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Martin Buber als Student in Wien

Titel

Paul Mendes-Flohr

Martin Buber Ein Leben im Dialog

Aus dem Englischen von Eva-Maria Thimme

Verlagslogo

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Martin Buber. A Life of Faith and Dissent bei Yale University Press, New Haven and London.

eBook Jüdischer Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Martin Buber (1958). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Martin Buber Literary Estate

eISBN 978-3-633-77056-4

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Rita, unsere Kinder und Enkelkinder –
und für meine Studenten, einst und jetzt

Einleitung

»Ich bin leider ein komplizierter
und schwieriger Gegenstand«

Martin Buber

»Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken.«1 Dies bemerkte Hannah Arendt im Hinblick auf ihren persönlichen intellektuellen Werdegang.

Erfahrung und Denken in eine unmittelbare Wechselbeziehung zu setzen ist allerdings ein riskantes Unterfangen – Erfahrungen sind vielschichtig und nicht selten widersprüchlich, manche, die ihre Prägung auf das menschliche Denken hinterlassen haben könnten, sind »nicht wirklich bekannt« oder »gern vergessen worden«.2 Die Biographen müssen daher entscheiden, welche Erfahrungen für die intellektuelle und persönliche Entwicklung prägend waren, dabei die gebotene Vorsicht auch bei der Lektüre schriftlicher Zeugnisse – insbesondere der Hauptperson – walten lassen. Ein Text kann einen »stillschweigenden Autor« haben, der nicht mit dem tatsächlichen Verfasser identisch ist; auch kann die Art und Weise, wie ein Text geschrieben und aufgenommen wurde, das Bild eines Autors entwerfen, das von seiner oder ihrer »wahren«, umfassenden Persönlichkeit abweicht oder diese nur teilweise erfasst. Überdies kann es vorkommen, dass, wie Saul Bellow angesichts sämtlicher in ein Werk eingegangenen Überarbeitungen und stilistischer Korrekturen kurz und bündig feststellte, der Autor oder die Autorin in den Texten häufig ganz anders erscheint als im »wirklichen Leben«.3

Mit all diesen Herausforderungen sieht sich jeder Biograph Bubers unweigerlich konfrontiert. Schreiben fiel ihm nicht leicht; so gestand er einmal einem ungeduldigen Herausgeber einer Sammlung seiner auf Englisch publizierten Essays: »Ich möchte, dass Sie ein für alle Mal begreifen, dass ich kein Literat bin. Schreiben ist nicht mein Beruf, sondern meine Pflicht – eine fürchterlich schwere dazu. Wenn ich schreibe, dann unter schrecklichem Druck.«4 Meist schrieb er zahlreiche Entwürfe und revidierte ständig seine Schriften von einer Edition zur nächsten, wobei er ganze Passagen strich und andere umschrieb. Nicht immer wies Buber den Leser späterer Ausgaben auf seine Überarbeitungen hin – seinem Biographen können sie als Hinweise auf mögliche biographische Veränderungen und intellektuelle Korrekturen dienen.

In ihrer Sylvia Plath gewidmeten Monographie bemerkte Janet Malcolm, dass der Biograph naturgemäß von einer »epistemologischen Unsicherheit« verfolgt wird und, so möchte ich ergänzen, verfolgt werden sollte.5 Die Geschichte, die ein Biograph erzählt, kann naturgemäß nur interpretativ sein. Beim Zusammenstellen von Fakten und deren Bewertung hinsichtlich ihrer biographischen Bedeutung wählt der Biograph häufig jene aus, die das von ihm entworfene Narrativ bestätigen, um zusammenhängend zu erzählen.

Mir war daran gelegen, Anhaltspunkte und Stichworte von Buber selbst aufzugreifen. Die von mir erzählte Geschichte seines Lebens und Denkens fußt vor allem auf den Mitteilungen in seiner Korrespondenz – das Martin Buber Archiv in der Nationalbibliothek Israel bewahrt über fünfzigtausend Briefe, die zwischen Buber und Hunderten von Korrespondenten gewechselt wurden – sowie auf beiläufigen autobiographischen Anmerkungen, die sich da und dort in seinen Schriften finden. Häufig reagierte er auf bestimmte Ereignisse und Erfahrungen mit Gedichten, von denen bislang nur wenige veröffentlicht wurden.6 Gegen Ende seines Lebens schrieb er einen knappen Essay aus »autobiographischen Fragmenten«, in dem er eingangs bemerkte: »Es geht hier nicht darum, von meinem persönlichen Leben zu erzählen, sondern einzig darum, von etlichen, in meiner Rückschau auftauchenden Momenten Bericht zu erstatten, die auf Art und Richtung meines Denkens bestimmenden Einfluss ausgeübt haben.«7

Sollte man je seine Biographie verfassen, müsste sie sich, so betonte Buber nachdrücklich, auf sein Denken konzentrieren und dabei jene konstitutiven Elemente in Betracht ziehen: »Meine Philosophie … Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige die Wirklichkeit. Ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus, ich öffne das Fenster und zeige auf das, was draußen ist.«8

