Schaufenster von Mary Quants Boutique „Bazaar“, London
DER MINIROCK
DIE REVOLUTION
DIE MACHER
DIE IKONEN
Der Mini ist gekommen,
um zu bleiben.
Die ersten Supermodels: Peggy Moffitt und Twiggy in Faltenminis, 1966
IN MEINEM SCHRANK hängt ein Minikleid meiner Mutter, das ich vor Jahren auf dem Speicher gefunden habe. Sie hat es lange bevor ich geboren wurde in einer Boutique namens „Klamotte“ in Frankfurt gekauft. Das war 1968, sie war 21 Jahre alt und hatte zuvor als Au-Pair in London gearbeitet. Dort hatte sie die Mädchen auf der King’s Road und Carnaby Street mit ihren kurzen Röcken gesehen, die Beatles gehört – und gewusst, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor. Die Tristesse der Nachkriegsjahre war vorbei, eine neue Jugendbewegung geboren. Der Mini war da.
Als sie – zurück in Deutschland – ihr erstes eigenes Geld verdiente, fuhr sie nach Frankfurt und kaufte das Kleid. Es ist hauteng, superkurz und knallbunt – orange mit glänzenden Silberfäden durchzogen und blauen, gelben und grünen Blumenapplikationen. Man muss das Kleid nur ansehen, um zu verstehen, dass es damals um mehr ging als nur um Mode. Die Modemacher wollten die Frauen befreien und die Gesellschaft verändern. Meine Mutter, damals Sekretärin, wollte ihre Eltern schockieren und an einem neuen Lebensgefühl teilhaben. Sie trug nur mehr kurz. Und das Kleid, das knapp ihren Po bedeckte, wie selbstverständlich auch im Büro. Ich würde es heute bestenfalls zu einer Party über einer Hose anziehen. Für mich ist der Mini keine Rebellion mehr, sondern Realität. Das verdanke ich der Generation meiner Mutter.
BEIM MINI HANDELT es sich laut Wikipedia „um einen sehr kurzen Rock, der mindestens zehn Zentimeter über dem Knie endet“. Doch als die Boutiquenbesitzerin Mary Quant in London und der Couturier André Courrèges in Paris die ersten Röcke abschnitten, galten ihre Entwürfe bereits als Revolution und ihre Röcke als Mini, obwohl sie die Beine gerade mal bis zum Knie zeigten. Mit der Zeit wanderten die Säume dann immer weiter nach oben. Als Mini wurde jeder Rock bezeichnet, der mindestens das Knie und maximal den Po entblößte.
Das englische Königshaus legte die zulässige Rocklänge am Hofe bereits Mitte der 60er Jahre auf sieben Zentimeter über dem Knie fest. Doch obwohl Lady Diana sich mit ihrem schwarzen Kostümrock, den sie 1987 zum Deutschlandbesuch bei Richard von Weizsäcker trug, überkorrekt an diese Regel hielt, schrieb damals die britische Modekritikerin Suzy Menkes: „Wenn man die zukünftige Königin ist, darf man seine Kleider nicht so kurz tragen, dass die Männer auf der Straße pfeifen.“
SELBSTVERSTÄNDLICH IST der Mini also nicht. Das merkte ich auch, als ich mit meinen Kolleginnen Tina Schraml und Lena Elster vor zwei Jahren für einen Magazinartikel über den Minirock recherchierte. Wir stellten fest, dass es kaum Material gab. Dass niemand genau zu wissen schien, wer, wann den Mini erfunden hat. Dass der Mini, der die Mode und die Frauen wie kein anderes Kleidungsstück geprägt hat, noch nie Thema eines Buchs gewesen ist. Das wollten wir ändern.
DAFÜR HABEN WIR Modemacher befragt, Kostüm- und Fotoarchive durchforstet, englische und deutsche Zeitungsartikel von den 60er Jahren bis heute gesichtet, Hunderte von alten französischen, amerikanischen und englischen Ausgaben der „Vogue“ durchgeblättert, Zitate und Fakten über den Mini und seine Macher gesammelt.
ALS YVES SAINT LAURENT 2008 während unserer Recherchen starb, wussten wir, dass „Der Minirock“ nicht nur das erste Buch über den Mini sein würde, sondern wahrscheinlich auch das Letzte. Auf jeden Fall das Letzte, in dem seine Schöpfer zu Wort kommen.
