und Erkenntnisse für dich wie Samenkörner sein und dir bei der Spurensuche helfen, wenn du Ähnliches erlebt hast. Vielleicht fallen dir beim Lesen aber auch ganz andere Dinge ein, an die du ewig nicht gedacht und die du noch nie in den Kriegszusammenhang gesetzt hast. Ich wünsche dir dabei Ahnungen, Aha-Erlebnisse und Ideen, um die Zusammenhänge in deiner Familiengeschichte zu untersuchen, schließlich klarer zu sehen und dein eigenes „seltsames“ Verhalten besser zu verstehen. Aber Achtung, der Weg kann schmerzhaft sein und alte Wunden aufreißen. Sei bitte achtsam mit dir und deinen Gefühlen, pass gut auf dich auf und hol dir Unterstützung. Du musst nicht mehr (so wie früher) alles allein machen! Es gibt viele gute Psychotherapeut: innen, Gesprächsgruppen, Kliniken und Vereine, die dich unterstützen können und für die das Thema „generationenübergreifende Traumaweitergabe“ kein Hokuspokus ist.

Ich möchte dich ermutigen, ihn zu gehen: deinen ganz eigenen Weg, selbstbestimmt, in deine Freiheit, in deine Liebe zu dir selbst – und wenn vielleicht auch nicht zur Vergebung, dann wenigstens zu einem besseren Verständnis deiner Eltern und Großeltern. Aber vor allem: in eine annehmende und liebevolle Güte dir selbst gegenüber. Denn die haben wir alle mehr als verdient!

Darum räume ich auf mit mir und meiner Familie und in meiner Familiengeschichte. Ich habe das dringende Bedürfnis, die Irrlichter zu erhellen, den Nebel zu lichten und das Schweigen zu brechen. Meine Kindheit fand auf den Ablagerungen von Krieg und Gewalt statt. Ich entferne, was mich blockiert. Ich fühle mich mit Ende fünfzig noch immer so, als stünde ich gerade am Anfang: manipuliert, getriggert, abhängig und benutzt, ohne Kontur, ohne eigene Wahrnehmung – ohne eigene Meinung. Ich entspreche dem Bild, in das ich hineingeboren wurde, und ich fülle den goldenen Rahmen meines Lebens, den mir meine Familie an die Wand genagelt hat. – Ich akzeptiere seine Grenzen, unhinterfragt und selbstverständlich, unerwachsen und unfrei verstrickt. Das will ich nicht mehr!

Darum richte ich den Lichtschein meiner Taschenlampe ins Dunkel, mal schlotternd, mal zaghaft und vorsichtig, aber auch schonungslos und brutal. Ich zerre das Unausgesprochene und Schwere aus dem Schatten ins Licht, löse mühsam und langsam den fest verknoteten riesigen Haufen aus verschlungenen und verfilzten bunten Wollfäden unterschiedlichster Art. Schlinge um Schlinge entwirre ich und wickele die Fäden auf, ich entknote was nicht zusammengehört und ribbele auf, was verstrickt ist. Ich sortiere Farben und Materialien und lasse viele verschiedene, kleine und große separate Knäuel entstehen, die ich dann in eine zauberhaft schöne, mit rosa Samt bezogene Kiste sortiere. Deren Deckel will ich danach schließen. Ich werde sie nicht – was als erster Impuls naheliegend erschiene – in den Keller meiner Seele transportieren und dort vergraben, sondern ich werde sie ins Licht stellen, in mein Bücherregal in meinem Zimmer. Als Startpunkt, als Basis meines Seins und meines Wissens. Und ich werde nicht mehr darin herumwühlen, denn ich weiß ja, was darin ist. Ihr Inhalt wird nicht mehr mulmig und düster in meinen Eingeweiden drücken, fordernd schreien, dass da noch etwas Großes zu entwirren und zu erledigen sei. Ich werde mich nicht mehr verlieren müssen, weil alles geordnet ist und seinen ihm eigenen Platz hat.

Und auch ich werde entwirrt – nicht mehr verwirrt sein.

Sabine Bode, Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, 2012

Sabine Bode, Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation, 2019

1

Frühling – erinnern

Armes Kleines

Du schläfst im kratzigen Mantel, Klobige Schuhe,

Findest deine paar Sachen im Dunkeln.

Glitzernde Tannenbäume am Nachthimmel. Schön sieht das aus.

