Das Heldenprojekt
Roman
Für Alexander
»Könnt ihr mir den Weg zum Kunstraum sagen?«
So stand sie damals vor uns. Wäre es auf dem Raucherhof für die Oberstufe um diese Zeit nicht so laut gewesen, man hätte sicher das Geräusch gehört, mit dem Sebis Kinnlade auf dem Boden aufschlug – jedenfalls starrte er sie so an. Den Blick kannte ich gut, denn Sebi war mein Freund, und es war mein Job, jetzt nichts zu sagen. Ich nahm, vielleicht um wie unbeteiligt zu wirken, meine Brille ab, kaute auf einem Bügel herum und betrachtete die Neue. Von ihren grünen Augen schien ein Leuchten auszugehen. Vielleicht kam mir das deshalb so vor, weil ihr fransiges kirschrotes Haar einen so deutlichen Kontrast dazu bildete. Ich schätze, Sebi sah das Leuchten auch, und von heute aus betrachtet bin ich mir ziemlich sicher, dass er sich in dem Moment rettungslos in sie verknallte, als sie weitersprach.
»Ihr seid Sebastian Forster und Magnus Mahlmann, stimmt’s?«, fragte sie in unser Schweigen hinein. Ich nickte für uns beide. Eine Strähne fiel vor ihr linkes Auge, die sie sich aus dem Gesicht strich. Sebi verfolgte diese Bewegung wie paralysiert.
»Ich zeig dir den Weg«, hörte ich ihn sagen. »Ich muss in dieselbe Richtung.«
Musste er natürlich nicht, sondern mit mir zum Geschichtskurs.
Wir wussten von ihr nur so viel, dass sie die Neue war und mitten im zweiten Halbjahr der Elf von einem Gymnasium in der Südstadt auf unsere Schule gewechselt war – wegen des besseren Kursangebots – und jetzt in unsere Stufe ging. Nie war etwas neuer als das, was sie mit uns machte (und mit mir), aber davon hatten wir ja damals, Anfang März, noch keine Ahnung. Sebi marschierte mit ihr los und verschwand im Schulgebäude, während ich darüber nachdachte, welche Ausrede ich für ihn parat haben könnte, wenn er wieder nicht pünktlich im Kurs erschien.
Ich habe mich oft gefragt, an welchem Punkt die ganze Sache eigentlich angefangen haben könnte. Es sind ja oft die ganz kleinen, unbedeutenden Ereignisse, die sich erst in der Rückschau als der Moment erweisen, der letztlich alles verändert. Es gab sehr viele solche Momente, vorher und auch nachher noch, in denen die Sache eine Wendung in eine ganz andere Richtung hätte nehmen können. Aber ich glaube, die Sekunde, als Marie vor uns stand, war der magische Moment, in dem alles begann.
Weder mir noch sonst jemandem war das natürlich klar. Erst recht nicht unserer Geschichtslehrerin, Hildegard Schierhoff, die über die Ränder ihrer Halbbrille hinweg jenen Todesblick auf die Türe richtete, mit dem sie den notorisch zu spät erscheinenden Sebi zu empfangen pflegte.
»Schön, dass Sie doch noch mal bei uns vorbeischauen«, hieß sie ihn süffisant willkommen. Und noch bevor er sich setzen konnte, traf ihn ihr Urteilsspruch: »Wo Sie gerade da sind, Sebastian, können Sie uns doch bei der Gelegenheit mal erzählen, was Sie über die Verfassung der Weimarer Republik wissen.«
»Die Weimarer Republik«, wiederholte Sebi gequält langsam und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Kann ich die Frage noch mal hören?«
Eine gut fünfminütige Tortur begann, in deren Verlauf Sebi irgendetwas von Reichspräsident und Notverordnung stammelte, ohne wirklich zu wissen, worüber er sprach. Dass er dabei noch planloser wirkte als sonst, konnte nur einen Grund haben. »Was für eine Frau«, seufzte er flüsternd, nachdem die Schierhoff von ihm abgelassen hatte. Die Lehrerin meinte er eindeutig nicht.
Arno Altmeister legte nun in weit ausholenden Phrasen die Schwachpunkte der Weimarer Reichsverfassung offen, Arno Altmeister, der Streber, den wir Arno Altklug, Arno Angeber oder schlicht Arno Arschloch nannten. Nicht weil er ein Streber war, denn so was musste ja jeder mit sich selbst ausmachen, sondern weil er den Streber gab, die Rolle spielte, seine Überlegenheit in schulischen Dingen ständig und überall heraushängen ließ, sich dauernd selbst als Arschloch inszenierte und eine Menge Spaß daran zu haben schien. Arno Arschloch hatte keine Freunde und ließ jeden wissen, dass er auch keine nötig habe. Man konnte über ihn weder lästern noch sich wirklich mit ihm anlegen, er übertraf durch seine Selbstdarstellung alles, was man ihm hätte vorwerfen können, und nahm deshalb jeder Attacke die Spitze.
