Serienmord in Neuharlingersiel

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-95573-801-3
1. Auflage 2018, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2018 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

 

Renate lag verzweifelt wimmernd in ihrem Bett, zusammengekauert unter ihrer Bettdecke. Was hatte sie nur getan? Auf was für ein Spiel hatte sie sich eingelassen? Da unten in der Diele lag ihr Mann in seinem Blut. Getötet von ihrem Liebhaber. Sie wusste, eigentlich müsste sie sofort die Polizei anrufen. Aber was sollte sie denen sagen? Etwa: Mein Liebhaber hat meinen Mann umgebracht, aber damit habe ich nichts zu tun?

Bis zum letzten Hafenfest in Neuharlingersiel war ihre kleine Welt noch völlig in Ordnung gewesen. Sie arbeitete als Designerin für eine Werbeagentur in Aurich, meist von zu Hause aus. Ihr Mann war unter der Woche als Handelsvertreter für eine Firma in Bremen in ganz Deutschland unterwegs. Kinder hatten noch nie auf ihrer Agenda gestanden. Schon in ihrer Studentenzeit war sie gerne gereist und auf so einer Reise hatte sie auch ihren Mann kennengelernt. Seitdem waren sie schon gemeinsam um die halbe Welt gejettet. Mit Kindern wäre das so nicht möglich gewesen.

Dann hatte Klaus seinen alten Kumpel Atze beim Hafenfest in Neuharlingersiel wiedergetroffen und ihn am darauffolgenden Wochenende in ihr Haus eingeladen. Und da war es passiert. Beide Männer hatten viel getrunken. Ihr Mann sogar viel zu viel. Atze hatte sie von Anfang an sehr beeindruckt, er hatte das gewisse Etwas. Dabei wusste sie noch nicht einmal seinen richtigen Namen, ihr Mann hatte nur gesagt, dass alle in der Berliner Szene ihn schon immer „Atze“ genannt hatten. In dieser Nacht waren sie sich dann irgendwie auf einmal nahegekommen, viel zu nah. Und seitdem ... Das ging nun schon über ein halbes Jahr so.

Aber seit dem Zusammenbruch von Klaus vor vier Wochen in der Dusche war ihre Welt völlig aus den Fugen geraten. Notarzt, Klinik, Hirntumor, nicht mehr operabel, nur noch wenige Monate ... Seitdem hatte sie sich nicht mehr mit Atze getroffen. Hatte nur noch für ihren Mann da sein wollen.

Sie hatten heute Abend schon im Bett gelegen, als es an der Haustür klingelte. Klaus war nachsehen gegangen. Dann hatte sie gehört, wie ihr Mann sagte: „Mensch Atze, du mitten in der Nacht hier? Was ist los, Alter? Komm erst mal rein.“

Dann dieser gurgelnde, sonderbare Schrei und ein dumpfes Geräusch. Wie an dem Morgen, als Klaus im Bad zusammengebrochen war. Sie war wie elektrisiert aus dem Bett gesprungen. Von der Galerie aus hatte sie ihren Mann unten in der Diele auf dem Boden liegen sehen. Atze war über ihn gebeugt, so dass sie den Kopf ihres Mannes nicht hatte sehen können. Und als Atze sich aufrichtete und zu ihr hochschaute, hatte es sie wie ein Keulenschlag getroffen. Sie sah, wie bei Klaus das Blut aus einer klaffenden Wunde am Hals mit jedem Herzschlag herausgestoßen wurde. Dann hatte sie eine schützende Ohnmacht umfangen.

Und jetzt lag sie in ihrem Bett. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dahin gekommen war. Hatte Atze sie ins Bett getragen? Wie lange lag sie schon da? Es war totenstill im Haus. Renate fröstelte trotz der wärmenden Bettdecke. Sie müsste nachsehen und die Polizei ... Aber sie war wie gelähmt. Wieso war es so still? Wo war Atze?

Dann kamen Gedanken. Welche Leiden waren Klaus jetzt erspart geblieben? Die Chemo hatte ihm schon stark zugesetzt. Und viel Hoffnung könne er ihr nicht machen, hatte der Arzt gesagt. Zu weit fortgeschritten ...

Immer wieder hatte Atze sie in den letzten Wochen telefonisch und per SMS zu einem intimen Date drängen wollen. Gestern hatte sie ihm am Telefon endgültig gesagt, dass sie nur noch für ihren Mann da sein wolle und für ihn da einfach kein Platz mehr sei. Dabei hatte sie aber für sich behalten, dass ihr Mann nicht mehr lange zu leben haben würde. Das Gewissen plagte sie zu sehr. Obwohl sie eigentlich genau wusste, dass ihre Affäre mit seiner Krankheit nichts zu tun hatte.

Sie konnte es einfach nicht begreifen. Das Ende einer einfachen außerehelichen Beziehung konnte doch nicht der Grund für einen solchen bestialischen Mord sein! Sie sollte doch noch mal nachsehen. Vielleicht lebte Klaus ja noch und sie hatte das alles nur geträumt. Ein Alptraum. Renate zwang sich aus dem Bett. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet schleppte sie sich zögernd zur Brüstung der Galerie.