Die Großen schreien, drängen zur Eile.

Beeilung! Lauf! Schnell!

Im Durcheinander

Nasse Tücher vorm zarten Mädchengesicht.

Feuermäuler gebären höllische Hitze.

Nichts sehen im zart konturierenden Qualm.

Dünne Beinchen, fast versinkend auf schmelzender Straße,

Steigen im Geheul über verbranntes Lebendigsein.

Reste deiner verkohlten Puppe,

Im geschwärzten Schrankskelett.

Dein Zuhause ein bröckelnder, hohler Zahn.

Glassplitter auf Muttis Geburtstagstorte,

Zutaten vom hungrigen Munde abgespart.

Keine Gefallenen … Kerzen.

Kleines Herz, fast zerberstend vor zitternder Angst Versenkt sich stumm in erstarrtem Lebendigsein.

Jemand spielt Flöte,

… Aber ich darf nicht weinen.

Birgit Elke Ising

DIE FRAUEN OHNE MÄNNER

Meine Urgroßmutter Anna Rosina führte ihren kleinen Hof im oberschlesischen Dorf Sacken, bestehend aus ein wenig Land hinter dem Haus, einer Ziege, einer Kuh, einem Schwein und einer Katze – allein. Sie war eine einfache, gute Frau und bestellte ihr Feld, das hinter dem Haus bis an den Waldrand reichte. Der Boden im Haus war gestampft. Das Wasser schöpfte sie mit einem an einem dicken Seil befestigten Zinkeimer aus einem Ziehbrunnen, der aussah wie im Märchen. Einmal in der Woche buk sie im Holzofen auf der Tenne Brot und ihren im Dorf berühmten, duftenden Streuselkuchen. Und sommers kamen sie: ihre ganze Freude, die Enkelkinder, gebracht mit dem Zug über Breslau und Oppeln von ihrer Schwiegertochter, meiner Oma Elisabeth. Der Nachbar holte sie und die zwei Kinder, meine 1928 geborene Mutter Inge und ihren zwei Jahre älteren Bruder Günter mit dem Pferdewagen vom Bahnhof in Poppelau ab. Sie hatten immer ein ganzes Zugabteil für sich, es war fast wie ein Umzug, weil sie so viel dabeihatten – neben ihrem eigenen Kram auch noch Strümpfe und Stoffe, Pullis und Schürzen für die Oma und alles andere, was die alte Frau in Sacken oder im 3,5 km entfernten Poppelau nicht so gut bekommen konnte. Dafür nahmen sie auf dem Rückweg ganze Körbe voller Heidelbeeren, Schinken, Würste und Eingemachtem mit nach Hause.

Als die Kinder den Nachbarn vor dem Bahnhof auf seinem Pferdewagen sitzen und auf sie warten sahen, da gab es kein Halten mehr, sondern nur noch Juchzen, Geschubse und Gerenne. Na los! Wer zuerst bei den Pferden war! So begannen Jahr für Jahr für meine Mutter und ihren Bruder die besten Wochen des Jahres. Im Paradies bei der Oma sein! Und was das noch für Sommer waren: blauer, wolkenloser Himmel, an dem immer die Sonne hing, goldene Felder, saftige Wiesen. Still schwirrte die Luft und gedämpft waren die Geräusche. Diese Stille war fast das Beste, nahezu unaushaltbar schön. Hier hörte Mutter die Insekten am Boden herumkruscheln und die Bienen in knallbunten Blüten summen – hier war es still, hier war Frieden. Fahrten im Pferdewagen, hui, draußen sein und im Wald herumstromern, mit den Tieren und den Dorfkindern spielen, im Garten und auf dem Feld helfen, heimlich die noch knallheißen Streusel vom frischen Kuchen stehlen und sich daran den Mund verbrennen. Und vor allem: nicht mit dem Rohrstock verdroschen, ja noch nicht einmal ausgeschimpft zu werden. Oma Anna Rosina war für die Kinder Liebe und Freiheit. Es war ein Ritual, wenn sie am frühen Nachmittag des Backtages scheinbar überrascht und erschreckt über den Hof schrie: „Ach Gott, was ist das denn Furchtbares? Was ist denn bloß mit dem Kuchen passiert? Wer hat denn die ganzen Streusel vom Kuchen geklaut? Na warte, wenn ich den erwische!“ und dabei die Arme in die Luft warf und mit dem rechten Zeigefinger fuchtelnd drohte. Dann riefen die Kinder gespielt bang zurück: „Oma, Oma! Das war doch wieder die Katze!“, und sie antwortete stets mit einem Kopfschütteln und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht mehr zu sich selbst als zu den Kindern: „Na, ihr seid mir schöne Katzen …“

