1 Einleitung: Seniorenwirtschaft – ein neuer Wachstumszyklus?

Nach einer jahrzehntelangen Verdrängung hat das Thema »demographischer Wandel« nunmehr Öffentlichkeit und Politik nicht nur erreicht, sondern sorgt für hektische Betriebsamkeit. Dabei zeigt sich aktuell ein gewisser Perspektivenwechsel. Noch vor einigen Jahren wurde das Altern der Gesellschaftnahezu ausschließlich als Bedrohung und Last für die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft wahrgenommen. Nun ändert sich diese Sicht; die jahrzehntelang dominante Defizitthese erhält Konkurrenz durch die Betonung von Kompetenzen und Potentialen. Seitens der Wissenschaft wird schon seit längerem nicht nur auf die Probleme, sondern auch explizit auf die Chancen einer alternden Gesellschaft hingewiesen (zusammenfassend die von Kocka, Staudinger 2009 herausgegebenen Bände zum Thema »Altern in Deutschland«). Auch Politik und Wirtschaft scheinen zunehmend zu erkennen, dass die konsumrelevanten Interessen älterer Menschen eine gute Grundlage sein können, um mit entsprechenden Produkten und Dienstleistungen Nachfrage zu generieren sowie Umsätze und Beschäftigung zu steigern bzw. zu sichern: »Neue Märkte und Berufe entstehen, Altern schafft Bedarf« (Naegele 1999: 436).

Im Fünften Altenbericht der Bundesregierung, der die (ökonomischen) »Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« fokussiert, wird der Seniorenwirtschaft ein eigenes Kapitel gewidmet (BMFSFJ 2006). Das für Seniorenpolitik zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat zudem das Programm »Wirtschaftsfaktor Alter – Unternehmen gewinnen« initiiert, welches insbesondere die Expansion der Idee und der Chancen der Seniorenwirtschaft in Deutschland anvisiert. Inzwischen scheint bei den relevanten Wirtschaftsakteuren1angekommen zu sein, über welche Wirtschaftsmacht ältere Menschen verfügen. Experten sprechen – bezogen auf die Gruppe 60 + – derzeit von einer Kaufkraft/Jahr von deutlich über 400 Milliarden Euro (Adlwarth 2008). Bereits heute kaufen sie 45 % aller Neuwagen, 80 % aller Oberklassewagen, 50 % aller Gesichtspflegeprodukte und buchen 50 % aller Reisen (BMFSFJ 2007; Wirtschaftswoche 2006).

Angesichts der demographischen Entwicklung, des kollektiven Alterns der Bevölkerung und ihrer stark gestiegenen Kaufkraft werden ältere Verbraucher künftig eine der wichtigsten Kundengruppen auf privaten Konsumgüter- und Dienstleistungsmärkten sein. Dadurch lassen sich – so die Erwartung – erhebliche ökonomische Potentiale für Wachstum und neue Arbeitsplätze erschließen. Tatsächlich besaßen – historisch betrachtet – Ältere noch nie eine größere Marktmacht als heute. Auch neueste empirische Studien über Einkommenslage und -dynamik sowie über Vermögen und Verschuldung beschreiben diese Zielgruppe als außerordentlich bedeutsam für die private Nachfrage. Dies gilt insbesondere für Westdeutschland. So liegt das Geldvermögen älterer Menschen im Durchschnitt deutlich über dem Niveau aller Haushalte (Adlwarth 2008; DIW 2007; Eitner 2009; Fachinger 2009). Für die zukünftige Entwicklung lässt sich mit großer Sicherheit prognostizieren, dass »die Einkommen der Älteren bis dahin [2030] preisbereinigt um etwa 20–48 % zunehmen werden« (Motel-Klingebiel, Zeman 2007: 71).

Zur Seniorenwirtschaft werden u. a. solche Branchen gezählt, deren Leistungen verstärkt von älteren Menschen bzw. von jenen, die sich auf das Alter vorbereiten, in Anspruch genommen werden. Diese ist dabei nicht als ein eigenständiger, klar abgrenzbarer Wirtschaftsbereich zu verstehen, sondern vielmehr als ein Querschnittsmarkt, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche umfasst. Dazu gehören u. a. der Gesundheits- und Pflegemarkt, soziale und hauswirtschaftliche Dienste, Wohnen und Handwerk, private Versicherungs- und Finanzdienstleistungen (z. B. im Zusammenhang mit der privaten Altersvorsorge), die großen Bereiche Freizeit, Tourismus, Kommunikation, Bildung, Unterhaltung und Kultur sowie die damit zusammenhängenden Bereiche der Informationstechnik und der Neuen Medien. Nach vorliegenden Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sind vor allem die folgenden Gütergruppen »demographiereagibel«, d. h. hier steigen die Verbrauchsausgaben mit dem Alter der Konsumenten:

Mit der politischen Förderung des Konzepts der Seniorenwirtschaft als eigenständigem Politikfeld werden unterschiedliche gesellschaftliche wie ökonomische Ziele assoziiert:

Mikroökonomisch: Hierbei geht es um die Nutzung der demographisch beeinflussten/veränderten Konsumgüternachfrage für Innovationen, Umsatz- und Absatzerfolge im einzelbetrieblichen wie gesamtwirtschaftlichen Waren-, Produkt- und Dienstleistungsangebot sowie für die Entwicklung und Bearbeitung neuer Märkte. Im Einzelnen werden neue, demographiesensible Produkte und Dienstleistungen erschlossen/entwickelt. Diese sind dabei teilweise durchaus altenspezifischer Art wie etwa Hausnotrufsysteme oder spezielle hauswirtschaftliche Dienste für Ältere; zunehmend fallen darunter aber auch solche, die in das Konzept des universal design eingebunden sind und auf ein seniorenspezifisches oder -typisierendes Marketingkonzept verzichten.

