Buch

Eigentlich ist Gerrard Debbington Landschaftsmaler und eingefleischter Junggeselle, denn er glaubt, die Liebe zerstöre sein Talent. Bis er zähneknirschend zustimmen muss, die junge Jacqueline Tregonning zu porträtieren. Gerrard ist sofort hingerissen von der jungen Frau. Doch schreckliche Gerüchte kursieren um Hellebore Hall, und Jacqueline steht unter einem furchtbaren Verdacht – jetzt setzt Gerrard alles daran, seine zauberhafte Lady zu schützen …

Autorin

Stephanie Laurens begann mit dem Schreiben, um etwas Farbe in ihren wissenschaftlichen Alltag zu bringen. Ihre Bücher wurden bald so beliebt, dass sie ihr Hobby zum Beruf machte. Stephanie Laurens gehört zu den meistgelesenen und populärsten Liebesromanautorinnen der Welt und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einem Vorort von Melbourne, Australien.

Von Stephanie Laurens bereits erschienen

Verheißungsvolle Küsse · In den Armen des Eroberers · Der Liebesschwur · Gezähmt von sanfter Hand · In den Fesseln der Liebe · Nur in deinen Armen · Nur in deinen Küssen · Küsse im Mondschein · Küsse im Morgenlicht · Verführt zur Liebe · Was dein Herz dir sagt)

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Stephanie Laurens

Hauch der Verführung

Roman

Deutsch von Ute-Christine Geiler

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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »The Truth about Love« bei William Morrow, an imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

Copyright der Originalausgabe © 2005 by Savdek Management Proprietory Ltd
Published by Arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollinsPublishers.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Jutta Ressel
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung eines Motivs von RomanceNovelCovers.com
und shutterstock.com
DN · Herstellung: kw
E-Book-Produktion: VRH

ISBN: 978-3-641-25257-1
V003

www.blanvalet.de

Für Merilyn Bourke, meiner langjährigen Freundin, Autorenkollegin und erstklassigen Kritikerin in Dank und Liebe, S.L.

1

London, Anfang Juni 1831

»Mr. Cunningham, wie ich bereits unmissverständlich klargemacht habe, hege ich kein wie auch immer geartetes Interesse, ein Porträt von Lord Tregonnings Tochter anzufertigen.« Gerrard Reginald Debbington lehnte elegant-lässig in einem Polstersessel im Rauchsalon des exklusiven Herrenklubs, dessen Mitglied er war. Seine wachsende Erbitterung zügelnd erwiderte er den Blick von Lord Tregonnings Mittelsmann. »Ich habe diesem Treffen hier zugestimmt in der Hoffnung auf Lord Tregonnings Einwilligung, mir Zugang zu den Gärten von Hellebore Hall zu gewähren, obwohl er von meiner Ablehnung seines Wunsches nach einem Porträt erfahren hat.«

Er war schließlich der bekannteste Landschaftsmaler seiner Zeit; Lord Tregonnings berühmte Gärten waren längst überfällig für einen Besuch eines Künstlers von seinem Rang und Namen.

Cunningham erbleichte. Er räusperte sich, blickte auf die Papiere, die auf einem kleinen Tischchen zwischen ihnen lagen.

Um sie herum füllte diskretes Stimmengemurmel die Luft, das nun jäh verstummte; Gerrard nahm aus dem Augenwinkel wahr, dass sich der eine oder andere Kopf zu ihnen umdrehte. Andere Klubmitglieder erkannten ihn, doch als sie Cunningham bemerkten und dass es um etwas Geschäftliches ging, verzichteten sie darauf, sich einzumischen.

Cunningham war Mitte zwanzig und somit ein paar Jahre jünger als der neunundzwanzigjährige Gerrard. Sein nüchtern schwarzer Rock über praktischem Leinen und einer bisquitfarbenen Weste sowie die konzentrierte Aufmerksamkeit, die er seinen Papieren schenkte, wiesen ihn eindeutig als geschäftlichen Vertreter von jemandem aus.

Als Cunningham schließlich zu einer Antwort ansetzte, hatte Gerrard im Kopf eine Skizze fertig mit dem Titel:

»Unterhändler bei der Arbeit«.

»Lord Tregonning hat mich angewiesen, Ihnen auszurichten, dass er Ihre Vorbehalte verstehen kann, ja, dass es Sie ehrt, keinen Auftrag für ein Porträt einer Person annehmen zu wollen, die Sie noch nicht gesehen haben; doch gerade diese Vorbehalte bestärken ihn nur in seiner Überzeugung, dass Sie genau der Künstler sind, den er für diese Aufgabe benötigt. Seine Lordschaft hat begriffen, dass Sie seine Tochter so malen werden, wie Sie sie sehen, ohne irgendwelche Ausschmückungen oder Verschönerungen. Und genau das wünscht er – er möchte, dass das Porträt eine wahrheitsgetreue Wiedergabe ist, eine Darstellung von Miss Tregonning, wie sie leibt und lebt.«

Gerrard presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.