Damit war alles gesagt. Nicht bestraft und nicht verprügelt. Dem tiefen schwarzen Loch, in dem sonst das Monster mit dem Rohrstock lauerte, mussten die Kinder hier keine Beachtung zumessen. Bei Oma Anna Rosina war das Versteck des Monsters leer.

Am Abend versanken alle glücklich und erschöpft in den dicken Federbetten und freuten sich auf den nächsten Tag und auf die nächsten Kinderabenteuer – auch Anna Rosina. Die gemeinsamen Wochen waren unbeschwert und frei. Hier durften Kinder Kinder sein, durften spielen, Streiche aushecken und lachen.

Zu Hause war den Kindern ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen schon lange vergangen. Beides lag dort in einer verschlossenen Kiste, die meine Mutter auch später im Leben nur sehr selten öffnete.

Nach ihrem Opa fragten die Kleinen ihre Mutter nur einmal auf dem Hinweg im Zug. Meine Oma Elisabeth, die eben noch den ganzen Kram im Abteil organisierte und das Monster im Loch dabeihatte, antwortete knapp: „Ach, der ist doch im Krieg geblieben.“ Auch damit war alles gesagt und weitere Fragen der Kinder nach ihm endeten genau hier.

Und nur ein einziges Mal gab es für die Kinder bei Anna Rosina Riesenärger. Das war, weil Günter das Stück Seife, das immer auf einem bunten Lappen auf dem natursteinernen Brunnenrand lag, beim Händewaschen in der kleinen Waschschüssel, die danebenstand, aus der Hand geglitscht war. Oh nein! Die Seife schlitterte über die grauen Steine. Vier Kinderhände wollten das Schreckliche verhindern, versuchten rangelnd danach zu grabschen, ein, zwei Finger berührten sie, aber sie flutschte hüpfend davon. Den grünen Seifenschleim noch an den Fingern, sahen die beiden erstarrt zu, wie die Seife fast in Zeitlupe in den tiefen Brunnen trudelte an seinem Inneren entlangglitschte und einundzwanzig-zweiundzwanzig-dreiundzwanzig mit einen Riesenklatscher unten aufschlug. Das musste kurz nach der Ankunft bei Anna Rosina passiert sein, denn ihre Mutter war noch nicht wieder zurück nach Hause gefahren.

Da erhob sich das Monster blitzschnell aus dem schwarzen Loch: „So schnell konnten wir gar nicht gucken, so schnell hatten wir Dresche. Alle beide! Und wir mussten am helllichten Tag ohne Essen ins Bett. Dabei hatte ich doch gar nichts gemacht“, erzählte meine Mutter später die Geschichte.

Anna Rosina aber scheuchte das Monster ins Loch – in den Brunnen. Es musste hinabklettern, die Seife herausholen und den ganzen Brunnen erst auswaschen und dann stundenlang leerschöpfen. So lange, bis das Wasser wieder klar war und nicht mehr nach Seife schmeckte. Die Kinder beobachteten ihre Mutter dabei bis zum späten Abend heimlich aus dem Fenster. Bis dahin hatte es noch niemand gewagt, das Monster zu bestrafen.