Makroökonomisch: Nutzung der gestiegenen Marktmacht/Kaufkraft älterer Menschen zur Stärkung der privaten Binnennachfrage. Dies gilt für alle großen Wirtschaftsbereiche mehr oder weniger gleichermaßen. So sind bereits heute die über 50-Jährigen in vielen Gütergruppen (z. B. Nahrungsmittel, Bekleidung, Reisen) für annähernd 50 % der Konsumausgaben verantwortlich. Szenarien zeigen, dass im Jahr 2035 die über 50-Jährigen knapp 60 % der Gesamtkonsumausgaben tätigen werden.

Arbeitsmarktpolitisch: Schaffung neuer bzw. Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. Diese für die Gesundheitswirtschaft schon sehr früh (z. B. vom Sachverständigenrat im Gesundheitswesen) betonten Wachstums- und Beschäftigungseffekte (SVR-KAIG 1996) lassen sich insbesondere, z. B. anhand einer kürzlich vorgelegten Studie des IW zur demographisch induzierten Bedeutungszunahme des Pflegesektors, für die professionelle Pflege (s. Kap. 8.9.1) feststellen (Enste, Imperz 2008).

Gesellschaftspolitisch: Der Verweis auf die vorhandenen Potentiale einer alternden Gesellschaft und Vorschläge, wie diese Potentiale ökonomisch und gesellschaftlich besser genutzt werden können, relativieren demographische Krisenszenarien.

Gerontologisch: Diese Perspektive zielt insbesondere auf die Unterstützung der selbstständigen Lebensführung im Alter und die Erhöhung der Lebensqualität älterer Menschen durch ein entsprechendes Güter- und Dienstleistungsangebot. Dies war ein Anknüpfungspunkt für das erste Memorandum zur »Wirtschaftskraft Alter« vom März 1999, mit dem das IAT (Institut für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen) und die FFG (Forschungsgesellschaft für Gerontologie, Dortmund) erstmalig bundesweit auf die wachsende Bedeutung der Seniorenwirtschaft hingewiesen (Barkholdt et al. 1999) und damit z. B. in NRW den Anstoß für die Landesinitiative Seniorenwirtschaft gegeben haben (s. Kap. 10.1).

Allerdings sind derartige Beschäftigungs- und Wachstumseffekte nicht voraussetzungslos zu erreichen. Es bedarf auch im Bereich der Seniorenwirtschaft förderlicher Rahmenbedingungen. Insbesondere der Alterssicherungs- und der Rentenpolitik kommt eine maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der Steuerungsmöglichkeiten im »Seniorenmarkt« zu. Wie zu zeigen sein wird, betreffen förderliche Rahmenbedingungen dabei nicht nur die Nachfrage-, sondern auch die Angebotsseite.

Verschiedene Studien weisen dem sogenannten Silver Market gute bis sehr gute Entwicklungsperspektiven zu, wenngleich die Effekte etwa von (ggf. weiteren) Reformen der Alterssicherung oder der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Situation nur schwer abzuschätzen sind. Aus sozialwissenschaftlicher und gerontologischer Sicht gibt es erst wenige Studien, die sich explizit dieses Feldes annehmen. Im Rahmen makroökonomischer Potentialanalysen werden zumeist nur Indikatoren wie Altersstruktur und Produktivität der Beschäftigten aufgerufen, während die reale Bedeutung des »Wirtschaftsfaktors Alter« nur langsam in den Blick der Forschung gelangt. Es ist inzwischen jedoch Konsens, dass sich intern differenzierte »Wachstumsmärkte« des Alters herauskristallisieren, z. B. intensive Formen der »Service-Ökonomie« für Hochaltrige oder Wellness- und gesundheitsförderliche Angebote für das »junge Alter«. Auch wenn die tangierten Branchen mit unterschiedlicher Intensität langsam reagieren, gilt: Die Option, dass ein Land wie Deutschland mit einer der ältesten Bevölkerung der Welt zu einem »Leitmarkt« für wirtschaftlich-soziale Innovationen für das Alter werden könnte, wird derzeit noch nicht breit diskutiert.

Die Fokussierung auf den Wirtschaftsfaktor Alter birgt allerdings auch Gefahren in sich, weil die Fixierung auf die privilegierten Alten mit hoher Kaufkraft gesellschaftliche Spaltungstendenzen und soziale Ungleichheiten verschärfen kann. Es wird dann weiteres Sozialkapital (zusätzlich zum vorhandenen ökonomischen Kapital) dort akkumuliert, wo es ohnehin schon vorhanden ist, während immer mehr ältere Menschen davon ausgeschlossen werden bzw. sich ausgeschlossen fühlen. Über den Umweg Wirtschaftsfaktor Alter kann andererseits auch Respekt vor dem Alter re-etabliert werden. Denn in einer ökonomiezentrierten Gesellschaft stellt die Kaufkraft – trotz aller Einseitigkeiten und Ambivalenzen – immer noch einen zentralen Integrationsfaktor dar. Der Hinweis auf die auch ökonomisch nachweisbare »Wirtschaftsmacht« dient insofern auch der Identitätsbildung älterer Menschen, stärkt ihre Rolle als Konsument und lenkt den Blick auf Ressourcen und Handlungspotentiale.