Ein riesiger Blutfleck unten in der Diele ließ keinen Zweifel mehr aufkommen. Da war eine fürchterliche Bluttat geschehen. Renate drohten erneut die Sinne zu schwinden. Sie konnte sich nur mit Mühe am Geländer festhalten. Wo war ihr Mann? Wo war Atze? Panik kroch in ihr hoch.

„Atze?“ Es hätte ein lauter Ruf werden sollen. Stattdessen kam ihr nur ein fast stimmloses Gekrächzte über die Lippen. „Atze?“

Keine Antwort. Totenstille. Sie musste doch die Polizei verständigen! Sofort!, hämmerte ihr Gewissen. Erneut drohten ihr die Sinne zu schwinden. An der Wand abgestützt hatte sie nur noch einen Gedanken: Ins Bett, alles vergessen.

Irgendwie hatte sie es dann geschafft und sich wieder unter ihrer Bettdecke verkrochen wie ein kleines Kind. Und da lag sie nun als zitterndes Häuflein Elend. Doch dann endlich verfiel sie in einen bleiernen Schlaf des Vergessens.

Sie hörte auch nicht das Summen des elektrischen Garagentores, hörte nicht die Tritte auf der Holztreppe. Sie bemerkte auch nicht, wie sich eine nackte männliche Gestalt unter ihre Bettdecke schob.

Doch der Augenblick des bösen Erwachens nahte! Unaufhaltsam! Was mit so viel Leidenschaft begonnen hatte, endete für sie in Bitterkeit und tiefster menschlicher Enttäuschung. Sie musste sich der gnadenlosen Erkenntnis, der erdrückenden Wahrheit stellen. Dann sah sie nur noch eine offene Tür für ihre Handlungsoptionen. Sie musste durch diese Tür gehen, so schmerzhaft es auch war.

 

So wie das Blut mit jedem Schlag ihres Herzens aus ihren Adern floss, zerrannen auch alle schmerzlichen Erinnerungen.

Bis endlich die alles verschlingende Dunkelheit ewigen Vergessens den erlösenden Mantel über sie deckte.

 

Kapitel 2

 

Die schrecklichen Ereignisse um Renate und ihren ermordeten Mann lagen nun schon über ein Jahr zurück. Die Sonderermittler des LKA aus Hannover waren längst wieder abgezogen und hatten dem Kommissariat in Wittmund einen ungeklärten Mordfall hinterlassen. Der Liebhaber von Renate und Mörder ihres Mannes schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Weder die von der Spurensicherung sichergestellten Fingerabdrücke noch die DNA-Spuren hatten zu erkennungsdienstlichen Erkenntnissen geführt. Auch alle Befragungen durch die Sonderermittler im Umfeld der Opfer hatten keine Ergebnisse gebracht.

Die heißen Sommertage waren vorüber und mit Beginn der Nachsaison schien der Tourismus an der Nordseeküste und auf den Ostfriesischen Inseln einen anderen Gang eingelegt zu haben. Es war wie in jedem Jahr. Nach dem Ende der Schulferienzeit veränderte sich nicht nur das Strandbild, auch die Geschäftigkeit in den Straßen und Häfen schien einen Gang zurückgeschaltet zu haben. Das Hafenfest und die beliebte Kutter-Regatta von Neuharlingersiel: bleibende schöne Erinnerungen für gute Vorsätze unzähliger Kur- und Feriengäste, im nächsten Jahr bestimmt wiederkommen zu wollen. Es war fast so, als hätte man in einem Buch ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Die Uhren schienen auf einmal auch etwas langsamer zu gehen. Und die ruhige und bedächtige ostfriesische Beschaulichkeit gewann wieder die Oberhand. Dabei kamen ja sehr viele Ferienurlauber mit ihren Kindern gerade deswegen hierher, um der hektischen Betriebsamkeit vieler Großstädte zu entfliehen. Aber es war wohl unvermeidlich, dass sie einiges davon jedes Jahr wieder aufs Neue in ihrem Gepäck mitbrachten.

Doch jetzt beherrschten die Nachsaisongäste das Straßenbild. Auch im BadeWerk Neuharlingersiel mit seinem ganzjährig geöffneten Meerwasser-Hallenbad, der ansprechenden Themen-Saunalandschaft und dem Wellness-Bereich ging es wieder etwas ruhiger zu. Die Schwimmerinnen und Schwimmer konnten ihre Bahnen ziehen, ohne auf planschende Kinder achten zu müssen. Geschäfte an und um den malerischen Hafen lockten mit Sonderangeboten, um die letzten Saisonartikel noch aus dem Lager zu bekommen. Der historisch einzigartige Sielhof mit seiner einladenden Parkanlage, die hübsch restaurierte Seriemer Mühle oder das Buddelschiffmuseum an der Westseite des Hafens konnten wieder ohne Gedränge besichtigt werden.

Die Fischerstatuen Alt- und Jungfischer, das Wahrzeichen vom Hafen in Neuharlingersiel, schien das aber alles nicht zu beeindrucken. Der alte und der junge Fischer waren immer noch in ihrem, für manche Ostfriesen sicher nicht gerade untypischen, stummen Zwiegespräch vertieft. Weer? Kummt un geiht. Water? Kummt un geiht. Jahrstied? Kummt un geiht. Wat sall man daar vööl Woorden maken.