Der Rohrstock war dem Monster an der rechten Hand festgewachsen und damit übte es immer absolute Gerechtigkeit: Nach einer vermeintlichen Tat wurden einfach alle Kinder, eins nach dem anderen, verprügelt – egal, wer es gewesen war. Da musste es sich nicht lange mit den gegenseitigen Beschuldigungen der Kinder auseinandersetzen und konnte sicher sein, „immer den Richtigen zu erwischen“. Die Unschuldigen hatten dann einfach Pech gehabt oder nicht gut genug auf den Täter aufgepasst. Die Tat verhindert hatten sie ohnehin nicht und somit waren alle gleichermaßen schuld. Das Monster konnte die Kinder und ihre Angst riechen. Jeder Versuch, sich ihm zu entziehen, war zwecklos. Wenn sich meine unschuldige Mutter unter dem Sofa versteckte, um dem Monster zu entgehen, spürte es sie auf, zerrte sie mit Schaum vorm Maul und umso wütender an den Haaren hervor und dann war es ihm auch egal, wohin es schlug, weil es nun noch einen Grund mehr hatte. Danach steckte das wütende Monster die Kinder zur Strafe ins Bett, verbarg seinen Rohrstock, damit sie ihn nicht verstecken konnten, oder suchte sich vorher in den Zimmerpflan zen einen Ersatz für den eben auf dem Kind zerbrochenen. Dann kroch es mit dem Stock wieder in sein Loch und ließ eine junge, erschöpfte und überforderte Mutter zurück, die vieles allein bewältigen musste. Seit Oma Elisabeth 23 war, hatte sie keine Eltern mehr. Als sie mit meiner Mutter, der kleinen Inge, im fünften Monat schwanger war, war ihr Vater verstorben und nur kurze Zeit später, als ihr Baby gerade erst vier Monate alt war, hatte sie auch keine Mutter mehr.

Ihr Mann, mein Opa Gustav, arbeitete bei der Bahn im Gleisbau, verdiente „gutes Geld“ und musste nicht in den Krieg, war dafür aber selten zu Hause. Meistens war er auf Montage und ließ Oma allein mit den Kindern.

Wenn er mal zu Hause war, sorgte er für zusätzliche Arbeit. Einmal setzte er sich zum Schuheausziehen auf den Kindertisch – mit dem Hintern mitten hinein in einen Teller dampfender, ohnehin viel zu knapper Erbsensuppe. Ein andermal wachte er betrunken nachts auf, öffnete die Tür des Kleiderschrankes, pinkelte zwischen Omas feine kleingeblümte Kleider und legte sich wieder hin. Er hatte die Türen verwechselt. Mit der Erziehung der Kinder hatte er nichts zu tun. Das machte Elisabeth und ihre einzige Hilfe war das Monster.

Eins der für meine Mutter wichtigsten Prinzipien im Leben war ihr absolutes Bestreben, niemals, wirklich niemals an etwas schuld zu sein. Sie machte einfach keine Fehler. Sie gab sich unangreifbar.

Das Monster saß ihr ein Leben lang im Nacken.

Bei meinem Vater war es anders. Die Männer, die aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt waren, waren wortkarg, autoritär und von nächtlichen Albträumen geschüttelt. Ob das bei seinem Opa, dem Vater seiner Mutter Lissy auch so war, weiß ich nicht. Auf allen alten Fotos schaut mein Urgroßvater militärisch-grimmig in die Kamera, manchmal mit Uniform, manchmal ohne. Eine Respektsperson.

1910 war er, der Telegrafenassistent Johannes Ising, mit seiner Frau Hermine und seiner neunjährigen Tochter Lissy von Hofgeismar nach Kassel gezogen, zunächst für einige Jahre in die Elfbuchenstraße 14 im Westend und 1914 dann in eine schöne große und lichtdurchflutete Wohnung in der vierten Etage der Wilhelmshöher Allee 162. Das war Luxus. Eine Wohnung mit Balkon. Als Postsekretär war mensch wer! Auf den alten Fotos sieht die Familie wohlhabend aus. Fototermine im Bergpark Wilhelmshöhe und in Fotostudios: dunkle Anzüge, Hemden mit hohem steifen Kragen, Kostüme, mit Spitze besetzte Kleider, Hüte, Schmuck, Pelze, gute Schuhe.

Ihre Tochter, meine Oma Lissy, war eine junge wunderschöne Frau, als sie im Fernmeldeamt eine Anstellung fand. Kaum 22 Jahre alt war sie 1924 plötzlich schwanger und sie sagte nicht, von wem. Wie schrecklich für sie und ihre Eltern – welche Angst sie wohl gehabt haben muss, ihnen die „Schande“ zu beichten? Nach dem Tod meines Vaters fand ich eine Notiz von Uropa Johannes mit einer hineingesteckten getrockneten Rose: „Dieses schöne Röschen brachte mir unser lieber Helmut als er drei Monate alt war zu meinem 53. Geburtstage. Großvater. 18.6.1925.“ Ich bin noch immer erstaunt über die Zeilen, die so gar nicht in meine Vorstellungen von dieser Zeit und dem streng dreinblickenden Mann passen. Zeilen, aus denen Liebe spricht und die den kleinen Helmut offenbar, auch ohne Papa und ohne Ehehafen, akzeptierten, ihn nicht zum Bastard machten. Ich finde das groß – und seltsam zugleich. Warum war das so? Wie waren die Verhältnisse? Was hatten sie für eine Beziehung? Vaters Großmutter Hermine liegt für mich im Nebel wie ein Schatten, kaum vorhanden.