In den letzten Jahren haben sich Ausgrenzungsprozesse im Finanzmarktkapitalismus intensiviert und treffen Menschen nicht nur materiell (Verarmungsaspekt), sondern führen auch zu subjektiver Verunsicherung und Identitätsverlust. Insofern berührt die Thematisierung des Wirtschaftsfaktors Alter auch die alten sozialen Ungleichheiten und zudem die Debatte um soziale Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Dieser Diskurs hat eine lange Geschichte, wird allerdings oftundifferenziert und pauschal geführt: »Generationengerechtigkeit wurde zum Kampfbegriff für eine Kürzung der Sozialleistungen für das Alter. Und da die Älteren die gewichtigsten Klienten des Wohlfahrtsstaates sind, richtete sich der Kampf – manchmal als unbeabsichtigter Neben-, manchmal als beabsichtigter Haupteffekt – gegen den Wohlfahrtsstaat insgesamt. Die deutsche Version lautet, der Wohlstand der heutigen Rentner und Pensionäre verursachte enorme ökonomische Folgekosten (Arbeitslosigkeit durch zu hohe Lohnnebenkosten, Kinderarmut, Staatsverschuldung), ebenso wie ökologische Schäden (hemmungslose Ausbeutung der Ressourcen, Umweltzerstörung) zu Lasten der jüngeren Generationen, welche die heute Älteren nie hätten tragen müssen. Letztere würden sich derweil geruhsam in eine sozial abgefederte Konsumentenrolle zurückziehen und in der Toskana oder auf Teneriffa überwintern. Die Wohlfahrtsbilanz über den gesamten Lebenslauf sei somit ungerecht zwischen den Generationen verteilt« (Kohli 2006: 121).

Im Folgenden wollen wir nicht näher auf diesen Diskurs eingehen, sehen aber durchaus die problematischen Effekte einer zu engen »ökonomistischen« Fokussierung auf das Thema. Der Altersstrukturwandel hat viele Facetten, und hierzu zählen auch die gewachsenen ökonomischen Potentiale. Die Produktivität Älterer darf jedoch nicht nur nach traditionellen Rentabilitätskriterien der formellen Ökonomie bewertet werden. Generationenbeziehungen oder soziales Engagement können nur bruchstückhaft in »Geldflüssen« gemessen werden. Dennoch spiegelt sich die Wirtschaftsmacht Alter zunehmend in den verschiedenen Segmenten der Seniorenwirtschaft wider. Allein im Sektor der Gesundheitswirtschaft, der umfassender als die Seniorenwirtschaft ist, wurden nach aktuellen Schätzungen (Henke, Troppens 2010a) 2005 fast 5,4 Mio. Menschen beschäftigt. Nach der erweiterten Abgrenzung der Gesundheitswirtschaft arbeitet hier fast jeder siebte Erwerbstätige (13,8 %); die Konsumausgaben machen 17,6 % der Gesamtwirtschaft aus.

Die Entwicklung der Seniorenwirtschaft ist nicht zuletzt auch auf den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme zurückzuführen, der z. B. den Anteil der in Armut lebenden über 65-Jährigen in den letzten Jahrzehnten deutlich reduziert hat. Seit der Einführung der Pflegeversicherung 1994/5 zählt beispielsweise Pflegebedürftigkeit nicht mehr zu den zentralen Armutsrisiken. Umso bedeutsamer ist die künftige soziale Sicherungspolitik, insbesondere die Rentenpolitik, für die weitere Entwicklung der Seniorenwirtschaft. Zudem ist die stark wachsende Gruppe der Älteren in sich heterogen, was u. a. dazu führen wird, dass sich die Einkommens- und Vermögensdifferenzen weiter spreizen werden (BMFSFJ 2006). Auch die Zunahme der sozialökonomischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Alten erschwert eindeutige Aussagen zur internen Richtungsentwicklung der Seniorenwirtschaft.

Dennoch verdeutlicht die Ausgabenstruktur der Rentnerhaushalte, dass Ältere nicht nur über eine hohe Kaufkraft verfügen, sondern hinsichtlich der Einkommensverwendung Schwerpunkte z. B. bei Gesundheits- und Körperpflegedienstleistungen sowie Reisen setzen. Diese Branchen gelten daher als »boomende« Märkte der Seniorenwirtschaft, in denen sich jedoch eine eindeutige Zuordnung zu einzelnen (statistisch definierten) Wirtschaftsbranchen als schwierig erweist, da zwischen einzelnen Sektoren Vermischungen entstanden sind (etwa Freizeit, Wellness und Gesundheit oder Tourismus). Diese neuen Verknüpfungen sind ökonomisch und wirtschaftssoziologisch wichtig und werden mit dem Begriff des »Cluster« erfasst. Das Cluster »Gesundheitswirtschaft« z. B. umfasst Medizintechnik, Pharmawirtschaft, Life Sciences, Biotechnologie, Umweltmedizin, Gesundheitsurlaub, Naturkost, betriebliche Gesundheitsförderung, Gesundheitspädagogik, Telemedizin/medizinische Ratgeber (in Presse, Funk und Fernsehen) etc. Der Erfolg der »Jobmaschine« Senioren- und Gesundheitswirtschaft ist aufgrund der Cluster-Struktur an bestimmte Bedingungen gebunden. Diese bestehen neben der Clusterbildung und der damit zusammenhängenden Vernetzung und Koordinierung auch im kontinuierlichen Wissensaustausch zwischen den zentralen Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaftsowie in einer gemeinsamen Definition und Koordination der angestrebten Ziele und Vorgehensweisen.