Und auch in der Verwaltung des Kurvereins machte sich das Ende der Schulferienzeit bemerkbar. So gab es auch mal wieder Luft für ein kurzes Schwätzchen am Kaffeeautomaten. Alles lief eben wieder einen Tick gemächlicher.

Selbst die Sonne schien heute etwas länger gebraucht zu haben, bis sie schließlich als glutroter Ball in das Wattenmeer eingetaucht war. Viele Nachsaisongäste hatten heute am Strand gestanden, um das farbenprächtige Himmelsereignis im Film, Foto oder Handy festzuhalten.

Für die Nacht waren lockere Bewölkung und eine steife Brise aus Nordwest angekündigt. Die im Westen über den Horizont gerade heraufziehenden Wolken hatten wohl auch heute Abend für dieses beeindruckende Farbenspiel am Himmel gesorgt.

Inzwischen war es tiefe Nacht geworden. Die Straßen des kleinen Fischerortes waren menschenleer. Irgendwo bellte ein Hund und ein anderer antwortete mit kurzem Geheul. Der Halbmond verbreitete ein fahles Licht. Und der Wetterbericht hatte tatsächlich recht behalten. Ein kräftiger Nordwestwind trieb Wolkenfetzen über den Deich, die gespenstische Schatten in die ostfriesische Landschaft warfen.

Auf der Cliener Straat schritt eine dunkle Gestalt mit weit ausholenden Schritten in Richtung Neuharlingersiel. Der dunkle lange Umhang und die große, weit über den Kopf gezogene Kapuze hatten etwas Bedrohliches. Es hätte nur noch die Sense über der Schulter gefehlt. Der Gevatter Tod auf dem Weg, sein nächstes Opfer zu holen?

Eben hatte diese furchteinflößende Kreatur die Einfahrt zur Fischerei-Genossenschaft passiert, als sich vom Ortszentrum her schnell der Lichtschein eines Autos näherte. Im nächsten Moment leuchtete das Fernlicht des Autos auch schon die Straße voll aus. Doch niemand war mehr zu sehen. Das Wesen schien plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht doch der Sensenmann?

Das Auto war in Richtung Carolinensiel verschwunden. Der Mond hatte sich für einige Augenblicke hinter einer Wolke versteckt und man sah kaum die Hand vor Augen. Als er wieder sein silbriges Licht über den schlafenden Ort ausbreitete, konnte man schwach erkennen, dass die Gestalt fast schon die Einmündung des Ostenweges erreicht hatte. Was trieb dieses gespensterhafte Wesen?

Kurz darauf verließ die finstere Erscheinung die Straße und näherte sich über die Einfahrt einem Haus. Oben im Giebelfenster über dem Haupteingang flackerte der Schein einer Kerze. Eine Kerze, wie sie früher Mütter und Ehefrauen ins Fenster stellten, damit dem Sohn oder dem Mann auf See oder im Krieg nach Hause geleuchtet werde.

Die Rollläden im unteren Geschoss des Hauses waren alle heruntergelassen. Der Haupteingang lag im Dunkeln. Nur durch das rautenförmige Milchglas in der Haustür war ein wenig diffuses Licht im Inneren mehr zu erahnen, als direkt zu sehen. Das unheimliche Individuum steuerte aber zielstrebig zur Tür an der Seite des Hauses, die als Nebeneingang diente, und drückte die Klinke nieder. Offensichtlich war die Tür nicht verschlossen und die fast mystisch wirkende Person trat ein, ohne zu zögern.

 

***

 

Gerade war Enno Jansen, Decksmann auf dem Kutter von Nanne Gerdes, zu Fuß in die Einfahrt eingebogen. Der fahle Halbmond verschwand wieder hinter einer dunklen Wolke. Das große Wohnhaus seines Käpt’ns lag im Dunkeln und eine Kerze im Giebelfenster leuchtete gespenstisch. Enno lief ein Schauer über den Rücken. Merkwürdig, dachte er, wieso stellt der Käpt’n eine Kerze ins Fenster? Aber bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, bemerkte er für den Bruchteil einer Sekunde die unheimliche Gestalt, die im selben Augenblick auch schon im Seiteneingang des Hauses verschwunden war.

Was war denn das, schoss es Enno durch den Kopf. Wer besucht denn um diese nachtschlafende Zeit meinen Käpt’n? Und dann noch so eine merkwürdige Erscheinung. Durch das Milchglas in der Tür vom Haupteingang sah er gedämpftes Licht im Hintergrund des Hauses. Er wollte schon den Klingelknopf betätigen, da hörte er drinnen eine weibliche Stimme. Es war aber nichts zu verstehen. Sie sprach zu leise, oder die Schalldämmung der Eingangstür war zu gut.