Mein Vater kam im März 1925 zur Welt, von seinem Großvater mit Freude erwartet und großgezogen von seiner unverheirateten Mutter in der Wohnung ihrer Eltern. Vaters Geburtsurkunde des Diakonissen-Krankenhauses brüllt „Vater unbekannt“. Er ist es bis heute. Oma Lissy hat ihr Schweigen durchgezogen. Mein Opa, der Vater meines Vaters, blieb ihr wohlgehütetes Geheimnis. Sie nahm es mit ins Grab.

Der kleine Helmut wurde ihr Ein und Alles und das blieb so, auch als er bereits ein erwachsener Mann war. Sie behütete und vergötterte „ihr Jungelchen“ – er wurde ihr zum emotionalen Ersatz des fehlenden Mannes. Und Helmut war dankbar und der sie „über alles liebende“ Sohn. Dass er sie nicht verlassen durfte, das lernte er früh. Aber was „einen Vater haben“ und später dann in der Beziehung zu mir „ein Vater sein“ bedeutete und wie sich das anfühlte, anfühlen sollte, das kannte er nicht.

Ob er Lissy je nach seinem Vater gefragt hatte, weiß ich nicht. Mutter erzählte mir später, sie seien einmal gemeinsam „irgendwohin zu irgend so einem Mann und seiner Familie gefahren“. Sie sei draußen vor dem Einfamilienhaus im Auto sitzen geblieben. Er sei da alleine rein und danach hätte es nichts Neues gegeben, Vater hätte nichts erzählt. Dann kam ihr typisches: „Basta! Das ist so lange her! Mehr weiß ich nicht!“ Nichts, kein Wer, kein Wohin, kein Wann und auch nicht, was Vater danach bewegt hatte. Ich kochte! So was Wichtiges kann mensch doch nicht vergessen. War sie emotional so wenig involviert gewesen bei der Suche ihres Mannes nach seinem Vater? Ich war fassungslos.

DAS KENNENLERNEN

Mutters großer Bruder Günter war kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in englische Gefangenschaft geraten und hatte dort meinen Vater, den nur ein Jahr älteren Helmut, kennengelernt. Und – welch ein Zufall! – sie kamen beide aus Kassel. Die ferne Heimat verband sie, und sie freundeten sich an. Durch welche Umstände sie sich aus den Augen verloren, weiß ich nicht. Sie suchten nicht nacheinander, denn sie hatten sich schon abgewöhnt, darüber nachzudenken, „wo andere abgeblieben waren“. Kurz vor Weihnachten 1949 staunten die beiden nicht schlecht, als sie sich plötzlich in Kassel auf der Straße wieder gegenüberstanden.

„Das darf doch nicht wahr sein! Das gibt’s doch gar nicht! Was machst du denn hier?“

Sie fielen sich in die Arme. Große Wiedersehensfreude!

„Komm, wir trinken erst mal einen.“

Sie beschlossen, sich nicht wieder zu verlieren und Günter lud Helmut zum Essen zu Weihnachten nach Hause zu seinen Eltern ein. „Ich habe auch eine nette Schwester!“, soll er ihm beim Auseinandergehen fröhlich zwinkernd hinterhergerufen haben. Die nette Schwester war meine Mutter und so lernten sich meine Eltern kennen. Das mit den beiden ging später schief, aber Onkel Günter und mein Vater blieben bis zuletzt dicke Freunde.