Als förderliche Einflussfaktoren für eine Expansion der Seniorenwirtschaft gelten die folgenden Trends:

Das vorliegende Buch bietet einen Überblick über die verschiedenen Facetten der wirtschaftlichen Potentiale des Alters. In den ersten beiden Kapiteln werden Themen aufbereitet, die bislang im Zusammenhang mit den Folgen des demographischen Wandels eher stiefmütterlich behandelt wurden. Sowohl »Produktivität« als auch »Innovation« werden im Alltag eher als von der Alterung der Gesellschaft negativ beeinflusste Phänomene wahrgenommen. Ausgehend von einer breiten bzw. modernen Interpretation der beiden Begrifflichkeiten werden wir zeigen, dass durch die Alterung der Gesellschaft sowohl verschiedene Formen von Produktivität aktiviert bzw. gestärkt werden als auch Innovationen entstehen können. Kapitel 4 und 5 fassen zentrale Daten zu den demographischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Seniorenwirtschaft zusammen. Hierbei werden insbesondere aktuelle Daten zur Einkommenslage sowie zur Einkommensverwendung dargestellt. Entgegen des immer noch verbreiteten Bildes des hilfebedürftigen, einsamen Alten zeigen wir in Kapitel 6 differenziert auf, inwiefern sich die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit älterer Menschen von der jüngerer Kohorten unterscheidet, welchen Beitrag ältere Menschen in der Arbeitswelt leisten und unter welchen Voraussetzungen die Beschäftigungs- bzw. Arbeitsfähigkeit Älterer gewahrt werden kann. Jenseits der Erwerbstätigkeit in Form eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses gewinnt für einen steigenden Anteil älterer Menschen die informelle Arbeit in Form von ehrenamtlichem bzw. bürgerschaftlichem Engagement an Bedeutung. Kapitel 7 stellt die Ausprägungen der informellen Arbeit älterer Menschen sowie fördernde und hemmende Faktoren vor. Die »Seniorenwirtschaft« im engeren Sinne, d. h. die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Nachfrage nach verschiedenen Produkten und Dienstleistungen, ist Gegenstand des achten Kapitels. Für eine Vielzahl von Wirtschaftssektoren resultieren aus der Zunahme der Zahl der älteren Menschen, aus der gestiegenen Heterogenität ihres Bedarfs und ihrer Nachfrage wirtschaftliche Potentiale, aber auch neue Herausforderungen. Wir haben insgesamt acht Sektoren identifiziert, in denen relevante Auswirkungen zu erwarten sind, und stellen sowohl quantitative Daten als auch qualitative Informationen vor. In Kapitel 9 werden die für alle Sektoren relevanten Auswirkungen in Bezug auf die Erfordernisse des Marketings, der Qualifikation der Mitarbeiter sowie der Qualitätssicherung zusammenfassend dargestellt. Die Potentiale der »Seniorenwirtschaft« werden zunehmend auch aus struktur- bzw. beschäftigungspolitischer Perspektive diskutiert. Am Beispiel Nordrhein-Westfalens, einem Bundesland mit langjähriger Erfahrung in der Bewältigung struktureller Umwälzungen, werden seniorenwirtschaftliche Initiativen und ihre Auswirkungen vorgestellt (Kap. 10). Das letzte Kapitel gewährt einen Blick über den deutschen Tellerrand: Die japanische Gesellschaft ist der bundesdeutschen hinsichtlich des demographischen Wandels in doppelter Hinsicht voraus, denn einerseits hat Japan die älteste Bevölkerung weltweit, andererseits wurden hier die Potentiale des Silver Market schon wesentlich früher erkannt. Das Buch schließt mit einem zusammenfassenden Kapitel, in dem die wirtschaftlichen Potentiale des Alters diskursiv dargestellt werden.

1 Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wurde an einigen Stellen ausschließlich die feminine bzw. maskuline Form verwendet. Gemeint ist jedoch immer auch das jeweils andere Geschlecht.

2 Produktivität des Alters – die gesellschaftliche Perspektive

In der deutschsprachigen gerontologischen Literatur werden die wirtschaftlichen Potentiale des Alters zumeist unter der Perspektive der Einkommens- und Vermögensverteilung diskutiert. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die private Nachfrage und die Kaufkraftentwicklung im Alter, die wiederum Gegenstand primär seniorenwirtschaftlicher Betrachtungen sind. Die in diesem Buch eingenommene Perspektive öffnet den Blick auf eine erweiterte ökonomische Sicht, die Alter und Altern als wirtschaftliche Produktivfaktoren begreift, und zwar nicht nur auf der Nachfrage- (Ältere als Verbraucher), sondern auch auf der Produzentenseite (Ältere als Produzenten von Gütern und Dienstleistungen). Dem entspricht eine in der Gerontologie seit Beginn der 1990er Jahre diskutierte neue Funktionsbestimmung von Alter(n) im Kontext von Produktivität.

2.1 Produktivitätsdiskurse in der Gerontologie

Mit der politisch bewusst vorgenommenen Aufnahme des Themas Seniorenwirtschaft in den Fünften Altenbericht der Bundesregierung mit dem Rahmenthema »Potentiale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« gelangten die ökonomischen Ressourcen des kollektiven Alterns der Bevölkerung auf die Tagesordnung des altenpolitischen Diskurses in Deutschland. Dabei folgte man einem allgemeinen Paradigmenwechsel in der Gerontologie, nämlich die immer noch dominierende traditionelle Defizitorientierung zu überwinden und eine potentialorientierte Sicht vom Alter zu erreichen, nach dem Vorbild der USA, wo die soziale Gerontologie schon seit mehr als 25 Jahren das »productive ageing« diskutiert (Caro 2008; Morrow-Howell, Hinterlong, Sherraden 2003).