Schließlich klingelte er doch, denn es war eigentlich nicht seine Art, an Türen zu lauschen. Sofort erstarb die Stimme und eine gespenstische Stille breitete sich aus. Enno wollte schon gehen, ihm war irgendwie mulmig, obwohl er eigentlich kein ängstlicher Typ war. Da fragte plötzlich von drinnen die Stimme der Frau seines Chefs: „Wer ist da?“

„Enno. Ich hab was für den Chef.“

„Den hast du gerade verpasst. Der ist heute schon früher zum Boot. Und ich war schon im Bett.“

„Tschuldigung. Dann nehm ich ihm das zum Boot mit. Gute Nacht.“

Enno wusste nicht, was er davon halten sollte. Sah er vielleicht schon Gespenster? Oder hatte die Frau seinen Chefs etwa einen Liebhaber? Das konnte er sich aber beim besten Willen nicht vorstellen. Nicht die Frau seines Käpt’ns. So eine war die nicht. Da war Enno sich eigentlich ganz sicher. Was aber hatte er dann gesehen? Vielleicht einen Einbrecher? Aber mit dem hätte sie dann sicher nicht so leise gesprochen? Sollte er seinem Käpt’n das erzählen?

Was aber, wenn er sich überhaupt geirrt haben sollte? Vielleicht hatte ihm ja das Mondlicht einen optischen Streich gespielt. So etwas konnte einem auf See auch schon mal passieren. Man meinte, etwas gesehen zu haben, was in Wirklichkeit gar nicht da war. Wenn man längere Zeit in das Dunkel gestarrt hatte, musste man sich nicht wundern, wenn plötzlich scheinbar der Klabautermann auf einem Wellenkamm herangeritten kam.

Enno fand keine Antworten auf seine Fragen. Dabei hatte er nicht den Hauch einer Ahnung, welche fatalen Folgen das noch haben sollte. Aber so ist das Leben. Eine an sich harmlose Entscheidung, ja sogar eine Nichtentscheidung, kann manchmal höchst dramatische Ereignisse beeinflussen. Plötzlich ist man Schicksalsgott und weiß es gar nicht.

 

Kapitel 3

 

Seit Ennos Beobachtungen waren inzwischen das Weihnachtsfest und der Jahreswechsel mit einem prächtig geschmückten Bootshafen in Neuharlingersiel auch schon wieder Geschichte. Unzählige Touristen hatten sich wie jedes Jahr an Weihnachtsmarkt und Feuerwerk erfreut. Der Winter war ins Land gegangen und das Frühjahr hatte Einzug gehalten. Es war wieder Granatfischersaison an der ostfriesischen Wattenmeerküste.

Enno war mit seinem Käpt´n nach der Winterpause endlich wieder auf Fangfahrt. „So’n Schiet! Da hat uns wieder mal so ein großer Fremdfischer von der Kabeljau-Connection den besten Fang vor der Nase weggeschnappt und macht uns damit nachher auch noch am Markt die Preise kaputt!“ Nanne Gerdes war stinksauer. Zum dritten Mal hatten sie jetzt ein fast leeres Netz nach oben geholt.

Dabei hätten sie eigentlich schon längst wieder in Richtung Heimat schippern wollen. Schließlich waren sie schon fast die ganze Nacht draußen gewesen und ein Silberstreif am Horizont kündigte bereits den Morgen an. Aber sie hatten noch nicht einmal ihre halbe Fangquote im Kühlraum.

„Vielleicht war das ja aber auch wieder dein Freund, der Holländer“ entgegnete Enno Jansen.

„Hör bloß auf!“, polterte Nanne los. „Daran darf ich gar nicht denken. Dann kriege ich das Kotzen!“

„Hm“, knurrte Enno. Auch er konnte den Holländer nicht leiden, obwohl er gar nicht genau wusste, warum sein Chef eigentlich so sauer auf den war. Es musste da noch etwas anderes sein, als nur die Fanggebiete. Allerdings war es nicht das erste Mal, dass der Holländer in ihrem Revier gewildert hatte und sie sich schon manche Nacht umsonst um die Ohren geschlagen hatten. Dabei gab es ungeschriebene Gesetze unter den Fischern, an die sich auch grundsätzlich alle hielten.

„Nützt nichts, wir müssen noch weiter raus. Sonst haben wir mehr Kosten produziert als eingefahren.“

„Jo“, war die einsilbige Antwort. Zwischen den beiden wurde normal nicht viel geredet, jeder wusste, was er zu tun hatte. Enno hatte schon als junger Bursche bei Nanne angeheuert. Dann hatte er seine Ausbildung zum Fischwirt bei ihm gemacht. Irgendwie war er ihm in den mittlerweile zwölf Jahren ans Herz gewachsen. Und so tuckerten sie schweigend zu den neuen Fanggründen.

Nanne stierte in die Nacht hinaus und seine Gedanken fuhren mit ihm Karussell. Sie drehten sich um Willem de Jong, den holländischen Krabbenfischer, der nach Neuharlingersiel gezogen war und dort Grete Harms – Erbin eines Hotels – geheiratet hatte. Anfangs hatte er sich ganz gut in die Gemeinschaft der Krabbenfischer integriert. Willem und er waren damals sogar fast schon ein wenig befreundet. Auch Grete und Beeke verstanden sich zu der Zeit gut.