Ohne aufzusehen, fuhr Cunningham fort: »Zusätzlich zu dem angebotenen Honorar können Sie sich innerhalb eines Zeitraumes von einem Jahr so viel Zeit lassen, wie Sie es für notwendig erachten, um das Gemälde fertigzustellen. Während dieser Zeit haben Sie dann auch uneingeschränkten Zugang zu den Gärten von Hellebore Hall und die Erlaubnis, sie nach Belieben zu zeichnen. Sollten Sie es wünschen, können Sie auch einen Freund oder Begleiter mitbringen; Sie beide werden für die Dauer Ihres Auftrags auf Hellebore Hall untergebracht.«

Gerrard zügelte seine Ungeduld. Er musste das Angebot nicht noch einmal hören, egal, wie reizvoll verpackt es war; er hatte es vor zwei Wochen ausgeschlagen, als Cunningham ihn zum ersten Mal angesprochen hatte.

Er fing Cunninghams Blick auf. »Ihr Arbeitgeber ist Opfer eines Missverständnisses geworden. Ich male meine Bilder nicht im Auftrag, das habe ich in der Tat noch nie getan. Malen ist eine liebe und interessante Beschäftigung für mich, mein Steckenpferd sozusagen, dem nachzugehen ich reich genug bin. Porträtmalerei hingegen übt bestenfalls eine flüchtige Faszination auf mich aus. Ich mag darin erfolgreich sein, aber sie fesselt mich nicht, sie lässt meine Künstlerseele kalt, wenn Sie so wollen.«

Das stimmte zwar nicht ganz, aber unter den gegenwärtigen Umständen würde es gewiss durchgehen. »Ich wäre entzückt über die Gelegenheit, die Gärten von Hellebore Hall zu malen; doch ist dieser Wunsch nicht stark genug, um mich zu der Einwilligung zu bewegen, ein Porträt anzufertigen, das zu malen ich keine Lust und keine Veranlassung habe.«

Cunningham erwiderte seinen Blick. Er holte verkrampft Luft, schaute kurz auf seine Papiere, dann hob er den Kopf und betrachtete einen Punkt irgendwo oberhalb von Gerrards linker Schulter. »Seine Lordschaft hat mich beauftragt, Sie in diesem Fall darüber zu informieren, dass dieses sein letztes Angebot sein wird … und dass er sich, sollten Sie ablehnen, gezwungen sieht, einen anderen Maler zu beauftragen. Und diesem anderen Maler wird dasselbe Angebot unterbreitet wie Ihnen, die Erlaubnis, die Gärten zu malen, eingeschlossen. Weiterhin wird Lord Tregonning dafür Sorge tragen, dass zu seinen Lebzeiten und denen seiner direkten Erben kein anderer Künstler Zugang zu den Gärten von Hellebore Hall erhalten wird.«

Gerrard verkniff sich jede äußerlich sichtbare Reaktion und blieb sitzen, was seiner ganzen, wahrhaftig beträchtlichen Selbstbeherrschung bedurfte. Was, zum Teufel, führte Tregonning im Schilde, dass er sich sogar auf Erpressung verlegte?

Er schaute weg, starrte blicklos ins Leere.

An einer Sache bestand kein Zweifel: Lord Tregonning war wild entschlossen, seine Tochter von Gerrard porträtieren zu lassen.

Er stützte sich mit einem Ellbogen auf die Stuhllehne, biss die Zähne zusammen und legte das Kinn in die Hand, richtete den Blick auf die gegenüberliegende Wand und suchte nach einem möglichen Weg aus der geschickt gestellten Falle. Ihm fiel nichts ein; seine heftige Abneigung, dass irgendein stümperhafter Porträtmaler der einzige Künstler sein sollte, dem es gestattet war, die fabelhaften Gärten und Landschaften rund um Hellebore Hall zu malen, beeinträchtigte seine Fähigkeit, klar zu denken.

Er schaute Cunningham an. »Das muss ich mir in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

Berücksichtigte man seinen knappen Ton, mit dem er das sagte, war es kein Wunder, dass Cunningham sich um eine ausdruckslose Miene bemühte. Der Agent nickt einmal. »Ja, natürlich. Wie lange etwa …?«

»Vierundzwanzig Stunden.« Wenn er sich länger mit dieser Sache herumschlug, würde er verrückt werden. Er erhob sich und streckte seine Hand aus. »Sie sind im Cumberland untergekommen, richtig?«

Hastig schob Cunningham seine Papiere zusammen, stand auf und ergriff die Hand. »Ja. Äh … ich erwarte Ihre Nachricht.«

Gerrard nickte knapp. Er blieb neben dem Stuhl stehen, bis Cunningham gegangen war, ehe er ihm folgte.

Er spazierte durch die Parks der Hauptstadt – St. James, Green Park, dann durch den Hyde Park. Eine unheilvolle Entscheidung; seine Stiefel hatten kaum den Rasen berührt, als ihn auch schon Lady Swaledale rief, die ihn dringend ihrer Tochter und ihrer Nichte vorstellen wollte. Eine Traube von Matronen mit jungen Damen im Schlepptau, die sich mit strahlenden Augen umsahen und hofften, seine Aufmerksamkeit zu erregen, lehnten sich daraufhin aus ihren Kutschen oder suchten mehr oder weniger unauffällig seine Nähe, paradierten über die Rasenfläche.