Arno sprach nicht wie im Schulunterricht, sondern wie vom Rednerpult des Reichstages, während Sebi mich mit verklärtem Blick aus einer fremden Welt ansah.
»Sie heißt Marie«, ließ er mich wissen. »Ich habe heute Abend ein Date mit ihr.«
»Du Idiot!«, schimpfte ich leise zurück. »Heute Abend trifft sich Das Projekt.«
»Ups.« Sebi sah für eine Sekunde richtig betroffen aus. »Hab ich vergessen.«
Das Projekt. Irgendwann hatte mir der gute alte T-Bone mal gestanden, dass er es tat. Ich hatte es auch schon getan, aber nie mit jemandem darüber gesprochen. Dann stellte sich heraus, dass Sebi es ebenfalls tat, sogar ziemlich oft, genau wie Ebru, die es manchmal gemeinsam mit Pia machte, meistens jedoch allein. Außerdem gab es da noch den dicken Tom Hellberg, ein paar Jahre älter als wir, der es in aller Öffentlichkeit tat, wenn auch nicht besonders gut. Es ist eine sehr intime Sache, aber voreinander war es uns nicht peinlich: nämlich Gedichte zu schreiben.
Zusammen waren wir Das Projekt. Ein anderer Name war uns nicht eingefallen. Wir trafen uns unregelmäßig mal beim dicken Tom, mal bei Pia und lasen uns unsere Gedichte vor.
Pia war eine Freundin von Ebru aus meiner Stufe. Sie bewohnte das ausgebaute Dachgeschoss im Haus ihrer Eltern. Separater Eingang, eigene Küche, eigenes Bad. Zwischen ihr und den Eltern im Erdgeschoss wohnte noch ihre Oma, die entweder sehr schwerhörig oder sehr tolerant war oder beides. Pia war so frei, wie eine Sechzehnjährige nur sein konnte ohne von daheim auszuziehen. Und wenn wir bei ihr waren, fühlten auch wir uns frei.
In ihrem Wohnzimmer gab es Sofas und Sessel von unterschiedlichsten Sperrmüllsammelplätzen der Stadt, darauf breiteten sich Decken und Kissen aus. Überall brannten Kerzen und Teelichte.
Hier chillten wir rum. Im Hintergrund lief Manu Chao oder ähnliches Zeug. Pia und Ebru lagen wie immer über-, unter- und umeinander herum auf einem der Sofas. Die etwas pummelige Pia trug ihre halblangen Haare heute mal grün, darüber fielen Strähnen von Ebrus nachtschwarzem Samthaar.
Ich lag bäuchlings auf dem Boden und blätterte in den Aphorismen von T-Bone, dem dürren Eins-neunzig-Ungetüm. Warum wir ihn T-Bone nannten, wusste von uns niemand mehr. Momentan hatte er seine überlangen Gliedmaßen auf ein Sofa und zwei Sessel verteilt und blies dicke Rauchwolken gegen die Decke.
In einem breiten Schaukelstuhl thronte Thomas D. Hellberg, der sich mit seinen zweiundzwanzig Jahren und hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht als Grafikdesigner erst einen Namen und dann eine Firma gemacht hatte, nachdem er an den Matheklausuren im BWL-Studium gescheitert war. Er dozierte was von Lyrik im dritten Jahrtausend, aber ich glaube nicht, dass ihm jemand zuhörte. Ich jedenfalls war in die verrückte Welt aus T-Bones Wortfetzen und Satzruinen vertieft. Pia und Ebru beschäftigten sich miteinander.
»Kommt er also oder nicht?«, fragte Tom anscheinend nicht zum ersten Mal. Er sprach mit mir. Sein Vortrag war also schon vorbei. Ich hob den Kopf.
»Was?«
»Wann Sebi kommt. Kommt er überhaupt?«
»Schon möglich, aber nicht bei uns«, kalauerte ich blöde. »Er hat eine kennen gelernt. Marie.«
T-Bone nickte bedächtig. Auch er ging in unsere Stufe und hatte bereits von Marie Notiz genommen.
»Da würde ich auch Prioritäten setzen«, ließ er uns wissen.
»Verstehe«, nickte Tom.
Es klingelte.
Ich sah zu Pia, die keine Anstalten machte, zur Tür zu gehen. Also rappelte ich mich auf und öffnete. Unten hörte ich die Stimmen von zwei Leuten. Schritte kamen die Treppe herauf. Sebis Gesicht tauchte auf und ein roter Fransenkopf.