DAS ZUHAUSE

Kurz darauf passierte etwas Dunkles und Dubioses. Danach stand meine Mutter auf der Straße und ihre Eltern ließen sich scheiden. Rund um diese Ereignisse gibt es nur Mutters verhangene Fragmente und meine Vermutungen. Sie drehte sofort durch, wenn ich wissen wollte, warum Oma Elisabeth und Opa Gustav geschieden waren, und fing sofort an zu weinen und zu schnappatmen: „Schrecklich! Ich habe so gelitten! Sie hat mich rückwärts die Treppe heruntergeschubst. Die wollten mich umbringen!“, waren ihre immer gleichen Sätze. Ich wollte meine Mutter so nicht sehen und meine Fragen verebbten in der heftigen alles verschlingenden Brandung ihrer Reaktion – jedes Mal und augenblicklich. Es scheint, Oma habe ihren Gustav mit einem anderen Mann betrogen, und es ist zu vermuten, dass meine Mutter die beiden in flagranti ertappt hatte. Meine Cousine meinte einmal, dass „da auch irgendetwas mit einem anderen Kind gewesen sein könnte“, aber eine Spur dorthin gibt es nicht. Relativ sicher scheint, dass „der andere“ ein Mitarbeiter meines Opas gewesen war, vielleicht sogar der Prokurist in seinem Gleisbauunternehmen.

Da muss das Monster sein faulig stinkendes Maul wieder aufgerissen und seine scharfen Zähne in den nach jungem Blut duftenden Leib meiner 22-jährigen Mutter geschlagen haben – zum allerletzten Mal. Sie bleib ihm jedoch im Hals stecken, etwas hinderte es daran, sie ganz zu fressen. Stattdessen warf es Mutter, deren Beziehung zu seiner Herrin und deren Ehe in den Abgrund. Ob Mutter tatsächlich „zu Hause rausflog“ oder ob sie in ihrem Schreck, ihrer Scham und Angst weglief und sich danach nicht mehr nach Hause traute, hat sie nie erzählen können. Nach ihrer kurzen Explosion schloss stets ihr Standardsatz die Geschichte: „Das war so furchtbar, ich wusste überhaupt nicht, wohin!“ Ihr Vater kam darin nicht vor.

Helmut mochte sie und bot ihr an, erst einmal mit zu ihm nach Hause zu seiner Mutter zu kommen. Das tat sie und ab dem Zeitpunkt waren sie für viele Jahre zu dritt in der Wilhelmshöher Allee 162. Ich kann mich an Oma Lissy nicht erinnern und Mutter berichtete immer, dass es mit ihr „die Hölle“ gewesen sei. „Deine Oma Lissy war so hinterfotzig und gemein zu mir. Die konnte ihren Sohn einfach nicht loslassen und hat alles getan, um gegen mich zu sein.“ Zwei Jahre später war Mutter noch immer dort gemeldet, ohne mit Helmut verheiratet zu sein. Aber weil die Leute schon redeten, sagte Oma Lissy: „Jetzt macht mal hinne, ihr beiden“ – und da heirateten sie. Die Hochzeitsgesellschaft waren nur Vaters Mutter Lissy und Mutters Vater Gustav. Ich habe Mutter nie von Liebe sprechen hören, aber ich glaube, sie in ihren Blicken auf dem Hochzeitsfoto zu sehen.

Ihre Wohnsituation änderte sich durch die Heirat nicht, denn Vater machte auch danach „keine Anstalten“, wie Mutter es nannte, mit ihr zusammen eine eigene Wohnung zu suchen. Dies war zwar in Kassel auch zehn Jahre nach der großen Bombardierung ein schwieriges Unterfangen, aber, so sagte sie immer, er versuchte es nicht einmal. „Der konnte sich nicht von seiner Mutter lösen. Der brachte es nicht fertig, zu Hause auszuziehen“, und Mutter hörte nicht auf, sich darüber zu beschweren – auch bei ihrem Vater, dem inzwischen stadtbekannten Gleisbauunternehmer. Opa Gustav besorgte den beiden eine Wohnung und schenkte seiner Tochter die schweren Möbel aus dunkler Mooreiche mit den Füßen, die aussahen wie Tiertatzen, und den geschnitzten Vögeln und anderen wilden Fabelwesen, die ich später als Kind so bestaunte, weil sie mir in fremden Sprachen ihre Geheimnisse zuflüsterten, wenn ich sie mit dem Staubpinsel kitzelte.

Abb. 1: Hochzeit meiner Eltern, 1952

„So eine schöne Wohnung“, schwärmte Mutter, „aber dein Vater hat es nicht geschafft, sich da richtig anzumelden.“

Ein Drama! „Sie“ (die Behörden) hatten ihr die Wohnung deswegen wieder weggenommen. Sie war für sie allein zu groß. Wohnraum war knapp im Kassel der Nachkriegszeit und wurde behördlicherseits nicht verschwendet.