André Courrèges, Jahrgang 1923, konnte uns kein Interview mehr geben, weil er zu krank ist. Wir trafen seine Frau Coqueline im Atelier von „AC“ (André & Coqueline) in der Pariser Rue François 1er. Sie empfing uns mit demselben Kampfgeist, der auch ihre Mode auszeichnete, und in einer kurzen weißen Latzhose. Mary Quant, Jahrgang 1934, musste zwei Tage vor dem verabredeten Termin wegen einer Hüftoperation ins Krankenhaus. Als wir sie vier Wochen später in London trafen, ging sie noch am Stock. „Aber in zehn Tagen kommt das Ding weg, dann tanze ich wieder im Mini durch die Gegend“, sagte sie. Wir glaubten es ihr.
AUF DIE FRAGE, wer den Mini erfunden hat – Quant oder Courrèges – und wer bei wem abgeguckt hat, gibt es mehr als eine Antwort, wie in den Interviews in diesem Buch deutlich wird. Fakt ist: Mary Quant hat Ende der 50er Jahre für die Mädchen auf Londons Straßen die ersten Minis geschneidert. Da die Rocklängen sich ständig veränderten, der Prozess also fließend war, ist eine exakte Geburtsstunde für den Mini nicht festzumachen. 1959 endeten Quants Rocksäume definitiv über dem Knie. Zur selben Zeit planten André und Coqueline Courrèges ihr eigenes Modehaus, von wo der Mini an tanzenden Models die Haute Couture erobern sollte.
SEIT FÜNF JAHRZEHNTEN zeigt der Mini nun die Beine der Frauen, begeistert die Männer und inspiriert Designer auf der ganzen Welt. Und seither scheidet er die Gemüter, in manchen Ländern ist er bis heute verboten. In „Der Minirock“ zeigen wir seine Vielfalt, erspüren seinen Geist und befragen seine Zeitzeugen. Erstmals wird die lange Geschichte des kurzen Kleidungsstücks von seinen Anfängen über seine vielfältigen Revivals bis heute ausführlich beschrieben und bebildert. Dieses Buch ist eine Reise durch 50 Jahre Minimode – spannend, sexy und unterhaltsam.
ES WAR HÖCHSTE ZEIT den Mini zu feiern, mit den besten Bildern, den schönsten Anekdoten und den berühmtesten Designern. Wir bedanken uns bei allen, die dieses Buch unterstützt und bereichert haben. Ganz besonders bei André und Coqueline Courrèges, bei Mary Quant, Paco Rabanne, Barbara Hulancki und Zandra Rhodes. Ohne ihre Hilfe hätte es dieses Buch nicht gegeben. Ohne sie hinge in meinem Schrank kein hautenges, superkurzes und knallbuntes Kleid. Ohne sie hätte es den Mini nicht gegeben.
Bianca Lang, 2008
Beinfreiheit, Sittenverfall,
Emanzipation,
Verbot, Protest,
Jugendbewegung,
Subkultur, Straßenkampf,
Sexuelle Befreiung
Frauen vom „Britischen Verein zur Erhaltung des Minirocks“ vor einer Dior-Filiale in London, 1966
„ES TOBT EINE SCHLACHT, Madame“, sagte die Modereporterin vom „Daily Express“, „und das Schlachtfeld sind ihre Beine.“ Es ist das Jahr 1969, die Presse kommentiert die Pariser Schauen und sucht nach Erklärungen für das modische Chaos, das sich abspielt: Hosen, Midi-Röcke und Maxi-Kleider laufen dem Bestseller der ausklingenden Dekade den Rang ab. Der Minirock verliert die Alleinherrschaft über die Pariser Laufstege und zeigt sich gleichzeitig in seiner bisher extremsten Form: dem Micro-Mini.