»Hallo, Marie. Hi, Sebi. Dachte, du kommst heut nicht.«
»Hab ich jemals gefehlt?«, fragte er mich vorwurfsvoll. »Meinst du, es ist okay, dass ich Marie mitgebracht habe?«
Marie schob sich an ihm vorbei und sagte: »Sebastian hat mir von eurem Projekt erzählt. Und dass ihr heute Abend verabredet wart. Das hat mich ziemlich neugierig gemacht.«
»Na klar«, meinte ich. »Kommt rein.«
Marie ging zuerst durch die Tür. Sebis Blick glitt über ihren Rücken hinab zu ihrem Hintern und wieder hinauf.
Wir gingen rein und Sebi stellte ihr die Leute vor: »Das ist Pia, unsere politische Dichterin und die Gastgeberin hier. Ansonsten auch schul- und stadtbekannt als Bassistin der Girl-Punk-Combo The Dead Stockings. Volleyball-Queen Ebru kennst du aus der Schule, sie ist die Heldin des Sonetts. Tom dort ist Unternehmer. Er versucht sich an komischer Lyrik. T-Bone hier ist ein alter Freund aus Kindertagen, ihr habt, glaub ich, Mathe zusammen. Er zertrümmert die Sprache in alle Einzelteile und nennt das Kunst. Magnus kennst du ja von heute Morgen. Ja, Leute, das ist Marie. Sie würde gerne mal erleben, was wir hier so treiben.«
»Willkommen«, sagte Pia. »Viel zu erleben gibt’s allerdings nicht. Rauchst du?«
Marie nickte.
»Auch mit was drin?«
Marie nickte wieder und ließ sich auf dem Teppich nieder.
Pia begann einen Joint zu bauen.
Marie wandte sich an mich: »Und was für Gedichte schreibst du?«
Gar keine, wollte ich antworten, als Sebi schon erklärte: »Liebesgedichte.«
»Sieh an.« Den Klang in ihrer Stimme wusste ich nicht zu deuten. Vielleicht war es Anerkennung, hätte aber auch eine Prise Spott sein können.
Ebru holte neue Getränke und sagte: »Ich finde, wer zu spät kommt, fängt an.«
Sebi zierte sich ein bisschen, wie er es immer tat. Dann meinte er: »Trifft sich eigentlich gut, ich hab gestern was Neues geschrieben.«
Wir setzten uns in eine ideale Zuhörerposition (was individuell sehr verschieden war) und Sebi fummelte ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche.
»Es heißt LifeStyle«, hob er etwas verlegen an. »Man muss es ganz schnell lesen, sonst wirkt’s nicht. Also, geht jetzt los.«
Und er begann:
Schnelle Schnitte, bunte Bilder, Sound Surround in Stereo
Mailbox meldet, Faxe flitzen, Handy klingelt auf dem Klo
Internette Menschen jagen Sinn im Nirgendwo
Rauf und runter, rechts und links, jeder Tag macht alles neu
Und die Talkshow gleich nach Mittag trennt vom Weizen klar die Spreu
Nur der Wandel bleibt sich treu
Alle lachen, alle klatschen und sind immer voll gut drauf
Licht und Laster, Dolly Buster, Lust und Liebe gibt’s zuhauf
Augen auf beim Lebenskauf
Auf S-Bahn, Nordsee, voll vernetzt
Surfen wir durchs Hier und Jetzt
Gedankenfrei mit vollen Taschen
Jägermeister in den Flaschen
Raus fliegt, wer sich früher setzt
Ja, gereimt klingt alles besser, schöne Worte machen froh
Kreuzreim,Paarreim, passt fast immer, toll und voll ja sowieso
Techno aus dem Cabrio
Alles reimt sich und so schleimt sich
Wort an Wort zu Wirklichkeit
Mal allein und mal zu zweit
Unser Leben uns gegeben, damit wir auf Partys gehn
Nicht um blöde, super öde in der Ecke rumzustehn
Und beim Knutschen zuzusehen
Stöhnst du rum und hast du Last
Hast das Leben du verpasst
Drum sei intralektuell
Denke einfach, kurz und schnell
Wenn du die Message nicht erfasst
Dann geh doch nach Hause, du Pupsnase, du Funbreaker, du!
Und stör hier nicht rum.
Sebi hatte so schnell gelesen, dass er erst mal tief durchatmen musste. Marie hob spontan die Hände zum Applaus, checkte aber noch rechtzeitig, dass bei uns nicht geklatscht wurde. (Regel Nummer eins.) Stattdessen machte die qualmende Tüte die Runde und wir warfen Sebi zustimmende Blicke zu, die ihm sagten, dass er den Nerv der Zeit getroffen hatte.