„Da machten die kurzen Prozess!“

Erst viel später konnte ich verstehen, dass es auch für Vater schwer gewesen sein muss. Ich kannte immer nur ihre Sicht. Er befand sich in einem Dilemma und war großem psychologischen Druck ums Familienerbe ausgesetzt, weil die riesige Jahrhundertwende-Wohnung in der Wilhelmshöher Allee, in der Oma Lissy eisern residierte, ihr bei seinem amtlich registrierten Auszug ebenfalls nicht mehr zugestanden hätte. Das konnte er seiner Mutter doch nicht antun! Er konnte die Wohnung seiner Großeltern schließlich nicht für meine Mutter „verschleudern“. Ich kann mir vorstellen, wie lähmend es für ihn gewesen sein muss, zwischen den Interessen der beiden konkurrierenden Frauen zu stehen, und wie folgerichtig es für ihn als „guter Sohn“ war, bei Mutti gemeldet zu bleiben.

Ob meine Mutter nach dem enttäuschenden Verlust der ersten eigenen Wohnung zu den beiden „in die Hölle“ zurückkehrte, ist fraglich. Diese Zeit ist leer. Aber in den alten Adressbüchern der Stadt Kassel, die im Stadtmuseum einsehbar sind, fand ich etwas anderes: Mutter und Vater hatten 1958 und 1959 eine gemeinsame Wohnung in der Heckerstraße 29. Oma Lissy war in diesen beiden Jahren in der Wilhelmshöher Allee allein gemeldet. Was? Nicht im Ernst! Also hatte er es doch versucht! Das hatte Mutter mir nie erzählt. Warum? Kopfschüttelnd schnuffelte ich weiter in den alten staubigen Adressbüchern. Im Jahr darauf – 1960, also zwei Jahre vor meiner Geburt – wohnte Vater schon wieder bei seiner Mutter. Wieso? Was war da vorgefallen?

Abb. 2: Mutters Geschäft 1956–1960

Und da stieg langsam ein vernebelter Erinnerungsfetzen in mir hoch. Mutter hatte doch Mitte der 1950er-Jahre ein Damenmodengeschäft auf der Wilhelmshöher Allee! Und richtig: Ich fand es, Hausnummer 84, 1956 bis 1960. Und dann fiel mir wieder ein, dass ich sie einmal gefragt hatte, warum sie den Laden aufgegeben hätte. Auch darauf bekam ich nur zwei Sätze hingeworfen: „Das ging dann irgendwann nicht mehr, weil dein lieber Vater immer angeschissen kam und in die Kasse gegriffen hat. Ich konnte gar nichts mehr einkaufen.“ Es ist nebelumhüllt, aber irgendwie passt das zusammen. Und gab es nicht auch eine Zeit, in der Mutter eine Weile im kleinen Hinterzimmer ihres Ladens geschlafen hatte?

Es scheint mir, als wären Mutter und Vater schon miteinander fertig gewesen, als ich auf die Welt kam.

Erst zehn Jahre nach ihrer Hochzeit war Mutter mit mir schwanger. Ihr Zustand und ich halfen ihr dabei, endlich eine Wohnung in Baunatal zu finden. Sie zog dort mit den Fabelwesenmöbeln und mit mir im Bauch im fünften Monat schwanger ein. Und dann wieder das Gezanke und Gezerre um das gleiche Thema, die polizeiliche Meldung meines Vaters in der Wohnung, die für meine Mutter das Zuhause ihrer neuen kleinen Familie werden sollte.

„Der machte da so ein Theater drum!“, höre ich Mutter noch immer. Ich war zwei Monate alt, als sie dachte, sie hätte ihn so weit. Er ging zum Einwohnermeldeamt in Baunatal und meldete sich an – mit einem Zweitwohnsitz!

„Unmöglich war das! Der zog nie richtig bei uns ein. Bei uns war der doch nur mal am Wochenende. Meistens war er bei seiner Mutter in Kassel.“

Ich kann mich nicht an ein Zuhause mit Papa erinnern – und an ihn auch nicht. In seinem Nachlass fand ich Fotos. Darauf hat er eine andere Frau im Arm, datiert „1963“. Da war ich ein Jahr alt.