Als er seine Tante Minnie – oder besser Lady Bellamy – erspähte, deren Kutsche auf dem Fahrweg an den Rand gefahren war und dort wartete, entschuldigte er sich und befreite sich geschickt aus den Klauen einer besonders hartnäckigen Mama mit dem Hinweis, er müsse seiner Tante seine Aufwartung machen. Sobald er die Kutsche erreicht hatte, fasste er Minnies Hand mit eleganter Geste und küsste sie. »Ich stelle mich deinem Mitgefühl anheim. Rette mich!«, flehte er.

Minnie lachte leise. Sie tätschelte ihm die Hand und beugte sich vor, um ihm ihre faltige Wange hinzuhalten, die er pflichtschuldig küsste. »Wenn du dich endlich entscheiden würdest, mein Lieber, würden Sie dich in Ruhe lassen und einem anderen nachstellen.«

»Nicht, dass wir wollten, dass du überstürzt deine Wahl triffst«, schaltete sich Timms ein, Minnies Gesellschafterin, und lehnte sich vor, um ihm ihre Hand zu reichen. »Aber solange du ungebunden bleibst, musst du damit rechnen, von ehrgeizigen Mamas und ihren Töchtern verfolgt zu werden.«

Gerrard bedachte sie mit einem Gesichtsausdruck gespielter Betroffenheit. »Et tu, Timms?«

Timms stieß damenhaft die Luft aus. Sie war mit den Jahren hagerer geworden, doch mit ihrem Verstand war alles in Ordnung.

Und mit Minnies nicht minder; sie betrachtete ihn scharfsinnig und voller Zuneigung. »Dass du nun einmal mehr als wohlhabend bist, ein schönes Stück Land besitzt, die Cynsters dich an ihren Geschäften beteiligen und du zu allem Überfluss auch noch mein Haupterbe bist, lässt sich nun einmal nicht abstreiten, mein Junge. Wärst du hässlich wie die Nacht, würden sie vielleicht zögern, aber so wie es nun einmal ist, bist du als gefeierter Künstler aus vornehmer Familie nicht schlichtweg der wahr gewordene Traum fast jeder Mutter für ihre Tochter.«

Gerrard war sein Abscheu anzusehen. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt an einer Ehe interessiert bin – zumindest was die nähere Zukunft anbetrifft.«

Das war zurzeit seine Meinung, die er allerdings bislang noch niemandem mitgeteilt hatte.

»So?« Minnie riss die Augen auf. Einen Augenblick war sie ernst und betrachtete suchend sein Gesicht, dann kehrte ihr Lächeln langsam wieder zurück. »Ich an deiner Stelle würde mir deswegen nicht den Kopf zerbrechen, mein Lieber.« Sie tätschelte ihm wieder die Hand. »Wenn dir die Richtige begegnet, ist alles mit einem Mal sonnenklar.«

Timms nickte weise. »Allerdings. Es macht keinen Sinn, sich einzubilden, dass du dabei etwas zu entscheiden hättest.«

Das beruhigte ihn nicht unbedingt, sondern versetzte ihn eher in Sorge. Doch diese Gefühle verbarg er hinter einem Lächeln. Dann entdeckte er eine Gruppe Freunde und ergriff die Gelegenheit zum Rückzug. Er verabschiedete sich von Minnie und Timms und schlenderte über den Rasen davon.

Die vier Herren grüßten ihn. Er kannte sie; wie er waren sie in heiratsfähigem Alter und lebten in ähnlichen Verhältnissen. Sie standen ein wenig abseits, betrachteten das Feld.

»Das Curtiss-Mädchen ist ganz reizend, was?« Philip Montgomery hob sein Monokel, um die Schöne besser beobachten zu können, die mit ihren beiden Schwestern über einen Weg schritt.

»Insofern du das Gekicher aushältst«, erwiderte Elmore Standish. »Meiner Ansicht nach kommt die Kleine von Etherington eher in Frage.«

Gerrard hörte nur mit halbem Ohr auf ihre Kommentare; er gehörte zu ihrer Gesellschaftsschicht, aber mit seinem ungewöhnlichen Talent, der Malerei, unterschied er sich von ihnen. Dadurch hatte er etwas erkannt, was seine Standesgenossen erst noch begreifen mussten.

Er ließ ein paar eher zynische Bemerkungen fallen, dann ging er weiter, zog sich in die verhältnismäßig sicheren Kensington Gardens zurück. Zu der Zeit tummelten sich dort die Kindermädchen, die über ihre herumtollenden Zöglinge wachten. Nur wenige Herren ließen sich hier blicken; und kaum eine Dame der vornehmen Gesellschaft begab sich freiwillig hierher.

Gerrard hatte vor, über Lord Tregonnings empörendes Angebot nachzudenken, doch das Geschrei, das Lachen und Kreischen der Kinder lenkte ihn ab, brachte ihn auf ganz andere Gedanken.