»Weißt du, was mir dazu einfällt?«, sinnierte Ebru. »In unserer Welt passiert einfach nichts mehr.«
»Versteh ich nicht«, meldete sich Tom. »Das Gedicht beschreibt doch was völlig anderes.«
»Ich schon«, sagte Pia. »Es ist immer jede Menge los. Aber es passiert halt nichts. Nichts, was wirklich von Bedeutung wäre.«
»Hm«, brummte T-Bone.
Damit war das Thema durch. Diskutiert wurde bei uns nicht viel. (Regel Nummer zwei.) Pia reichte Sebi mit bedeutsamer Geste einen alten, leeren Sektkühler. Zu Maries Erstaunen hielt Sebi das Blatt mit seinem Gedicht an eine Kerze, sah eine Weile zu, wie sich die Flamme in das Papier fraß, bis es sich glühend zusammenkräuselte, und ließ es dann in den Behälter fallen. (Regel Nummer drei.)
»Was macht er da?« Marie verstand nicht.
»Unsere Kunst existiert nur für den Augenblick«, erklärte ich ihr. »Dadurch wird sie unsterblich.« Dass wir alle trotzdem immer Kopien unserer Gedichte aufbewahrten, verschwieg ich. Mir gefiel der Gedanke, dass Marie uns alle für total bescheuert halten musste. Wir waren gerne etwas bescheuert. (Regel Nummer vier.)
Danach war Ebru dran, mit einem flammenden Plädoyer gegen alles, was unfrei macht. Pia brachte einen Zwölfzeiler, den niemand von uns richtig verstand, der aber noch geradezu mathematisch klar war gegen das, was T-Bone uns servierte. Erst an seinem Blick merkten wir, dass er fertig war. Zum Schluss gab Tom eine »witzige« Ballade zu Gehör. Wir bemühten uns redlich, passten die komisch gemeinten Stellen ab und streuten gut dosierte Lacher ein. Einer nach dem anderen trug einen Text vor und verbrannte ihn dann in dem leeren Sektkühler. Schließlich sahen alle zu mir.
»Hab keins«, gestand ich. »Bin nicht dazu gekommen.«
Wie um abzulenken nahm ich meine Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel meines Hemds.
Marie zog an der Tüte, schloss die Augen, atmete tief ein und aus und ließ ganz langsam den Rauch zwischen ihren Lippen hindurchströmen.
Dann schaute sie in die Runde und stellte fest: »Ihr seid also so eine Art Club der toten Dichter, ja?«
»Unsinn«, entgegnete Pia. »Wir sind höchst lebendig.«
»Ich mein ja nur.« Marie hob beschwichtigend eine Hand. »Weil du eben gesagt hast, es wär immer was los, aber es würde nie was passieren.«
»Das stimmt ja auch«, sagte Ebru. »Wir leben halt in einer Zeit, in der jeder sein eigenes Ding dreht.«
»Und jede ihres«, ergänzte Pia. Sie war die selbst ernannte Gleichstellungsbeauftragte. »Aber was hat das mit uns zu tun?«
Marie zog noch einmal an dem Joint, bevor sie ihn an mich weiterreichte. »Und ihr habt noch nie was veröffentlicht?«, fragte sie.
Ich gab die Tüte direkt weiter an T-Bone, weil ich nie kiffte. Dann fragte ich zurück: »Sollen wir unser Zeug etwa in die Schülerzeitung setzen wie Siebtklässler beim Schreibwettbewerb? Und gutmütiges Schulterklopfen von unseren Deutschlehrern ernten?«
»Die würden doch gar nicht verstehen, was wir schreiben«, stimmte T-Bone mir zu.
»So mein ich das nicht«, wehrte sich Marie.
»Wie denn?«
»Hm. Keine Ahnung.«
Tom räusperte sich: »Also ich hab vor zwei Jahren mal einen Gedichtband im Selbstverlag veröffentlicht.«
»Zweihundert Exemplare«, sagte Sebi. »Davon hast du rund fünfzig verschenkt und sieben verkauft.«
»Neun«, verbesserte Tom. »Aber was soll’s? Immerhin hab ich es mal versucht.«
T-Bone grinste. »Schlips und Kragen, nix im Magen«, meinte er.
Ich wandte mich an Marie: »Was ist jetzt mit dir? Willst du ins Projekt einsteigen?«
Marie zog die Stirn kraus: »Ob ich bekloppt genug bin mir Gedichte auszudenken, sie aufzuschreiben, vorzulesen und zu verbrennen?«
Wir nickten.
»Okay«, meinte Marie und lachte.
»Ich hol noch was zu trinken«, sagte Pia. Das war’s schon. Wir hatten nämlich keine Regel für die Aufnahme neuer Mitglieder. Genau genommen hatten wir noch nie ein neues Mitglied aufgenommen.