Dementsprechend nahm sich Buber vor jedweder Biographie in Acht, die die psychologischen Quellen seiner Ideen und Schriften zu sondieren unternahm, um damit diese – und zugleich ihn, den Autor – auf eine subjektive, idiosynkratische und folglich spekulative Deutung zu reduzieren. In einem Antwortbrief an einen amerikanischen Doktoranden, der an einer vergleichenden psychologischen Biographie von Buber und Kierkegaard arbeitete, erwiderte er:

 

Ich habe keinerlei Neigung, mich mit meiner Person als »Gegenstand« zu befassen, und ich fühle mich auch keineswegs dazu verpflichtet. Es interessiert mich nicht, ob die Welt an meiner Person interessiert ist. Ich möchte die Welt beeinflussen, aber ich möchte nicht, dass sie sich von »Mir« beeinflusst fühlt. Ich habe, wenn ich das so sagen darf, den Auftrag, den Menschen Wirklichkeiten zu zeigen, und ich suche das so getreu wie möglich zu tun. Darüber nachzudenken, warum ich beauftragt bin oder warum ich im Lauf meines Lebens zu zeigen fähiger geworden bin, was ich zu zeigen habe, hat für mich nicht nur keinen Reiz, sondern auch keinen Sinn. Es gibt Menschen, die den Wunsch haben, sich der Welt zu erklären; Kierkegaard hatte ihn; ich nicht – ich möchte mich nicht einmal mir selber erklären.9

Zu dieser Thematik waren Bubers Ansichten widersprüchlich. Um zu verstehen, weshalb er die Befolgung der traditionellen jüdischen Lebensweise ablehnte, »hätte ich […]mit einer Innengeschichte meiner Jugend antworten müssen, und etlichen Fragmenten aus deren Außengeschichte obendrein«, schrieb er einmal an Franz Rosenzweig.10 Gleichwohl würde, so betonte er stets, seine persönliche Auseinandersetzung mit dem traditionellen Judentum, in dem er aufgewachsen war, in der seiner jüdischen Altersgenossen ihren Widerhall finden, zumal, wenn diese ebenfalls aus Osteuropa stammten. Daher sollten so manche seiner Erfahrungen und Einstellungen nicht als Überempfindlichkeit oder individuelle Eigenart, sondern als durchaus repräsentativ für seine Zeitgenossen beurteilt werden, die dasselbe durchgemacht hatten – Äußerungen der persönlich erlebten komplizierten Problematik, wie man sich als jemand, der beim Übergang der Judenheit in die moderne Welt geboren wurde, weiter als Jude zu identifizieren vermöchte.

In diesem Sinne deckt sich meine Darstellung von Bubers Lebensgeschichte mit Edward Saids Vorstellung von Identität als »dem animierenden Prinzip der Biographie«. Dem Biographen geht es darum, ein Leben auf eine Art und Weise zu verstehen, »die das Wesen einer Identität nicht bloß mit sich selbst, sondern in Übereinstimmung mit der Geschichte eines Zeitraums, in dem sie bestand und aufblühte«, untermauert, bestärkt und erhellt.11

Zur Charakterisierung der Identität und der Probleme, die Buber zeit seines Lebens beschäftigten und den Verlauf seines intellektuellen Werdegangs bestimmten, habe ich mich an die von Arthur A. Cohen getroffene Unterscheidung zwischen dem »natürlichen und dem übernatürlichen Juden« gehalten.12 Der »übernatürliche Jude« ist der ewigen religiösen Berufung des jüdischen Volkes gemäß der von Gott offenbarten Torah sowie der rabbinischen Tradition verpflichtet; der »natürliche Jude« dagegen ist den Unwägbarkeiten von Geschichte und sozialen Gegebenheiten ausgesetzt. In der traditionellen jüdischen Gemeinschaft waren die tagtäglichen Anliegen des natürlichen Juden der übernatürlichen Bestimmung Israels untergeordnet. Doch mit der Emanzipation, der Öffnung der Ghetto-Tore und dem Zugang zu neuen sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten erwarb der natürliche Jude eine Vorrangstellung – und der damit einhergehende Kampf gegen den Antisemitismus sowie für die vollständige politische Gleichberechtigung führten nicht selten dazu, dass der übernatürliche Jude in den Hintergrund trat.

Im Lauf seines Lebens, auch im Zuge der Entwicklung seiner Philosophie war und blieb es Bubers dominierendes Anliegen, den natürlichen und den übernatürlichen Juden wieder miteinander zu vereinen. Immer aufmerksam gegenüber dem jüdischen Ringen um politische und soziale Anerkennung, bestand er darauf, dass die politischen Aktivitäten des natürlichen Juden, wie sie insbesondere im Zionismus ihren Ausdruck fanden, von den ethischen und spirituellen Grundprinzipien des übernatürlichen Juden geleitet werden sollten. Diese Grundsätze entwickelte er unter der Rubrik Biblischer – oder auch Hebräischer – Humanismus weiter, wobei er ihr Verhältnis in einem dialektischen Ausgleich zwischen dem Besonderen und dem Universellen veranschaulichte.