Familie. Kinder. Die nächste Generation. Eine Frau. Eine gute Ehe.

Das alles, hatte er früher immer gedacht, würde er eines Tages haben; und es bedeutete ihm immer noch viel. Es war etwas, das er sich wünschte. Dennoch hatte ihm das Malen – besonders von Porträts – die Augen geöffnet. Das Talent, das es ihm ermöglichte, so atemberaubende Kunstwerke zu erschaffen, hatte ihm Vorsicht eingeflößt.

Vorsicht vor einer Ehefrau. Vorsicht vor der Ehe. Und vor allem vor der Liebe.

Es war nichts, worüber er gerne sprach; allein der Gedanke an Liebe reichte aus, dass er sich unbehaglich fühlte, fast so, als würde er damit das Schicksal herausfordern. Doch was er erkannt hatte – und was ihn gefesselt hatte –, als er das Bild von seiner Schwester Patience mit ihrem Ehemann Vane Cynster gemalt hatte, und auch später bei den anderen Paaren, die ihm Modell gesessen hatten, worauf er reagiert hatte und was er auf die Leinwand hatte bannen wollen, war so nachhaltig, dass er blind sein müsste, um nicht zu begreifen, welche Wirkung das auf sein Leben haben könnte: ihn beeinträchtigen, ihn ablenken. Vielleicht sogar die schöpferische Energie schwächen, die er brauchte, um seinen Werken Leben einzuhauchen.

Wenn er sich dieser Macht auslieferte.

Wenn er sich je verliebte, wäre er dann noch in der Lage zu malen? Würden das Verliebtsein und eine Liebesheirat, wie es seine Schwester und so viele andere seiner weiteren Familie getan hatten, ein Quell der Freude sein oder ein künstlerisches Desaster bedeuten?

Wenn er malte, gab er alles, was in ihm war, für das Kunstwerk – seine ganze Schaffenskraft, seine Leidenschaft; wenn er die Liebe zuließe, würde sie ihn austrocknen und sein Talent behindern? Gab es da eine Verbindung – war die Leidenschaft der Liebe dieselbe wie die, die hinter seiner Malerei stand? Oder waren das zwei ganz verschiedene Dinge?

Er hatte lange und scharf nachgedacht, war aber auf keine beruhigende Lösung gekommen. Malen war ein untrennbarer Teil von ihm; jede Intuition, die er besaß, ließ ihn heftig davor zurückscheuen, etwas zu tun, das seine Fertigkeiten einschränken könnte.

Daher zögerte er, wenn es ums Heiraten ging. Machte im Geiste einen Schritt zurück. Ungeachtet, was Timms meinte, er hatte diese Entscheidung für sich getroffen, und wenigstens für die nächsten paar Jahre war Liebe ein Gefühl, dem er besser aus dem Weg gehen wollte. Und daher sah er am Horizont seines Lebens im Augenblick auch keine Ehe.

Dieser Entschluss hätte ihn eigentlich beruhigen müssen, aber stattdessen war er rastlos, unzufrieden. Nicht wirklich versöhnt mit seiner Entscheidung.

Aber egal, einen anderen vernünftigen Weg konnte er nicht sehen.

Als er sich wieder auf seine Umgebung konzentrierte, bemerkte er, dass er stehen geblieben war und auf eine Schar Kinder schaute, die am Teich spielten. Es juckte ihn in den Fingern, ein vertrautes Gefühl. Er brauchte einen Stift und Papier. Er blieb noch ein paar Minuten und sah ihnen zu, prägte sich das Bild ein, ließ es in sein bildhaftes Gedächtnis sinken, bevor er weiterging.

Dieses Mal gelang es ihm, sich in Gedanken mit Lord Tregonnings Angebot zu befassen. Das Für und Wider zu erwägen. Wünsche, Intuitionen und die daraus folgenden Impulse bewirkten, dass er wie ein Fähnchen im Wind erst in die eine Richtung schlug, dann in die andere. Er kam an die Brücke über die Serpentine und versuchte, die Argumente zu ordnen.

In drei Stunden hatte er nichts erreicht bis auf die Erkenntnis, wie meisterhaft Tregonning ihn durchschaut hatte. Er konnte den Vorschlag nicht mit einem anderen Künstler diskutieren; und seine anderen Freunde würden nicht zu begreifen vermögen, wie hin- und hergerissen er sich fühlte.

Er musste mit jemandem reden, der das verstehen konnte.

Es war beinahe fünf Uhr, als er die Stufen zu Vane und Patience Cynsters Stadthaus in der Curzon Street emporstieg. Patience war seine ältere Schwester. Seine Eltern waren gestorben, als er noch ein Kind war, und Patience war jahrelang eher so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn gewesen als eine Schwester. Als sie Vane heiratete, war Gerrard herzlich in die Familie Cynster aufgenommen worden und zu Vanes Schützling avanciert. Dass er der Mann geworden war, der er war, beruhte zu großen Teilen auf dem Einfluss der Cynsters, etwas, wofür er zutiefst dankbar war.