Es wurde noch ein guter Abend, vor allem, weil es Freitag war, und die Uhr zeigte schon weit nach elf, als T-Bone seine langen Glieder reckte und verkündete: »Fressflash!« Obwohl ich noch nie gekifft hatte, war mir der Begriff durchaus vertraut – ein drogenbedingter, unbezähmbar archaischer Hungeranfall, dem nichts und niemand Einhalt gebieten konnte. Außer Pia: »Der Kühlschrank ist leer. Ich hab nur noch ’ne Tafel Schoki und ’n paar Erdnüsse.«
T-Bone, Sebi und Tom sprangen gleichzeitig auf, aber Ebru war doch irgendwie schneller. Binnen Sekunden war der Teppich voller Schoko- und Salzkrümel, mehrere Mägen knurrten hörbar.
»Hat in der Stadt noch was auf?«, fragte Tom in die Runde.
Sebi plädierte nachdrücklich für den Besuch einer einschlägigen Fastfoodkette und erfuhr bei der Gelegenheit, dass Marie erstens Vegetarierin war und zweitens ein Herz für den Regenwald besaß, dessen Fortbestehen am anderen Ende einer seltsamen Kausalkette mit dem Genuss eines saftigen Big Mäc irgendwie nicht kompatibel war, wenn ich sie richtig verstand.
Schließlich wurde ein Ausflug zur Pizzeria Pino draus, dem sich neben Sebi, Marie und mir noch Tom und T-Bone anschlossen. Tom war aus gegebenem Anlass nicht mit dem Auto da. So machten wir uns zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Ebru blieb bei Pia. Natürlich.
Die Fußgängerzone war um diese Zeit völlig ausgestorben. In einigen Kneipen brannte Licht, und wenn jemand herauskam, schwappten etwas Musik und Stimmengewirr auf die Straße, sonst war alles totenstill. Um die Laternenpfähle in der ganzen Fußgängerzone waren Dreieckständer mit kleinen Plakatwänden aufgestellt.
»Im Mai ist Kommunalwahl«, bemerkte Marie. »Und wir dürfen zum ersten Mal wählen.«
»Super«, stöhnte Sebi. »Davon hab ich gar keine Ahnung. Am besten, ich kreuze einfach alles an. Dann mach ich nichts verkehrt.«
Tom lachte und meinte: »Stimmt. So groß sind die Unterschiede eh nicht.« Er wies mit einer schwenkenden Handbewegung ins weite Rund des Marktplatzes, den wir inzwischen erreicht hatten.
Von den Plakatwänden lächelten uns nichts sagende Politikergesichter an. Dazu platte Slogans wie: Sicher in die Zukunft, Wir in unserer Stadt oder Heute für morgen entscheiden.
Marie zeigte auf eins der Plakate und sagte ernst: »Ein paar Unterschiede gibt es schon.«
Wir gingen näher heran und erwiderten unschlüssig den jovialen Blick eines smarten Mittdreißigers: Dr. Ferdinand Veith, dessen Bild uns versichern sollte, dass die Stadt mehr Geld in die Schulen und die Wirtschaftsförderung stecken sollte und weniger in von oben aufgezwungene Fremdprojekte.
»Bund für Bürgeroffensive«, las T-Bone vor. »BBO. Nie gehört.«
Ich vermutete: »Irgend so ’ne Initiative oder Bürgerbewegung oder so.«
»Lest ihr keine Zeitung, Jungs?«, empörte sich Marie zu unserem Erstaunen. »Ratet mal, was aufgezwungene Fremdprojekte sind!«
Ich zuckte mit den Achseln, Sebi tippte: »Meine Matheklausur?«
Marie stieß ein bitteres Lachen aus. »Kennt ihr dieses Flüchtlingsheim in der Kanalstraße?«
»Klar, bei den alten Gleisen«, nickte Tom. »Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass überhaupt irgendjemand da irgendwelches Geld reinsteckt, so erbärmlich, wie das da aussieht.«
»Eben!« Marie stemmte die Hände in die Hüften. »Merkt ihr nix? Das sind totale Faschisten.«
»Faschos sehen auch nicht mehr aus wie im Fernsehen«, grübelte ich und klopfte Sebi auf die Schulter. »Siehst du, da weißt du ja schon mal, was du nicht ankreuzen brauchst.«
»Nee, den bestimmt nicht. Der hat ja denselben bescheuerten Seitenscheitel wie Arno Arschloch«, urteilte Sebi. »So jemanden kann ich schon deshalb nicht wählen, weil Arno mich nie seine Hausaufgaben abschreiben lässt.«
»Auch ein schöner Grund«, fand T-Bone. »Wie auch immer, die kriegen meine Stadt nicht, die Nazis. Und jetzt schnell zur Pizzeria, solang’s hier noch’n paar Italiener gibt.«
»Moment!« Marie zauberte aus ihrer Jackentasche einen dicken schwarzen Filzstift hervor und begann das Plakat voll zu kritzeln. Im Nu bekam Dr. Veith ein schmales Bärtchen unter der Nase.