Dann hatte Willem eine größere Erbschaft gemacht und seinen alten Kutter gegen den modernsten Kutter, der seinerzeit am Markt zu bekommen war, eingetauscht. Der Kutter war natürlich wesentlich stärker, schneller und im Betrieb kostengünstiger als alle anderen Kutter seiner Kollegen in der Fischerei-Genossenschaft. Und vor allem wollten die vergleichsweise enormen Kapazitäten auch ausgelastet werden.

Zwar gibt es bis heute für die Nordseegarnele, auch Granat genannt, gesetzlich keine Fangbeschränkungen, aber es gibt unter den Fischern ungeschriebene Gesetze, die das Zusammenleben ungemein erleichtern helfen. Das heißt im Grunde nichts weiter, als leben und leben lassen. Und dazu gehört auch das Beschränken auf die eigenen Fanggebiete und vor allem: keine Dumpingpreise!

Willem hatte aber begonnen, um das hohe Leistungsspektrum seines Kutters richtig auslasten zu können, auch in anderen Fanggründen zu räubern. Zur Rede gestellt, hatte er das dann immer auf die - durch Fangquoten nicht mehr ausgelasteten - Hochseefischer mit ihren leistungsstarken großen Pötten geschoben. Als ihn dann die Videoaufnahme der Handykamera eines Kollegen überführt hatte, war es in der Fischerei-Genossenschaft zum Krach gekommen und Willem war daraufhin ausgetreten.

Keiner der Kollegen in Neuharlingersiel wusste, wo er seine Krabben seitdem vermarktete. Man ging davon aus, dass er sie direkt an einen Großabnehmer in Holland verkaufte, wo auch die Hochseefischer ihre Krabbenfänge zu Dumpingpreisen loswurden. Nanne hatte irgendwo sogar Verständnis für die Kollegen von der Hochseefischerei, die sich mit ihren Fängen, zum Beispiel beim Kabeljau, an strenge internationale Auflagen und Quoten zu halten haben. Aber wenn sie denn schon, als Ersatz sozusagen, auf die Krabbenfischerei meinten ausweichen zu müssen, dann sollten sie ihre Fänge doch wenigstens nicht zu Dumpingpreisen verkaufen.

Nanne erinnerte sich noch genau: Im Jahr 2011 hatten alle Krabbenkutter in Neuharlingersiel am Kai gelegen, um gegen das Preisdumping zu streiken. Da war Willem mit erhobenem Mittelfinger in seinem Kutter an ihm vorbeigefahren und war erst nach zwei Wochen wieder im Hafen von Neuharlingersiel zurück gewesen. Darauf angesprochen hatte er hämisch lachend geantwortet: „Einer musste ja die Überbestände abfischen und für ein ausgewogenes Preisniveau sorgen.“

Beinahe wäre es da zwischen ihm und Willem zu einer Schlägerei gekommen, wenn nicht ein paar besonnene Kollegen dazwischengegangen wären. Allein bei dem Gedanken daran kochte bei Nanne das Blut hoch. Voller Wut donnerte seine Faust mit solcher Wucht auf den Kartentisch, dass sogar eine Teetasse herunterhüpfte und zu Bruch ging.

„Is wat, Chef?“

„Nee, Enno!“ Der Angesprochene fegte unaufgefordert die Scherben der Tasse zusammen.

Nanne versuchte, sich abzulenken, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Der Wind hat gedreht.“

„Jo.“

„Nord-West.“

„Hm.“

„Halbe Stunde.“

„Okay.“

Mit dem Ende dieser ausführlichen ostfriesischen Konversation kamen bei Nanne doch wieder die Gedanken zurück. Es gab da noch etwas, was er dem Holländer nie verzeihen würde und was seitdem immer wieder wie ein Stachel in ihm bohrte. Willem hatte beim letzten Hafenfest versucht, seine Beeke anzubaggern. Er selbst hatte einen über den Durst gehabt und war am Tisch eingeschlafen. Irgendwer hatte ihm dann später erzählt, dass Willem mit seiner Beeke sehr lange und sehr eng getanzt habe. Die hatte allerdings immer beteuert, dass da nichts gewesen sei.

Trotzdem konnte er seitdem das Gefühl nicht loswerden, dass Willem immer noch ein Auge auf sie geworfen zu haben schien. Zumal es in der Ehe von Willem und Grete wohl auch mächtig kriselte. Man erzählte sich, dass der Holländer seine Frau mal mit einem Gast aus dem Ruhrgebiet in flagranti erwischt habe, als er überraschend von einer Fangfahrt zurückgekommen war. Grete hatte sich in den darauffolgenden Tagen nur mit einer Sonnenbrille im Ort sehen lassen.

Der blasse Halbmond war inzwischen mehr und mehr hinter Wolken verschwunden.

„Das sieht nicht so gut aus!“, meinte Nanne.

„Nee.“

„Wahrscheinlich kriegen wir auch noch Regen.“

„Hm.“

Als sie kurz darauf ihr neues Fanggebiet erreicht hatten, ging Enno wortlos raus, um die beiden Baumkurren, die speziellen Grundschleppnetze für den Krabbenfang, klarzumachen. Das schätzte Nanne so an ihm, dass er immer genau wusste, was zu tun war. Nach einiger Zeit kam Enno wieder in das Ruderhaus und goss sich eine Tasse Tee ein.