Ganz neu ist der Produktivitätsdiskurs in Deutschland im Grundsatz jedoch nicht (z. B. Knopf, Schäffter, Schmidt 1989; Kohli, Künemund 1986). Auch liegt dem Konzept selbst keine eindeutige Begriffsbildung zugrunde (Schroeter 2004), was übrigens auch kein isoliertes deutsches Phänomen zu sein scheint (für die USA Hinterlong, Morrow, Howell, Sherraden 2003). Hierzulande ging die Thematisierung von Altersproduktivität anfangs stark von der psychologisch beeinflussten Gerontologie aus und stand schwerpunktmäßig im Kontext von Bemühungen, das (vermeintlich) primär negative Altersbild in der Gesellschaft zu überwinden. Entsprechend erfolgte dies anfangs auch insbesondere mit Blick auf die individuellen physiologischen und psychologischen Ressourcen und Kompetenzen älterer Menschen, die jeweils auf ihre Produktivitätspotentiale hin »abgeklopft« wurden (verschiedene Beiträge in Baltes, Montada 1996).

Neuere psychologische Konzeptualisierungen von Produktivität, z. B. durch Staudinger oder Kruse, stellen eine individuelle Produktivität selbst bei eingeschränkter physischer Verfassung, Krankheit und Pflegebedürftigkeit fest: Sogar sehr kranke ältere Menschen können produktiv sein, indem sie in selbst- wie in mitverantwortlicher Weise einen Beitrag zur Reduzierung der kollektiven Belastungen des Alters leisten, z. B. indem sie sich selbst um ihre Gesundheitsförderung und die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit bemühen oder professionelle wie informelle Helfer »durch bewusst angenommene Abhängigkeit« (Kruse 2005; Staudinger 1996) unterstützen.

Diese in der Psychologie naturgemäß stark individualisierende Perspektive wurde später von der deutschen Alterssoziologie zu einer gesellschaftsbezogenen Sicht der »Produktivität im Alter« weiterentwickelt und in einen gesellschaftsbezogenen Nützlichkeitsdiskurs im Kontext des demographischen Belastungsszenariums, nach dem das kollektive Altern der Gesellschaftals eine gesellschaftliche Bedrohung zu sehen sei, integriert (Naegele 1993; Naegele, Schmidt 1998; Tews 1996). Einige Autoren appellierten vor diesem Hintergrund sogar an die »Pflicht« der Älteren selbst, das weitgehend »entpflichtete« Alter nicht nur im konsum-, reise- und freizeitbezogenen Eigeninteresse, sondern auch im gesellschaftlich mitverantwortlichen Interesse stärker und besser zu nutzen. Die Rede war z. B. von der »(Wieder-) Verpflichtung des gesellschaftlich entpflichteten Alters« mit der expliziten Aufforderung, durch »produktive« Eigenbeiträge selbst an der Reduzierung der gesamtgesellschaftlichen Belastung durch das Alter und damit an der Überwindung der zumeist negativen Konnotation des demographischen Wandels aktiv mitzuwirken (Naegele 1993). Exemplarisch dazu steht die (auch heute noch) viel beachtete Konzeptualisierung von Hans-Peter Tews (Tews 1996). Er versteht unter Produktivität »Werte erzeugendes, sozial nützliches Verhalten«, das sich in Geld- und Sachleistungen, vor allem aber in der Zurverfügungstellung von Zeit (als eines der größten und gesellschaftlich viel zu wenig genutzten Ressourcen älterer Menschen), ausdrückt und jeweils an Tauschverhältnisse gebunden ist.

Eine mit der von Tews vertretenen Herangehensweise stark verwandte Konzeptualisierung findet sich in neueren Arbeiten rund um das »active ageing«, wie sie in der wissenschaftlichen Diskussion insbesondere der britische Soziologe Alan Walker (2002 a, b, 2006; 2010) vertritt. Dieses Konzept stammt politisch aus dem WHO-Umfeld, ist vor allem auf EU-Ebene weit verbreitet, mit der sogenannten »Lissabon-Strategie« der EU kompatibel und in der Zwischenzeit für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union so etwas wie die »ideologische Geschäftsgrundlage« für nationale Altenpolitik geworden; wenn auch zunehmend in unzulässiger Einengung auf die Politikfelder Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik (s. Kap. 7). Insgesamt zielt active ageing darauf ab, die Potentiale und Chancen des Alters stärker herauszustellen und zu nutzen und das Alter nicht – wie bisher – als eine weitgehend passive, sondern als eine durchaus rege und aktive Lebensphase zu begreifen. Betont werden dabei die Vorteile für Individuum und Gesellschaft. Es handelt sich also um eine individuelle wie kollektive Aufforderung zur Verbesserung des Älterwerdens bzw. des Lebens im Alter, sowohl bei sich selbst als auch bei anderen Gruppen, wobei der Schwerpunkt bewusst auf sozial, gesundheitlich oder etnisch-kulturell Benachteiligten liegt. Speziell in der Verbindung des »Für-sich-etwas-Tun« und des »Für-andere-etwas-Tun« (möglichst noch mit anderen gemeinsam) liegt die Kernidee von active ageing.