Sein eigener Vater war kein zufriedenstellendes Vorbild gewesen; den Cynsters verdankte Gerrard nicht nur seinen finanziellen Erfolg, sondern auch seine Eleganz, seine unerschütterliche Selbstsicherheit und den Anflug von selbstverständlicher Arroganz, durch den er und die Cynsters sich von anderen Herren der guten Gesellschaft unterschieden.

Auf sein Klopfen öffnete ihm Bradshaw, Vanes Butler, die Tür, schenkte ihm ein herzliches Lächeln und versicherte ihm, dass Vane und Patience zu Hause und gegenwärtig im rückwärtigen Salon zu finden seien.

Gerrard wusste, was das bedeutete. Er reichte Bradshaw seinen Stock und erklärte: »Danke, ich finde den Weg alleine.«

»Wie Sie wünschen.« Bradshaw kämpfte mit einem Grinsen, während er sich artig verbeugte.

Gerrard hörte das Geschrei, bevor er die Tür zum Salon öffnete. Sobald er das jedoch getan hatte, wurde es völlig still. Drei Köpfe fuhren herum, schauten ihn vorwurfsvoll an, ehe seine Neffen und seine Nichte erkannten, wer es wagte, ihre Spiele zu unterbrechen.

Wie kleine Dämonen erwachten sie aus ihrer Starre. Sie kreischten in ohrenbetäubender Lautstärke: »Onkel Gerrard!« – und stürzten sich auf ihn.

Lachend schnappte er Christopher, den Ältesten, und zog ihn an den Beinen in die Höhe. Christopher schrie schrill vor Freude; lachend hüpfte Gregory neben ihnen auf und ab. Therese kam dazu. Nachdem er Christopher zu dessen Entzücken gründlich durchgeschüttelt hatte, setzte Gerrard ihn ab und ging in die Knie, brummte wie ein gefährlicher Unhold und breitete die Arme aus, um die beiden Jüngeren hochzuheben.

Ohne sie loszulassen, ging er zu der Chaiselongue vor dem Kamin.

Aus dem Ohrensessel daneben lächelte Patience ihn liebevoll an, ihren jüngsten Sohn Martin auf dem Schoß.

Auf die hohe Lehne ihres Sessels stützte sich ein grinsender Vane, der bis zu Gerrards Eintreffen mit den drei Älteren getobt hatte. »Was führt dich denn zu uns? Sicher doch nicht die Aussicht, von unseren drei Hausungeheuern an den Haaren gezogen zu werden, oder?«

Seine bis eben peinlich ordentlich frisierten Locken vorsichtig aus dem Griff der Kleinen befreiend, erwiderte Gerrard das Grinsen seines Schwagers. »Ach, ich weiß nicht.« Damit lud er die beiden Kinder auf der Chaiselongue ab und setzte sich zwischen sie. Er schaute von einem zum anderen.

»Sie haben schon einen besonderen Reiz, nicht wahr?«

Die Kinder krähten vergnügt und nutzten die Gelegenheit, ihn mit Geschichten über ihre jüngsten Abenteuer zu überfallen. Er hörte ihnen interessiert zu, war wie immer fasziniert von ihrer unschuldigen, unverdorbenen Sicht auf die alltäglichen Ereignisse. Aber schließlich ermüdeten sie. Die beiden Jungs saßen zusammengesunken rechts und links neben ihm; Therese gähnte, rutschte von der Chaiselongue und kletterte auf den Schoß ihres Vaters.

Vane hauchte einen Kuss auf ihre weichen Locken und rückte die Kleine zurecht, dann schaute er Gerrard an. »Also, was ist? Dich beschäftigt doch etwas.«

Gerrard lehnte sich zurück; dann berichtete er von Lord Tregonnings Angebot.

»Also, ihr seht selbst, ich sitze in der Falle. Ich will auf keinen Fall das Porträt malen. Seine Tochter wird sich zweifellos als der übliche hoffnungslos verzogene Strohkopf erweisen, oder, schlimmer noch, daran gewöhnt sein, als Königin in ihrem bäuerlichen Reich zu herrschen. Es wird nichts zu malen geben als hohlen Eigennutz.«

»Vielleicht ist sie ja gar nicht so schlimm«, erwiderte Patience.

»Es ist hochwahrscheinlich, dass sie sogar noch schlimmer ist.« Er seufzte. »Ich bereue den Tag, an dem ich es erlaubt habe, dass die Bilder der Zwillinge ausgestellt werden.«

Von frühester Jugend an hatte er Landschaften gemalt. Und das machte er immer noch am liebsten – dazu fühlte er sich hauptsächlich berufen. Aber vor etwa zehn Jahren hatte er sich mehr aus Neugier daran versucht, Porträts von Paaren zu malen. Vane und Patience waren die Ersten gewesen, die er gebeten hatte, für ihn Modell zu sitzen; dieses Gemälde hing über dem Kamin im Salon ihres Landhauses in Kent, wo es der Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Danach hatte er noch andere Paare gemalt, alles Verwandte oder gute Bekannte, aber die Bilder hatten immer nur in Privaträumen gehangen. Sein Ehrgeiz und die ständige Suche nach neuen Herausforderungen hatten ihn jedoch weiter getrieben. Nachdem er jedes Paar der Familie auf der Leinwand verewigt hatte, hatte er beschlossen, die Cynster-Zwillinge zu porträtieren, Amanda, die nun die Countess von Dexter war, und Amelia, die Viscountess von Calverton, wie sie jeweils ihren erstgeborenen Sohn auf dem Schoß hielten.