„Na, denn man los, Chef! Schleppen, bis der Arzt kommt!“ Ein Grinsen ging über Nannes sonnengegerbtes Gesicht.

Er war bereits seit seiner Kindheit mit seinem Vater zum Krabbenfischen rausgefahren. Für ihn war das sein Leben. Er brauchte immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel, um sich wohl zu fühlen. Für das Landleben war er nicht gemacht, wie er immer sagte. Und für Enno schien dasselbe zu gelten.

Seinen ersten Kutter hatte Nanne noch von seinem Vater übernommen, der bereits in der fünften Generation Krabbenfischer in Neuharlingersiel gewesen war. Allerdings hatte er den alten Kutter schon bald durch einen neuen ersetzen müssen. Die Beeke, nach dem Namen seiner Frau, war sein ganzer Stolz. Und vor einigen Jahren bereits hatte er die letzte Rate bezahlt gehabt und daher auch die Krise in der Krabbenfischerei im Jahr 2011 ganz gut überstehen können. Was leider nicht auf alle seiner Kollegen an der ostfriesischen Küste zugetroffen hatte, der eine oder andere hatte aufgeben müssen. Trotzdem musste auch er immer wieder in den Kutter investieren und auf seine Kostendeckung achten.

Sein größter Kummer aber war, dass seine Ehe mit Beeke bislang kinderlos geblieben und ihm inzwischen klargeworden war, dass es für ihn keinen Sohn als Nachfolger geben würde. Schließlich hatte er im letzten Jahr seinen Fünfzigsten gefeiert. Und einige von seinen Kumpels, die sein Problem kannten, hatten ihn getröstet, dass auch Charlie Chaplin sogar im hohen Alter noch mal Vater geworden war. Ja, aber bei seiner Beeke, auch wenn man ihr die Mitte vierzig wirklich nicht ansah, tickte die biologische Uhr.

Zudem war er selbst sogar - mehr oder weniger - der Grund für ihre Kinderlosigkeit: zu wenige Spermien, so der Befund der Ärzte. Das hatte er seiner Beeke aber bis heute verschwiegen. Zumal er sich doch mit seinen über einen Meter neunzig immer noch als ganzer Mann fühlte. Auch wenn ihm die meisten seiner ehemals schwarzen Haare bereits abhandengekommen waren. Was er mit einer typischen dunkelblauen, von seiner Frau selbst gestrickten Mütze gut verbergen konnte. Darunter lugte dann ein inzwischen graumelierter Haarkranz hervor.

Seine hellblauen Augen in dem wettergegerbten Gesicht verrieten den versteckten Schalk, der ihm im Nacken saß. Und mit seinem trockenen Humor foppte er gerne seine Umwelt. Zudem verriet die Wölbung seiner Körpermitte, dass er gutem Essen, Bier und Korn nicht abgeneigt war.

In den Wintermonaten, wenn sie sowieso nicht auslaufen konnten, ging auch so mancher steife Grog seine Kehle hinunter. Dabei zitierte er dann gerne den alten Hamburger Schnack: „Rum muss, Zucker darf, Wasser kann." Und so manches Mal war er dann am nächsten Morgen auch ganz schön groggy. Wobei böse Zungen unter seinen Fischerkollegen doch tatsächlich behaupteten, dass die Bezeichnung Grog damit etwas zu tun hätte.

„Enno, geh doch mal raus und guck, ob der Arzt schon da ist“.

„Eh? Was’n für’n Arzt?“

„Na, du hast doch gesagt, schleppen, bis der Arzt kommt. Und jetzt guck doch mal nach, ob er schon da ist.“

„Oh Mann, Chef!“ Enno verzog sich grinsend nach draußen. So kannte er seinen Käpt’n. Aber trotzdem fiel er immer wieder darauf rein.

Inzwischen war es hell, der Wind hatte nachgelassen. Es war etwas diesig geworden und hatte zu nieseln begonnen. Enno machte das Fanggeschirr zum Einholen der Netze klar. Es hatte sich gelohnt, den Fangplatz zu wechseln. Beide Netze waren voll mit feinstem Granat.

Da sie bereits Netze mit Vornetz verwendeten, war der größte Teil des Beifanges bereits herausgefiltert und schwamm wieder putzmunter in der Nordsee umher. Sehr zum Leidwesen der ständig dem Kutter folgenden Möwen.

Jetzt kam auf Enno richtig Arbeit zu. Die Netze mussten direkt in den Krabbenkocher entleert und der restliche Beifang rausgesammelt werden. Dann wurden die Krabben sofort in Seewasser gekocht und danach über ein Transportsystem direkt in den Kühlraum geleitet.

„Na, Enno, noch einmal so einen Fang und die Heimat ruft. Das reicht dann auch. Bei solchem Schietweer macht das wirklich keinen Spaß hier draußen.“

„Dat maaks woll seggen, Chef.“

Inzwischen hatte der Wind wieder aufgefrischt und es hatte richtig zu regnen begonnen. Ein für Ostfriesland durchaus typisches Frühjahrswetter. Daher ließ sich Enno davon auch wenig beeindrucken und verrichtete routiniert seine Arbeit.