Im Grundsatz findet sich diese Argumentation auch in der Kernbotschaft des Fünften Altenberichtes der Bundesregierung wieder, der für eine bessere Nutzung der Potentiale älterer Menschen plädiert und dabei auf folgendem Grundverständnis von Potentialen beruht: »Unter ›Potentialen des Alters‹ sind sowohl vom Individuum wie von der Gesellschaft präferierte Lebensentwürfe und Lebensformen, die zur Wirklichkeit werden können, als auch die den älteren Menschen für die Verwirklichung von Lebensentwürfen und Lebensformen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu verstehen. Dabei kann zwischen einer stärker individuellen und einer stärker gesellschaftlichen Perspektive differenziert werden. Während aus einer individuellen Perspektive die Verwirklichung persönlicher Ziel- und Wertvorstellungen im Vordergrund steht, ist aus gesellschaftlicher Perspektive vor allem von Interesse, inwieweit ältere Menschen zum einen auf Leistungen der Solidargemeinschaft angewiesen und zum anderen in der Lage sind, selbst einen Beitrag zum Wohl der Solidargemeinschaft zu leisten« (BMFSFJ 2006: 47).

2.2 Demographische Krisenszenarien und ökonomische Altersproduktivität

Demgegenüber sind explizit ökonomische Konzeptualisierungen von Altersproduktivität in Deutschland noch vergleichsweise selten anzutreffen. Als einer der wichtigsten Vertreter gilt der Bremer Ökonom Wilfried Schmähl (Schmähl 1988).

Definition

► Unter ökonomischer Altersproduktivität kann dabei zunächst ganz allgemein das vor allem auf Dritte gerichtete, ökonomische Werte erzeugende und/oder vermehrende sowie das bereits durch sie erzeugte ökonomische Güter verteilende Handeln älterer Menschen verstanden werden.◄◄

Ähnlich lautet auch eine der ersten US-amerikanischen Definitionen von Caro, Bass und Chen (1993: 6), die mehr oder weniger ausschließlich auf ökonomische Dimensionen abheben: »Productive ageing refers to any activity by an older individual that contributes to producing goods or services, or develops the capacity to produce them (whether or not the individual is paid for this activity).« Diese ökonomische Orientierung wird von Bass und Caro (2003: 39) später wie folgt ergänzt: »Productive ageing, under this definition, is restricted to activities that can be quantified as to some form of economic value« (Bass, Caro 2003: 39); oder von Caro (2008: 76) unter Bezugnahme auf Morgan (1986) in einer deutschen Übersetzung: »Der Begriffdes produktiven Alterns […] konzentriert sich auf solche Aktivitäten, die für die Älteren bezahlt werden oder die bezahlt würden, wenn sie nicht ein älterer Mensch ausübte. Es geht uns also – kurz gefasst – um die ökonomischen Beiträge der älteren Menschen für die Gesellschaft.«

Hinter dem Konzept der ökonomischen Altersproduktivität verbergen sich im Grundsatz ähnliche Bestrebungen, wie sie bereits seine stark individualisierenden oder gesellschaftsbezogenen Vorläufer charakterisiert haben: Ziel ist auch hier vornehmlich die Verbesserung des vorherrschenden Altersbildes, nun allerdings mit ökonomischen Begründungen. Betont wird z. B., dass Ältere keineswegs »bloße Kostgänger« des Systems oder »gierige Grufties« bzw. »eine gierige Generation« seien, die »die Jungen ausbeutet«, wie dies insbesondere schon in den 1990er Jahren in vielen stark negativ geprägten Altersthematisierungen zu lesen war (z. B. Schüller 1995, 1997; Tremmel 1996). Vielmehr seien viele Ältere selbst in hohem, aber durchaus noch ausbaufähigen Maße ökonomisch produktiv, und dies sowohl im Eigen- wie im (ökonomischen) Gesamtinteresse der Gesellschaft (Barkholdt et al. 1999).

Der Verweis auf die kompensierenden Wirkungen der ökonomischen Altersproduktivität findet sich erstmals explizit im Abschlussbericht der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel« von 2002 (Deutscher Bundestag 2002). Darin wird u. a. bekräftigt, dass in einem gesamtwirtschaftlichen Sinne Ältere in vielfältiger Weise ökonomisch aktiv sind und dies auch noch ausbauen könnten. Letzteres bezieht sich dabei explizit – in Reaktion auf den damals noch sehr stark vorherrschenden Trend zur »Entberuflichung des Alters« – auf eine stärkere Integration Älterer in bezahlte Erwerbsarbeit, für die aber geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen seien (s. Kap. 6.4). Eine zweite Argumentationslinie der Enquete-Kommission richtet sich gegen die These von der »finanziellen Ausbeutung der Gesellschaft und insbesondere der Jungen durch die Alten«, die in unzulässiger Weise auf einer querschnittlichen Betrachtung der ökonomischen Austauschbeziehungen zwischen den Generationen beruhen würde. Erforderlich sei vielmehr eine längsschnittliche Analyse, denn nur dann würde deutlich werden, dass Menschen die verschiedenen Lebensphasen in unterschiedlichen Funktionen durchlaufen, also zeitweilig »Nettozahler« oder »Nettoempfänger« sind (Schmähl 1988). In diesem Zusammenhang verweist der Bericht – jenseits der Seniorenwirtschaft, die noch nicht im Fokus der Enquete-Kommission stand – auf folgende bedeutsamen ökonomischen Eigenleistungen und Aktivitäten der Älteren (Deutscher Bundestag 2002):