»Würde Arno Arschloch auch gut stehen«, bemerkte Sebi. »Macht jedenfalls mächtig was her.«
»Sehr wirkungsvoll«, lobte ich und drängte: »Jetzt aber los. Wenn ich wieder nach eins heimkomme, krieg ich richtig Ärger.«
Marie verharrte noch einige Sekunden zufrieden vor ihrem Werk, dann folgte sie uns.
Bei Pino zogen wir uns eine Pizza rein, dann trennten wir uns. Tom und T-Bone erwischten noch einen der letzten Busse, Sebi und ich brachten Marie heim. Sebi hatte Marie erzählt, dass er und ich fast Nachbarn waren. Und weder ihm noch mir fiel auf der Stelle ein plausibler Grund ein, warum Sebi sie allein nach Hause bringen sollte. Das war’s dann mit Sebis Date.
Marie wohnte in derselben Gegend wie wir, in einer dieser Reihenhaussiedlungen, in denen sich die Häuser gleichen wie ein Ei dem andern. Nachdem sie im Haus verschwunden war und Sebi eine gebührende Weile auf die verschlossene Türe gestarrt hatte, fasste ich ihn an der Schulter und wir wandten uns zum Gehen.
»Und?«, fragte ich ihn.
»Weiß nicht«, sagte er.
Unvermittelt blieb er stehen und sog tief die klare Nachtluft ein.
»Merkst du was?«, fragte er mich.
»Nein, wieso? Hast du einen fahren lassen?«
»Idiot! Ich meine die Temperatur. Es ist schon richtig warm für die Jahreszeit.«
»Willst du jetzt über Klimaveränderungen reden?«
Ich hatte keine Ahnung, was er mir mitteilen wollte.
»Die Luft«, begann er ganz langsam. »Das gibt’s nur einmal ganz kurz im Jahr, wenn der Winter schon weg ist, aber der Frühling noch nicht da, verstehst du? Die Jahreszeiten stehen genau auf der Kippe.«
Ich fragte mich, ob Pia was Ungesundes in den Joint getan hatte.
»In ein paar Tagen kommt der Frühling«, fuhr Sebi fort. »Danach kommt der Sommer. Und dann kommen wir in die Zwölf. Alles, was wir dann machen, zählt fürs Abitur. Und alles, was wir danach machen, zählt für unser ganzes weiteres Leben. Und irgendwann sind wir verheiratet, haben einen Bausparvertrag, eine Schrankwand, einen dicken Bauch und keine Haare mehr. Dieses Jahr ist der letzte Sommer, in dem wir noch richtig frei sind.«
»Und wenn wir studieren, nach dem Abi?«, fragte ich, obwohl das wahrscheinlich nichts mit dem zu tun hatte, was ihn bewegte. »Sind wir dann nicht auch frei?«
»Und wenn wir tot sind, nach dem Abi?«, äffte er meinen Tonfall nach. »Vielleicht werden wir morgen schon vom Auto überfahren.«
»Das würde mich ärgern«, meinte ich. »Wir haben Karten fürs Pokalspiel.«
»Also«, setzte Sebi nochmals an. »Ich meine ja nur, diesen Sommer müssen wir noch mal was ganz Außerordentliches machen. Ich hätte echt Lust, mal was zu bewegen.«
»Dann werde doch Möbelpacker«, riet ich ihm. »Da kannst du den ganzen Tag was bewegen.«
»Mann«, schimpfte Sebi. »Du hast gehört, was Ebru und Pia gesagt haben. Es ist immer was los, aber nichts passiert wirklich. Nichts Außerordentliches.«
Ich nickte. Sebi war immer für was Außerordentliches gut. Schon als wir noch Kinder waren. Damals wollte er unbedingt, dass wir zusammen ein Baumhaus bauen. Sebi lag dann die ganzen Sommerferien über mit gebrochenem Bein im Krankenhaus. Oder als wir zusammen unseren fünfzehnten Geburtstag mit mindestens hundertfünfzig Leuten feiern wollten. Wir kannten kaum die Hälfte der so genannten Gäste, die andere Hälfte nahm das Jugendheim auseinander, bis einer ins Mischpult kotzte und die Polizei die Fete schließlich beendete. Na ja, aber man sprach noch immer davon. Insofern hatten wir wirklich was Außerordentliches gemacht.
Jedenfalls: Wenn Sebi das Wort »außerordentlich« in den Mund nahm, war Vorsicht geboten. Wir schwiegen den Rest des Weges und trennten uns am Gartenzaun meines elterlichen Hauses mit dem vertrauten stummen Handschlag.