Die fraglose Treue eines Juden zu seinem Volk musste, so Buber, keinesfalls seine kosmopolitischen und transnationalen Überzeugungen untergraben – und umgekehrt. In seinem Essay »Der Chassidismus und der abendländische Mensch« ging er ausführlich auf seine Überzeugung ein: »Es ist mir mehrfach nahegelegt worden, diese Lehre von ihrer, wie man gern sagt, ›konfessionellen Beschränktheit‹ zu befreien und als eine ungebundene Menschheitslehre zu verkündigen. Das Einschlagen eines solchen ›allgemeinen‹ Wegs wäre für mich die pure Willkür gewesen. Um das Vernommene in die Welt zu sprechen, bin ich nicht gehalten, auf die Straße zu treten, ich darf in der Tür meines angestammten Hauses stehen bleiben; auch das hier gesprochene Wort geht nicht verloren«.13

Die anspruchsvolle Aufgabe, partikulare und universelle Verpflichtung auszurichten und auszugleichen, kennzeichnete die Bahn von Bubers intellektueller Biographie. Unablässig modifizierte er sie, um zugleich jedwede ideologisch sanktionierte Positionierung zu vermeiden. Eben dies beeindruckte Hannah Arendt als eine seltene Tugend; anlässlich ihres Besuchs bei dem hochbetagten Buber zeigte sie sich tief beeindruckt von dessen Offenheit gegenüber unterschiedlichen Anschauungen: »… [Buber hat] eine wirkliche Neugier und Lernfähigkeit für die Welt, … und er ist mit seinen beinahe 80 Jahren lebendiger und empfänglicher als alle diese dogmatischen Rechthaber und Besserwisser. Er hat eine gewisse Souveränität, die mir gefällt.«14 Und Buber selbst bemerkte einmal: »Altsein ist ein herrliches Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt …«15

Bubers Auffassung nach war es die Musik Johann Sebastian Bachs, die ihn gegenüber allzu simplen, vereinfachenden Ansichten gefeit sein ließ. Als 22-jähriger Student der Universität Leipzig besuchte er häufig Aufführungen Bachscher Kantaten in der berühmten Thomaskirche, zu welchen Konzerten er später einmal bemerkte: »… ich würde vergeblich zu sagen unternehmen, ja ich kann es nicht einmal mir selbst klarmachen, auf welche Weise Bach mein Leben beeinflusst hat; offenbar wurde der Grundton meines Lebens irgendwie modifiziert und erst von da aus auch der Gedanke.«16 Beim Hören der polyphonen, kontrapunktischen Musik Bachs »[wuchs] langsam, zaghaft, beharrlich […] die Einsicht in die Wirklichkeit menschlichen Daseins und in die spröde Möglichkeit, ihr gerecht zu werden. Bach half mir«.17 Sein Erlebnis der Bachschen Musik warf ein neues Licht auf das von ihm später als jugendliche Heldenverehrung bezeichnete Schwärmen für Ferdinand Lassalle, dessen Reden und Schriften ihn begeisterten: »Ich bewunderte an ihm die geistige Leidenschaft und die Bereitschaft, wie in dem öffentlichen so im persönlichen Leben die Existenz einzusetzen. Was an seiner Natur offenkundig problematisch war, fiel unter den Tisch; es ging mich eben nicht an.«18

In diesem autobiographischen Bekenntnis vernehme ich eine Warnung vor einer weihevollen oder seichten Darstellung von Bubers Leben und Denken seinerseits. Auch Buber hatte, wie wir alle, seine Schwächen. Von den in früher Kindheit zugefügten Traumata gezeichnet, konnte er narzisstisch und egozentrisch sein, was ihm häufig den Vorwurf einbrachte, dass sein Verhalten kaum mit seinen eigenen Grundsätzen übereinstimmte. So manche Anekdote kursierte im Jischuv, der jüdischen Gemeinschaft im britischen Mandatsgebiet Palästina, später im Staat Israel, über Bubers Unvermögen, wahrhaft dialogfähig, zu einer »Ich-und-Du«-Beziehung bereite Persönlichkeit zu sein. Anekdoten sind naturgemäß zweifelhaft – bekanntlich sagt »Peters Meinung über Paul mehr über Peter aus als über Paul«.19 Wie dem auch sei – Buber war eindeutig kein vollkommener Mensch, wohl aber vollkommen menschlich.

Buber war eine umstrittene Persönlichkeit. Er provozierte leidenschaftliche, häufig kontroverse Stellungnahmen zu seiner Person und seiner Philosophie. Gershom Schocken, der ehemalige Herausgeber der israelischen Tageszeitung Ha-Arets, erinnerte sich an einen Spaziergang mit dem hebräischen Romancier und lebenslangen Freund Bubers, Shmuel Yosef Agnon, bei dem sie die gerade in Israel ausgetragenen Kontroversen über Buber erörterten. »Unvermittelt blieb Agnon stehen, sah mich an und sagte: ›Ich will dir mal was sagen. Es gibt Leute, bei denen du dich irgendwann entscheiden musst, ob du sie liebst oder hasst. Ich entschied mich, Buber zu lieben‹.«20