Bedenklich sind neuere, vor allem makroökonomisch begründete negative Konnotationen, wonach das Alter ein demographisches Bedrohungspotential für die Gesamtwirtschaft darstellt. Zwar ist damit zumeist das Schrumpfen der Bevölkerung gemeint, dennoch wird die Diskussion häufig von Alterungseffekten überlagert. Adressiert ist die Produzenten- wie die Konsumentenseite gleichermaßen. Auf der Produzentenseite bezieht sich das demographische Bedrohungsszenarium insbesondere auf das sinkende Erwerbspersonenpotential vor allem nach 2015/20 und infolgedessen auf das rasche Altern der Belegschaften. Vor diesem Hintergrund wird vor einer sinkenden Arbeitsproduktivität gewarnt. Für diese These gibt es aber bislang zu wenig belastbare empirische Beweise. Unbeachtet bleiben neben berufsgruppenspezifischen Unterschieden die allerdings leider kaum quantitativ messbaren Kompensationsmöglichkeiten durch Erfahrungswissen etc., desweiteren solche intelligenten Formen der intergenerationellen Arbeitsteilung und -organisation, mit denen es grundsätzlich möglich sein kann, altersspezifische Vor- und Nachteile in der beruflichen Leistungsfähigkeit auszugleichen (Börsch-Supan 2009; Naegele, Walker 2008) (s. Kap. 6.2).

Im Zentrum des ökonomischen »Bedrohungsszenariums« stehen weiterhin steigende Personalkosten wegen der stärkeren Belastung des Faktors Arbeit mit Sozialabgaben in den Betrieben. In besonderer Weise gelten die Befürchtungen den demographisch bedingt sinkenden Innovationspotentialen wegen der älter werdenden inner- wie außerbetrieblichen »Innovations-« und »Gründungseliten« (Meier, Schröder 2007: 169; Ziebarth 2007). Auf der Konsumentenseite betrifftdies vor allem die alterstypisch sinkende Nachfrage nach besonders demographiesensiblen Konsumgütern und Dienstleistungen, mit der Konsequenz möglicher Umsatzeinbußen und Arbeitsplatzverluste in den betroffenen Branchen (Börsch-Supan 2007). So wird z. B. eine Zunahme der Beschäftigung im Gesundheitssektor, aber eine Abnahme im Verkehrssektor erwartet (Börsch-Supan 2009). Negative Wachstumseffekte werden auch aufgrund der demographieinduzierten Umschichtungen auf den Kapitalmärkten vermutet, nämlich dann, wenn die Babyboomer ihre Vermögensbestände konsumieren wollen oder müssen (Börsch-Supan 2007, 2009; Bahr, Widmann 2007). Darüber hinaus könnten bei demographischem Altern und Bevölkerungsrückgang die nachrückenden Kohorten überdurchschnittlich stark finanziell belastet und überfordert werden. Negative Rückkoppelungseffekte auf die ökonomische Leistungsbereitschaft Jüngerer werden dabei aufgrund des Mehrfacheffektes von sinkenden Renditeerwartungen bei den eigenen Ersparnissen, fortlaufenden Verpflichtungen gegenüber der nicht mehr erwerbstätigen Generation in den umlagefinanzierten Sicherungssystemen sowie zusätzlicher finanzieller Aufwendungen für den Aufbau der eigenen (privaten) Altersvorsorge (Riester-Rente) vermutet (s. Kap. 4.3) (Bäcker, Naegele et al. 2010; Bd. I). Ein weiteres Bedrohungsszenarium bezieht sich schließlich auf den Wohnimmobilienmarkt und hier insbesondere auf die zurückgehende bzw. sich verlagernde Nachfrage (z. B. mehr Eigentumsbildung im Geschosswohnungsbau statt Einfamilienhäuser) (Ziesewitz 2007).

Dem ist ganz generell entgegen zu halten, dass derartige makroökonomische Zukunftsszenarien seit langem bekannt sind und somit – zumindest theoretisch – genügend Zeit besteht, um Gegenmaßnahmen oder Abmilderungsstrategien einzuleiten (Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands 2007). Zudem sind wirksame (auch rechtzeitig einzuleitende) beschäftigungs-, bildungs-, wirtschafts- und finanzpolitische Gestaltungsoptionen im Grundsatz vorhanden. Die erste Gruppe betrifft dabei all jene Maßnahmen, die auf eine positive Produktivitätsentwicklung in einer alternden Arbeitsgesellschaftzielen, dabei – neben allgemeinen Überlegungen zur Lebensarbeitszeitverlängerung und Erhöhung des Humankapitals alternder Beschäftigter – insbesondere durch Investitionen in ihre Beschäftigungsfähigkeit (Börsch-Supan 2009). Damit sind zugleich drei in der Praxis hochvoraussetzungsvoll umzusetzende Kernthemen des vorliegenden Buches angesprochen:

  1. die Ausweitung der Beschäftigung Älterer und die Förderung ihrer Beschäftigungsfähigkeit (s. Kap. 6.4),
  2. die »produktive« Nutzung der informellen Ressourcen des Alters (s. Kap. 7) sowie
  3. die Förderung der Seniorenwirtschaft – u. a. auch durch bessere Nutzung der ökonomischen Potentiale älterer Hersteller, Anbieter und Verkäufer von Produkten und Dienstleistungen auf solchen Märkten, auf denen die Älteren als Nachfrager zunehmend bedeutsamer werden (s. Kap. 8.).