Natürlich war es wieder kurz vor zwei gewesen, als ich viel zu laut die knarrende Treppe zu meinem Zimmer hinaufgeschlichen war. Natürlich hatten es meine Eltern gehört. Und natürlich stand Mama am nächsten Morgen zur barbarisch frühen Stunde von zehn Uhr neben meinem Bett. Ich blinzelte in ihre strengen Augen.
»Haben wir nicht eine Vereinbarung?«
»Haben wir.«
»Wozu überhaupt? Wenn du dich doch nicht daran hältst?«
»Sorry«, murmelte ich. »Wir haben uns gestern Abend etwas verquatscht.«
»Wohl eher verqualmt«, erwiderte Mama unwirsch. »Deine Klamotten riecht man im ganzen Haus. Dieser Gestank von Zigaretten und weiß der Himmel, von was noch!«
»Ich rauch ja nicht«, versicherte ich.
»Dein Atem ist auch noch das Frischeste an dir«, witzelte Mama und musste dann selbst lachen. »Also«, kommandierte sie. »Bevor du zum Frühstück kommst, sortierst du deine Klamotten für die Wäsche, okay?«
Ich nickte und pellte mich aus dem Bett, während Mama nebenan meinen kleinen Bruder Max aufscheuchte. Ich fischte meine Jeans unter dem Schreibtisch hervor und durchsuchte die Taschen nach Sachen, die nicht in eine Waschmaschine gehörten. Dabei stieß ich auf ein gefaltetes, inzwischen zerknülltes Blatt Papier. Mein Gedicht. Mit dem Titel Ewigkeit des Augenblicks. Zehn Zeilen pubertäres Gestammel eines Sechzehnjährigen, der kaum eine Ahnung von dem hatte, was er da nicht in Worte zu fassen vermochte. Ich hätte es bestimmt vorgelesen, aber ihretwegen hatte ich mich nicht getraut. Marie. Ich hatte irgendwas von ihr geträumt, keine Ahnung mehr, was. Im Traum war mir außerdem noch Dr. Ferdinand Veith erschienen, mit Hitlers Bärtchen. Manchmal wünschte ich, ich würde direkt nach dem Aufwachen meine Träume aufschreiben, denn Minuten später schon konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Das war immer so.
Was Marie betraf: Sie hatte in meinen Träumen nichts verloren. Sie trat in einem Stück auf, in dem Sebi die männliche Hauptrolle spielte. Ehrensache! Und was Dr. Ferdinand Veith betraf: T-Bone hatte ganz Recht. Die Nazis würden unsere Stadt nicht kriegen. Nicht mit uns! Und schon hatte ich eine coole Gedichtidee.
Ich brachte meine Anziehsachen in den Keller, sprang schnell unter die Dusche und erwischte noch den Rest des Frühstücks, wo Papa und Max gerade um den Sportteil der Samstagszeitung rangen. Als Papa mich sah, ließ er vom Objekt der Begierde ab und wandte sich mir zu, im Wesentlichen Mamas Litanei über »Vereinbarungen« wiederholend. Dabei dachte ich immer, eine »Vereinbarung« sei eine Sache auf Gegenseitigkeit und nicht eine einseitige Verfügung, der sich die andere Seite zu unterwerfen hatte. Na ja. Ich war gestählt im Anhören solcher Referate und nickte dann und wann pflichtschuldig. Max verkroch sich hinter der Zeitung. Mit seinen elf Jahren hatte er noch einiges vor sich. Mama erlöste mich. Sie hatte Papa von dieser wahnsinnig spannenden Möbelausstellung zu berichten, die natürlich nur noch heute geöffnet war. Papa tauschte die Rolle und nahm demütig hin, dass Mama einen Tagesausflug mit ihm »vereinbarte«.
Zwischendurch genehmigte ich mir ein Croissant ohne Butter und ein großes Glas Orangensaft. Als sich der Saft in meinem Magen mit den Resten der Pizza Tonno von letzter Nacht traf, stieg ein gurgelndes Brennen in meiner Kehle hoch.
Schließlich räumten Max und ich den Tisch ab und die Spülmaschine ein, und als ich wieder allein in meinem Zimmer war, hatte ich ein fast fertiges Gedicht im Kopf.
Okay, es war kein eigenes Gedicht, eher eine Neufassung. Ich fischte meine alte, abgegriffene Kladde aus dem untersten Stapel in der untersten Schublade, schlug die erste freie Seite auf, zückte den Füller und schrieb:
Zu Doktor Veith, dem Idioten,
Schlich sich Magnus, mit einem Reim voller Zoten.
Ihm haute der Mob auf die Pfoten.