Für Nanne war er inzwischen schon fast so etwas wie der eigene Sohn geworden. Deshalb sollte er auch sein Nachfolger werden. Darüber war er sich mit Beeke inzwischen einig. Denn es gab weder in Beekes noch in seiner Verwandtschaft jemanden, der sich für die Granatfischerei interessiert hätte. Sie hatten das für seinen Todesfall sogar schon testamentarisch beim Notar geregelt. Das hatte er Enno auch schon vor einiger Zeit gesagt.

Der Junge stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war früh verstorben und seine Mutter hielt sich - neben Harz IV - mit ein paar kleinen Putzstellen mehr schlecht als recht über Wasser. Warum sollte Ennos Fleiß und seine Zuverlässigkeit nicht belohnt werden, wenn die Welt sonst schon immer so ungerecht zu sein schien. So jedenfalls sahen das Nanne und seine Frau. Natürlich hätten sich die Erben im Verwandtenkreis der beiden darüber gefreut, eines Tages auch noch das Geld vom Kutterverkauf zu bekommen. Aber am Hungertuch nagte von denen keiner.

Der nächste Fang war sogar noch besser als der vorhergehende und sie hatten jetzt fast zwei Tonnen feinster Nordseekrabben in ihrem Kühlraum. Der Regen peitschte immer noch heftig gegen die Scheiben des Ruderhauses und der Kutter tuckerte gegen die tanzenden Wellen in Richtung Heimat. Enno hatte frischen Tee eingegossen und beide hingen ihren Gedanken nach.

Enno träumte davon, wie er eines Tages den Kutter von seinem Chef übernommen haben würde und selbst als Käpt’n mit einem Decksjungen auf Fangfahrt wäre. Aber da würde er sich sicher noch etliche Jahre gedulden müssen, bis sein Chef in den Ruhestand gehen und ihm den Kutter übertragen würde. Denn Nanne Gerdes dachte noch gar nicht daran, jetzt schon als Frührentner zur Landratte zu werden.

Wie das manchmal so in Dörfern geht, am Ende hatte keiner sagen können, wo das Gerücht seinen Anfang genommen hatte. Jedenfalls hatte es sich unter den Fischern inzwischen rumgesprochen, dass Enno Jansen den Kutter mal erben sollte. Ein Decksjunge beerbt seinen Käpt’n. Das passierte ja nun wirklich nicht alle Tage und rief auch Neider auf den Plan. Für den einen oder anderen Kumpel am Biertisch Grund genug für einige makabre Gedankenspiele. Enno lief ein Schauer über den Rücken, wenn er nur daran dachte.

„Mensch Enno, wie lange willst du denn noch auf dein Erbe warten? Mann, auf See kann doch immer mal was passieren. Da kann man doch nachhelfen. Käpt’n über Bord! Und schon bist du der Käpt’n“, hatte vor kurzem Lars Bordersen laut in den Schankraum gebrüllt. Sie hatten alle schon reichlich Bier und Korn intus gehabt. Lars hatte sich über seinen eigenen Witz gebogen vor Lachen. Enno hatte nicht darüber lachen können.

Nanne kamen unterdessen wieder die Gedanken über seine Beeke. Gedanken, die er früher mit seinem sonnigen Gemüt sofort verdrängt hätte. Eifersucht? War eigentlich immer ein Fremdwort für ihn gewesen. Doch irgendetwas hatte sich verändert. Er spürte es genau. Beeke und Willem? Aber ausgerechnet Willem?

Manche Menschen glauben daran: Gedanken werden Realität. Und bei diesen beiden Fischern? Dabei sollte es ihre letzte gemeinsame Fangfahrt gewesen sein. Aber davon hatte keiner von beiden auch nur den Hauch einer Ahnung.

 

Kapitel 4

 

Ubbo de Buer schritt mit langen Schritten die Cliener Straat in Richtung Carolinensiel entlang. Der Morgen dämmerte bereits über die Deichkrone hinweg und es hatte zu nieseln begonnen. Die Kapuze seines Umhanges hatte er tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem fragte sich sicher mancher Autofahrer, der die Gestalt mit dem langen schwarzen Lodenumhang erkannt hatte, was Ubbo, der Schäfer, um diese Zeit auf der Landstraße suchte.

Ubbo schien das in diesem Moment völlig egal zu sein. In Gedanken war er immer noch bei seinem geliebten Schwänchen. Es hätten mal wieder leidenschaftliche Stunden werden sollen. Aber wie sagt es schon der Volksmund so treffend: „Leidenschaft ist das, was Leiden schafft.“ Seine Wünsche waren nicht Realität geworden. Obwohl er eigentlich zu denen gehörte, die fest daran glaubten.

Entsprechend bitter waren seine Überlegungen heute Morgen. Seine Swantje war verheiratet und das war das Problem. Und so konnten sie ihre Leidenschaft nur in aller Heimlichkeit ausleben. Zu einer Trennung von ihrem Mann könne sie sich noch nicht entschließen. Dafür brauche sie einfach noch Zeit. Und schließlich: „Was sollen denn die Leute denken!“, hatte sie immer wieder auf sein Drängen gesagt. „Uns kennt doch hier jeder!“ Da hatte sie allerdings recht. Trotzdem hätte er sie am liebsten ganz für sich alleine in seiner Schäferei gehabt.