Auf der Beschäftigungsseite ist weiterhin auf die Erhöhung der Frauenerwerbsquote sowie insbesondere auch auf die Ausweitung und die zeitliche Verlängerung der (allerdings sozialversicherungspflichtigen!) Beschäftigung von Menschen mit Migrationsgeschichte zu verweisen. Was schließlich die demographischen Risiken für die Kapitalmärkte betrifft, so verweisen Makroökonomen schon seit längerem auf die Chancen einer weiteren Internationalisierung, »die es erlaubt, diejenigen Produktivitätsstätten im Ausland zu finanzieren, aus denen zukünftige Konsumgüter für das alternde Deutschland importiert werden« (Börsch-Supan 2009: 40).

Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die politische Lösung demographisiesensibler Gestaltungsaufgaben ist keine Black Box. Für viele Fragen liegen bereits angemessene Konzepte für Lösungen vor, die allerdings nur gemeinsam mit den Alten realisierbar sind. Dafür müssten diese mehr selbst- und gesellschaftsbezogene Mitverantwortung aufbringen (BMFSFJ 2006) und sich z. B. dort, wo es möglich ist, bereit erklären, länger zu arbeiten, mehr berufsbezogen zu lernen, zu entsparen bzw. einer gerechteren Verteilung der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialleistungen zwischen den Generationen zustimmen. Wie im Verlauf dieses Buches noch gezeigt wird, ist diese Bereitschaft in Teilen unter bestimmten Voraussetzungen durchaus vorhanden. Umsetzbar ist eine solche Strategie wiederum nur gemeinsam mit den Jungen, von denen man im Gegenzug ebenfalls eine größere Bereitschaft einfordern muss, z. B. zu mehr berufsbezogenem Lernen, neuen Erwerbsmustern inklusive kürzerer Ausbildungszeiten, mehr beruflicher Mobilität und Flexibilität sowie nicht zuletzt zu einem Leben mit Kindern.

2.3 Der gerontologische Produktivitätsdiskurs in der Kritik

Der sich im Produktivitätsdiskurs widerspiegelnde Paradigmenwechsel in der öffentlichen Bewertung von Altwerden und Altsein – weg von der Defizit- hin zur Aktivitäts- und Potentialorientierung – ist nicht unumstritten und auch in der politischen wie wissenschaftlichen Diskussion nicht unwidersprochen geblieben. Versucht man die dazu jeweils vorgetragenen Argumente zu systematisieren, dann ergeben sich – je nach wissenschaftstheoretischem und (politik-)ökonomischem Zugang – ganz unterschiedliche Kritikpunkte:

Kontrollfragen zu Kapitel 2

Wie unterscheidet sich die traditionelle Defizitorientierung von neuen Sichtweisen der Produktivität älterer Menschen?

Was ist unter »ökonomischer Altersproduktivität« zu verstehen?

Welche kritischen Einwände bestehen aus gerontologischer Sicht gegen eine (einseitige) Interpretation der Produktivität Älterer?

Weiterführende Literatur

Akademiegruppe Altern in Deutschland (Hrsg.) (2009). Produktivität in alternden Gesellschaften. Altern in Deutschland. Halle/Saale: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Amann, A. (2007). Produktives Altern und flexibles Altern: Forschungsprogrammatische Überlegungen zu einem Sozialprodukt des Alters. In U. Pasero, G.M. Backes & K.R. Schroeter (Hrsg.), Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion (S. 265–288). Wiesbaden: VS.

Amann, A., Felder, D. & Ehgartner, G. (2010). Sozialprodukt des Alters. Über Produktivitätswahn, Alter und Lebensqualität. Wien: Böhlau.

Erlinghagen, M. & Hank, K. (Hrsg.). (2008). Produktives Altern und informelle Arbeit in modernen Gesellschaften. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde. Wiesbaden: VS.

Walker, A. (2007). The new politics of old age. In H.W. Wahl, C. Tesch-Römer & A. Hoff (Hrsg.), New Dynamics in Old Age. Individual, environmental and social perspectives (S. 307–324) Amityville, NY: Baywood.

3 Alter als wirtschaftlicher Innovationsmotor

Eine schrumpfende Gesellschaft mit einer Verschiebung der Altersstruktur, überdies zu Lasten Jüngerer, gilt üblicherweise als Kandidatin für den wirtschaftlichen Abschwung, da sich negative Konsequenzen für ein innovationsgetriebenes Wachstum ergeben können. In diesem Zusammenhang werden u. a. folgende Argumente genannt (Meier, Schröder 2007: 56):

Auch wenn für manche der vorgebrachten Argumente der empirische Beleg aussteht, ist das Risiko einer »Immobilisierung der Verhältnisse« (Kaufmann 2005: 62) nicht von der Hand zu weisen. Deshalb müssen die innovatorischen Aspekte der alternden Gesellschaft herausgearbeitet und auch kommuniziert werden (vgl. verschiedene Beiträge in Börsch-Supan et al. 2009; vgl. für eine zusammenfassende Darstellung auch Wydra 2009). Allerdings müssen alternde Gesellschaften auch nicht gleichsam automatisch weniger innovativ oder produktiv sein als jüngere, vielmehr kommt es auf die Rahmenbedingungen und deren aktive Anpassung an den Wandel an.

Im Folgenden wird ein Innovationsbegriff verwandt, der über naturwissenschaftlich-technische Produkt- und Prozessinnovationen oder Marktinnovationen hinausgeht. Die Rede ist von