Eigentlich hatten die Gemälde in den Salons ihrer Landhäuser aufgehängt werden sollen, aber die Mitglieder der guten Gesellschaft, die die Bilder sahen, solange sie noch in London waren, hatten so viel Aufhebens um sie gemacht, dass die Hüter der Royal Academy ihn am Ende praktisch angefleht hatten, sie in der jährlichen Ausstellung zu zeigen. Die Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte, hatte ihm geschmeichelt, und so hatte er sich überreden lassen.

Was er seitdem bereute.

Vane musterte ihn mit amüsierter Zuneigung. »Es ist schon hart, so erfolgreich zu sein, oder?«

Gerrard schnaubte abfällig. »Ich sollte dich zu meinem Agenten erklären und es dir überlassen, mit der Horde Matronen fertig zu werden, von denen jede Einzelne felsenfest davon überzeugt ist, dass ihre Tochter das perfekte Modell für mein nächstes berühmtes Porträt abgibt.«

Patience schaukelte Martin auf ihren Knien. »Es ist doch nur ein Bild.«

Gerrard schüttelte den Kopf. »So kann man das nicht sehen. Es ist ein großes Risiko – ein neues Modell auszuwählen. Im Moment ist mein Ruf gefestigt. Aber ein wirklich schreckliches Porträt könnte ihn schädigen. Davon einmal abgesehen, weigere ich mich schlichtweg, mich den Erwartungen meines Modells zu beugen oder ihrer Eltern. Das bedeutet, dass Lord Tregonning und seine reizende Tochter vermutlich enttäuscht sein werden.«

Die Kinder wurden unruhig. Patience erhob sich, als das Kindermädchen in den Salon spähte; sie winkte die stattliche Frau zu sich und schaute ihre Kinder an. »Es ist Zeit für euren Tee. Heute Abend gibt es Brotpudding, vergesst das nicht, ja?«

Gerrard musste sich ein Lächeln verkneifen, als die Aussicht auf Brotpudding den Wunsch, bei ihm zu bleiben, ausstach. Beide Jungs ließen sich vom Sofa gleiten und verabschiedeten sich höflich. Therese, der man vom Schoß ihres Vaters geholfen hatte, warf ihm eine Kusshand zu, ehe sie losrannte, um vor ihren Brüdern an der Tür zu sein.

Patience reichte dem Kindermädchen das Baby, dann schloss sie hinter ihren Kindern die Tür und kehrte zu ihrem Sessel zurück. »Was quälst du dich so damit herum? Lehne das Angebot Seiner Lordschaft doch einfach ab.«

»Das ist es ja gerade.« Gerrard fuhr sich aufgebracht mit den Fingern durchs Haar. »Wenn ich ablehne, verliere ich nicht nur jegliche Chance, jemals selbst den berühmten Garten der Nacht zu malen, sondern sorge auch noch dafür, dass der einzige andere Künstler, dem das in den nächsten fünfzig Jahren oder so erlaubt wird, irgendein stümperhafter Porträtmaler sein wird, der vermutlich gar nicht erkennt, was er da vor sich hat.«

»Und was ist das?«, erkundigte sich Vane, erhob sich und ging zu einem anderen Stuhl. »Was ist denn so Besonderes an den Gärten?«

»Die Gartenanlage um Hellebore Hall wurde ursprünglich 1710 entworfen.« Gerrard hatte die Fakten recherchiert, nachdem Cunningham ihn zum ersten Mal angesprochen hatte. »Die Landschaft dort ist einzigartig – ein schmales geschütztes Tal, das sich nach Südwesten erstreckt und somit ein ganz eigenes Klima hat. Das Wetter ist so mild, dass dort die phantastischsten Blumen und Bäume gedeihen, die sonst nirgendwo in England zu finden sind.

Das Haus liegt am Kopf des Tales, das bis zur See reicht. Die Entwürfe wurden von vielen betrachtet und erregten zu ihrer Zeit großes Aufsehen. In den folgenden dreißig Jahren etwa wurden die Gärten dann angelegt, doch die Familie lebte inzwischen sehr zurückgezogen. Nur wenige Leute haben die Gärten daher nach ihrer Fertigstellung zu Gesicht bekommen.« Er sah Patience an. »Die paar, die sie anschauen durften, waren begeistert.