Zu Beginn des Jahrzehnts hatte der Kampf um die Beinfreiheit der Frauen auf der Straße begonnen. Während die französischen Couturiers ihrer Kundschaft weiterhin damenhafte Eleganz auf den Leib schneiderten, entstand in London ein neues Lebensgefühl. Erstmals in der Geschichte schuf eine Jugendbewegung eine Gegenkultur, mit der sie das Establishment nicht nur herausforderte, sondern auch für immer verändern sollte. „Es waren die Mods, die den Wandel im Modegeschäft vorantrieben und damit einer alles verändernden Revolution den Weg ebneten“, sagt Mary Quant. Die englische Designerin gehörte damals selbst zu den „Modernists“, die sich im Londoner Stadtteil Chelsea eine Subkultur schufen. In Stilfragen waren die konsumfreudigen Mods kosmopolitisch: italienische Anzüge, Vespas, Espressi, amerikanische Jazzmusik und französische Filme mixten sie zu einem neuen Lifestyle. Die Wirtschaftswunderjahre nach dem Zweiten Weltkrieg hatten eine frühreife und finanzkräftige Generation hervorgebracht, die nicht widerspruchslos in die gesellschaftliche Rollenverteilung hineinwachsen wollte. Im Gegenteil, sie wollten gar nicht erwachsen werden.
Die Kinderstube des Minis war Mary Quants „Bazaar“. Die ehemalige Kunststudentin eröffnete 1955 zusammen mit ihrem späteren Mann Alexander Plunket Greene ihre Boutique in der Londoner King’s Road. Da die 21-Jährige bei den Großhändlern nur klassische Damenmode fand, begann sie ihren eigenen Look zu entwerfen. Die schlichten Hängekleider aus Jersey im Schulmädchen-Stil wurden schnell zur Uniform der Mods und das Chelseagirl schon bald zum Synonym für einen neuen Frauentypus. Jung, lässig und selbstbewusst bewegten sich diese Frauen durch das Swinging London der beginnenden 60er Jahre. „Wenn ich die Röcke nicht kürzer gemacht hätte, hätten die Chelsea-Girls die Scheren gezückt und sie selbst abgeschnitten“, sagt Mary Quant. Der Mini sei nicht das Werk eines Designers, „sondern das der Mädchen auf der Straße“.
NICHT DER KURZE Rock war neu, es waren seine Trägerinnen. Die jungen Frauen nahmen ihr Leben selbst in die Hand. Seit 1960 ermöglichte die Pille den Frauen einen ungezwungeneren Umgang mit Sex und auch finanziell standen immer mehr auf eigenen Beinen. Nachdem die „Vogue“ 1963 erstmals die Minikleider von Quant veröffentlicht hatte, erklärte Ernestine Carter von der „Sunday Times“ das Jahr zum „Year of the Legs“. Und am 13. Oktober 1963 begann nach einem Auftritt in der Fernsehsendung „Sunday Night at the London Palladium“ die „Beatlemania“. London pulsierte. Eine Riege junger, unkonventioneller Designer und Unternehmer eröffnete rund um die King’s Road und Carnaby Street Boutiquen, Cafés und Clubs und machte ihr Lebensgefühl zu einem boomenden Geschäft.
„DER LOOK VON HEUTE kommt von unten“, sagte der britische Fotograf Cecil Beaton. „Das Mädchen aus der Arbeiterklasse hat Geld in der Tasche und kann genauso chic sein wie die Debütantin am Hofe.“
Der Mini war zunächst das Markenzeichen der von außen misstrauisch beäugten Chelsea-Kultur, bis die Beatmusik ihm den Durchbruch in den Mainstream brachte. In „Ready Steady Go“, einer der ersten Musikshows, die das britische Fernsehen ab 1963 ausstrahlte, wurde die 23-jährige Moderatorin Cathy McGowan im Mini zum Idol der britischen Jugend. Als „Queen of the Mods“ kämpfte McGowan an vorderster Front für ihren Look – und gründete den „Britischen Verein zur Erhaltung des Minirocks“, da der Sender ihr Auftritte in Minikleidern verbieten wollte. Obwohl der Mini eng an die englischen Schuluniformen angelehnt war, sorgte er damals für hitzige Diskussionen überall im Land. Nachdem Prinzessin Margaret ihn ins Königshaus eingeführt hatte, musste auch die Queen Stellung beziehen. 1965 legte sie die zulässige Rocklänge am Hofe auf sieben Zentimeter über dem Knie fest. Außerhalb der Hofetikette wurden die Röcke jedoch immer kürzer. Englische Schulen begannen die Saumlänge zu reglementieren. Wer im Minirock zum Unterricht kam, wurde erst einmal vom Klassensprecher vermessen: Bei einer Größe von 1,75 Metern durfte der sichtbare Teil vom Knie aufwärts immerhin 16,5 Zentimeter betragen.
AUCH IN PARIS