Voller Vorfreude war er mitten in der Nacht zu ihrem Haus gelaufen, um mit seinem Schwänchen ein Schäferstündchen verbringen zu können. Doch die Tür war heute verschlossen gewesen und er hatte sogar klingeln müssen. Erst nach einer ganzen Weile hatte sie die Tür geöffnet.

„Wir sind doch nicht verabredet?“, war ihre Begrüßung gewesen.

„Schwänchen, aber ich hatte so eine Sehnsucht. Wo ist denn dein Verlangen, deine Leidenschaft geblieben?“, hatte er sie gefragt.

„Eine gute Frage. Mein Mann hat in der letzten Zeit einige wichtige zukunftsträchtige Entscheidungen getroffen. Was mich auch in gewisser Weise dazu veranlasst hat, über einiges nachzudenken.“

„Hast du dich denn jetzt endlich entschieden, dich von deinem Mann zu trennen?“, hatte er seinem Sehnen Ausdruck verliehen.

Umso mehr hatte ihn ihre Antwort ins Mark getroffen: „Das ist ja gerade das Problem. Ich kann mich nicht so einfach von meinem Mann trennen und dann zu dir in die Schäferei ziehen.“

„Warum nicht? Sollen sich doch die Leute das Maul zerreißen, so viel sie wollen. Mir ist das scheißegal, was die Leute denken“, war sein letzter Hoffnungsfunke gewesen.

„Mir aber nicht!“

„Liebes, wir haben doch uns. Was interessieren uns da die Anderen?“ Er hatte nicht aufgeben wollen.

Umso niederschmetternder war ihre Antwort gewesen: „Ubbo, wir sind beide hier geboren und haben gemeinsam unsere frühe Kindheit hier verbracht. Du bist dann nach der Grundschule auf das Internat nach Oldenburg und später zum Studium nach Hamburg und Berlin gegangen. Da magst du sicher vieles anders sehen. Aber ich war mein Leben lang hier in Neuharlingersiel. Hier habe ich meine Verwandten und meine Freunde. Und das sind zum größten Teil auch die Freunde meines Mannes. Das hier ist meine Welt. Und in dieser Welt soll ich dann täglich Spießruten laufen?“

„Wieso täglich Spießruten laufen. Die Menschen sind doch so was von vergesslich.“

„Aber bei genau so was nämlich nicht, mein Lieber!“, hatte sie erwidert.

„Ich denke da gerade an eine damalige Klassenkameradin von uns, die Jule“, hatte er versucht einzuwenden. „Da haben die Leute auch gemunkelt, dass sie ein Verhältnis hat. Du hast mir das sogar selbst erzählt, Schwänchen. Und nachdem im vorletzten Jahr ihr Mann bei einem Unfall ums Leben kam, hat sich auch niemand darüber aufgeregt, als sie dann zu ihrem Lover gezogen ist.“

„Da war sie Witwe! Und das mit dem Verhältnis war ja schließlich auch nur ein Gerücht gewesen. Da ist schon ein Unterschied, wenn man sich von seinem Mann trennt, um dann, auch noch im gleichen Ort, zu dem Geliebten zu ziehen. Das ist dann für jeden offensichtlich. Da zeigen dann die Leute mit dem Finger auf einen. Gerade wenn man eine Frau ist!“

Ein Argument, dem er nur entgegenzusetzen gehabt hatte: „Ach Liebes, mach doch nicht alles so kompliziert! Komm, zünde den Kamin und die Kerzen an und lass uns ein paar liebevolle und zärtliche Stunden miteinander verbringen. Dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Er hätte gar nicht sagen können, wie lange sie hin und her diskutiert hatten. Bis sie schließlich einen endgültigen Schlussstrich gezogen hatte: „Nein, Ubbo! Ich brauche erst einmal etwas Abstand und Zeit, um zu mir selbst zu kommen. Diese Heimlichtuerei ertrage ich auch nicht auf Dauer“, hatte sie ihn kühl abserviert.

Und dann noch hinzugefügt: „Außerdem muss ich mir selbst erst einmal über meine tatsächlichen Gefühle im Klaren werden. Und dazu brauche ich, wie gesagt, zunächst etwas Abstand und Zeit. Und bis ich mir darüber im Klaren geworden bin, was ich als Frau selbst eigentlich wirklich will, werden wir uns vorerst nicht mehr heimlich treffen.“

Ubbo war wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Und während er die Zufahrt zu seiner Schäferei entlangging und ihm die Windböen den Nieselregen ins Gesicht peitschten, wurde es in seinem Kopf immer klarer. Jedenfalls war das seine Wahrnehmung. Plötzlich waren sie wieder da. Die Bilder von seiner Mutter. Sie wurden Bestandteil seiner ganz persönlichen realen Wirklichkeit. Er hatte es nur nicht sehen wollen. Auf einmal stand für ihn fest, er würde eine Entscheidung treffen müssen. So oder so.