Was wolltest du denn da dichten, sprich!
Entgegnet er kackfrech dem Wüterich:
Die Stadt vom Idioten befreien,
Sonst werden wir’s bitter bereuen.
Okay, das war scheiße. Ich begann sofort das nächste:
Ohne Strand und ohne Meer,
Und seitab liegt die Stadt.
Die Dummheit drückt die Köpfe schwer,
Denn seitab ist auch der,
Der solch Ideen hat.
Wie immer hatte ich so schnell geschrieben, dass ich einen Krampf in der Hand bekam. Wie immer schloss ich die Augen. Und wie immer, wenn ich sie wieder öffnete und blau auf Gilb meine Zeilen las, fand ich sie abstoßend schlecht, vordergründig, geradezu billig.
Das war auch der Grund, warum ich all meine Gedichte als Erstes in diese Kladde schrieb: damit ich sie nicht sofort wegwerfen konnte. (Die vielen herausgerissenen Seiten will ich hier mal nicht erwähnen.) Ich schloss das Buch, zählte bis zehn und öffnete es wieder. Das Gedicht war immer noch abstoßend schlecht, vordergründig, geradezu billig.
Ich rief Sebi an, der mich mit verschlafener Stimme anraunzte, er habe gerade von Marie geträumt und es hätte noch sehr aufschlussreich werden können, hätte ich ihn nicht geweckt.
»Wenigstens musst du jetzt dein Bett nicht frisch beziehen«, witzelte ich. »Pass auf, ich hab eben was geschrieben. Hör dir das mal an!«
Ich las ihm die beiden Texte vor.
Sebi gähnte beherzt. Dann stellte er mit müder Stimme fest: »Ja, das Dings, mit der grauen Stadt.«
»Wie gefällt dir die neue Textfassung?«
Wieder Gähnen. Dann meinte Sebi: »Ich weiß nicht. Ist etwas vordergründig. Irgendwie auch ein bisschen – wie soll ich sagen – ein bisschen billig, verstehst du, was ich meine? Du kannst das viel besser!«
»Ja«, knurrte ich. »Würdest du sagen, es ist abstoßend schlecht?«
»Ach«, brummte Sebi. »Vielleicht nicht wirklich abstoßend. Wer zur Hölle ist Doktor Veith?«
»Mann! Der Typ von diesem Plakat, von dieser Partei, dieser Nazi!«
»Richtig.« Sebi gähnte ausgiebig und wiederholte langsam: »Der Typ, das Plakat, die Partei. Nicht ankreuzen, stimmt’s?«
»Nicht ankreuzen«, bestätigte ich. »Pennst du noch oder bist du wach?«
»Irgendwo dazwischen«, brummte Sebi. »Sag mal, du hast nicht zufällig Maries Telefonnummer?«
»Was?« Ich musste grinsen. »Die hast du nicht? Aber du weißt ja jetzt ihre Straße. Guck einfach im Telefonbuch nach.«
»Straße hin, Straße her«, schimpfte Sebi. »Ich kenne doch ihren Nachnamen gar nicht.«
Ich prustete los. »Wo hast du denn gelernt Frauen aufzureißen?«
»Wahrscheinlich bei dir.«
Kopfschüttelnd warf ich mich aufs Bett und ließ die Kladde daneben auf den Boden sinken. Den schnurlosen Hörer klemmte ich mir zwischen Ohr und Kopfkissen. Während ich mich krümmte und beidhändig an meinem linken dicken Zeh herumfummelte, riet ich ihm: »Vergiss das Wochenende. Am Montag siehst du sie wieder. Und diesmal machst du’s dann richtig.«
»Okay.« Sebi wurde langsam wach. »Um halb vier ist Fußball im Radio. Kommst du zu mir?«
»Komm du zu mir«, entgegnete ich. »Meine Eltern wollen zu einer Möbelausstellung am anderen Ende der Welt, die kommen nicht vor acht nach Hause.«
»Kann ’n guter Samstag werden.« Sebi klang jetzt fast fit. »Ich ruf T-Bone an, er soll ein paar Kannen Bier mitbringen.«
»Jep. Bis später.«
Wahrscheinlich war ich wieder eingedöst. Das schrille Klingeln konnte ich nicht zuordnen, schon gar nicht, da es direkt aus meinem Innenohr zu kommen schien. Mühsam begriff ich, dass ich auf dem Telefon lag. Es dauerte trotzdem eine Weile, bis ich wusste, wer ich war, wo ich war und wo sich der grüne Knopf befand, mit dem man das Gespräch annahm. Ganz ähnlich musste sich Sebi vorhin gefühlt haben.
»Magnus Mahlmann«, meldete ich mich.
»Magnus? Hallo, hier ist Marie Belling. Hab ich dich geweckt?«