Landschaftsmaler wünschen sich seit Jahrzehnten, die Gärten malen zu dürfen, aber niemand hat bislang die Erlaubnis erhalten.« Es zuckte um seine Lippen, und er schaute zu Vane. »Das Tal und die Gärten liegen auf Privatgrund, und die Küste ist an der Stelle sehr felsig und gefährlich, sodass sich nie die Alternative angeboten hat, sie heimlich zu betreten und zu skizzieren.«

»Jeder Landschaftsmaler in England …«

»Und auf dem Kontinent und sogar in Amerika.«

»… würde begeistert zugreifen, wenn sich ihm die Gelegenheit eröffnete, die Gärten zu malen.« Vane hielt den Kopf schief. »Meinst du wirklich, dass du dir die Chance entgehen lassen willst?«

Gerrard atmete scharf aus. »Nein. Das ist genau mein Problem. Besonders wenn ich an den Garten der Nacht denke.«

»Was ist mit dem?«, fragte Patience.

»Die Gärten bestehen aus verschiedenen Bereichen, von denen jeder nach einer Gottheit oder einem mythischen Wesen der Antike benannt ist. Da gibt es den Garten des Herkules, der separat auf einem Felsrücken liegt und viele besonders hohe Bäume aufweist; dann einen Garten der Artemis mit in Tierform gestutzten Büschen und so weiter.

Einer ist der Garten der Venus. Dort wachsen Pflanzen mit aphrodisischer Wirkung, stark duftende Blumen, von denen einige nachts blühen. Dort befinden sich auch eine Grotte und ein Teich. Er wird von dem Bach gespeist, der durch das Tal fließt, und liegt direkt unterhalb des Hauses. Durch eine Laune der Natur ist dieser Teil verwildert. Ein Glückspilz, der ihn etwa zehn Jahre, nachdem er angelegt wurde, sehen durfte, hat ihn als düster-romantisches Paradies bezeichnet – eine dunkle Landschaft, die alle anderen in den Schatten stellt. Dieser Teil wurde als Garten der Nacht bekannt.«

Gerrard machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Für einen Landschaftsmaler ist, den Garten der Nacht zu malen, wie den heiligen Gral zu finden. Er ist da, aber seit Generationen außer Reichweite.«

Vane verzog das Gesicht. »Eine schwierige Entscheidung.«

Gerrard nickte. »Sehr – es ist wie die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Wie ich mich auch entscheide, ich verliere immer.«

Patience blickte vom einen zum anderen. »Genau genommen ist die Entscheidung doch ganz einfach.« Sie schaute Gerrard in die Augen. »Du musst dich nur zwischen dem Risiko, ob dein Talent der Aufgabe gewachsen ist, ein vernünftiges Porträt dieser jungen Dame zu malen, und der Chance, deinen heiligen Gral zu sehen zu bekommen, entscheiden.«

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Oder, um es anders auszudrücken – wie sehr wünschst du dir, den Garten der Nacht zu malen? Genug, um dich der Herausforderung zu stellen, ein anständiges Porträt von Miss Tregonning zu schaffen?«

Gerrard erwiderte ihren direkten Blick, sah ihr in die grauen Augen. Nach einem Moment schaute er wieder zu Vane. »Schwester!« Vane lachte nur.

Auch nachdem Patience ihm die nackten Tatsachen, zwischen denen er seine Wahl zu treffen hatte, unverblümt auf gezeigt hatte, hätte er am Ende abgelehnt, wenn nicht der Traum gewesen wäre. Den Abend verbrachte er mit Patience und Vane, plauderte mit ihnen über dies und das; als er Patience in der Eingangshalle ihres Hauses eine gute Nacht wünschte, küsste sie ihn auf die Wange und flüsterte ihm zu: »Tu, was du tun willst. Scheue das Risiko nicht.«

Er lächelte, tätschelte ihr die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Dabei überlegte er weiter, erwog alle Möglichkeiten, begann sich Gedanken zu machen, wie er am besten von einem eitlen, flatterhaften Dummchen ein Porträt anfertigen könnte, ohne offen beleidigend zu werden.

Er erreichte seine Räume in der Duke Street, stieg die Treppe empor zu seinem Schlafzimmer. Sein Kammerdiener Compton eilte an seine Seite, um ihm beim Ablegen seines Rockes behilflich zu sein, und brachte das gute Stück dann zum Ausbürsten weg. Gerrard musste grinsen, zog sich aus und fiel ins Bett.

Und träumte vom Garten der Nacht.

Er hatte ihn nie gesehen, aber er schien ihm so echt, so farbenfroh, betörend und faszinierend dunkel. So voller dramatischer Energie, die ihn als Künstler am meisten lockte. Dort gab es Gefahr und Aufregung, einen Hauch von Bedrohung und etwas noch tiefer Greifendes, etwas noch Unheimlicheres, das in den Schatten lauerte.

Es rief nach ihm. Wisperte verführerisch.

Am Morgen wachte er auf, und die verlockenden Bilder seines Traumes waren noch frisch in seinem Gedächtnis.

Er glaubte nicht an Omen.

Er stand auf, schlüpfte in Hose und Hemd, warf sich seinen Samtmorgenmantel über und begab sich nach unten. Wichtige Entscheidungen mit leerem Magen zu treffen zeugte nie von Klugheit.

Gerade als er begonnen hatte, sich an Schinken und Eiern zu bedienen, ertönte ein Klopfen an der Eingangstür. Er erkannte den Besucher am Rhythmus und schenkte sich rasch noch Kaffee ein – bevor der Ehrenwerte Barnaby Adair ihm alles wegtrinken konnte.

Die Zimmertür flog auf. »Gütiger Himmel!« Barnaby, ein hoch gewachsener, elegant gekleideter Gentleman mit goldblondem Haar und einem gespielt gehetzten Gesichtsausdruck trat ein. »Mögen die Heiligen mich vor allen vernarrten Müttern bewahren!« Sein Blick fiel auf die Kaffeekanne. »Ist noch etwas da?«

Lächelnd bedeutete Gerrard ihm, sich zu bedienen, während Compton sich beeilte, noch ein Gedeck aufzulegen. »Bitte.«

»Danke – du bist mein Retter.« Barnaby ließ sich auf den Stuhl neben Gerrard sinken.

Gerrard betrachtete ihn mit Zuneigung und Belustigung. »Dir auch einen guten Morgen. Was verstört dich denn so? War Lady Harringtons Ball zu aufregend für dich?«

»Nicht Harrington.« Barnaby schloss die Augen, genoss den Kaffee. »Sie ist in Ordnung.« Er öffnete die Augen und beäugte die Schüsseln und Teller auf dem Tisch. »Es waren Lady Oglethorpe und ihre Tochter Melissa.«

»So!« Gerrard fiel die Verbindung wieder ein. »Die alte Freundin deiner lieben Frau Mama, die gehofft hatte, du wärest so entgegenkommend und würdest ihrer reizenden Tochter die Stadt zeigen?«

»Eben die.« Barnaby nahm einen Bissen von seinem Toast. »Kennst du die Geschichte vom hässlichen Entlein? Nun, bei Melissa ist es umgekehrt.« Gerrard lachte.

Barnaby und er waren etwa gleich alt, besaßen ein ähnliches Temperament und hatten einen vergleichbaren Hintergrund. Sie besaßen fast die gleichen Vorlieben und Abneigungen, beide gaben sich in ihrer Freizeit exzentrischen Beschäftigungen hin. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wie es dazu gekommen war, dass sie die Stadt gemeinsam unsicher machten, aber in den vergangenen fünf Jahren hatten sie eine Reihe von Abenteuern miteinander durchgestanden und fühlten sich in der Gesellschaft des anderen inzwischen sehr wohl. Sie suchten einander ohne Vorbehalte auf, wenn sie irgendwie Hilfe brauchten.

»Da wird mir nichts anderes übrig bleiben«, erklärte Barnaby, »als aus London zu flüchten.«

Gerrard grinste. »So schlimm kann es doch gar nicht sein.«

»Doch. Ich sage dir, Lady Oglethorpe ist nicht auf der Suche nach einem Begleiter für ihre Tochter. Sie hat ein Funkeln in den Augen, dem ich misstraue. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, hat die schreckliche Melissa auch noch die Hände vor dem Busen zusammengeschlagen – nicht, dass der Busen so übel wäre, aber der Rest ist eben hoffnungslos. Und sie beteuert, dass meine werte Person ihrem Ideal sehr nahe käme und dass kein anderer Gentleman der guten Gesellschaft mir das Wasser reichen könne.« Barnaby schnitt eine schreckliche Grimasse. »Das war dann doch ein bisschen zu stark aufgetragen, wie der Pater sagen würde – mir war ganz übel. Und es ist ja erst Juni – wissen sie denn nicht, dass die Jagdsaison vorbei ist?«

Gerrard betrachtete seinen Freund nachdenklich. Barnaby war der dritte Sohn eines Earls und hatte einen ansehnlichen Besitz von einer Tante mütterlicherseits geerbt; wie Gerrard war er die Lieblingsjagdbeute für Mütter, die ihre Töchter unter die Haube bringen wollten. Gerrard konnte – und tat das auch – wenigstens das Malen vorschieben, um dem Gros der Einladungen zu entgehen, doch Barnabys Steckenpferd, sich mit Kriminalfällen zu befassen, war im Allgemeinen eine wesentlich weniger akzeptierte Zerstreuung.

»Ich nehme an«, überlegte Barnaby laut, »ich könnte meine Schwester besuchen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es bei ihr nicht auch gefährlich wird.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wenn sie die Oglethorpes über den Sommer einlädt …« Er erschauerte.

Gerrard lehnte sich zurück und griff nach seiner Kaffeetasse. »Wenn du wild entschlossen bist, vor der schrecklichen Melissa zu fliehen, solltest du mit mir nach Cornwall kommen.«

»Cornwall?« Barnaby blinzelte erst verwirrt, dann wurden seine blauen Augen weit. »Was gibt es denn in Cornwall?«

Gerrard erzählte es ihm.

Barnaby hob interessiert den Kopf.

»Aber vergiss nicht«, gab Gerrard zu bedenken, »da wird wenigstens eine unverheiratete junge Dame anwesend sein, und wo eine ist …«

»Da sind gewöhnlich noch mehr.« Barnaby nickte. »Bis jetzt bin ich ja mit allem fertig geworden – nur Melissa, ihre Mutter und die Verbindung zu meiner Familie beunruhigen mich so sehr.«

Die Beunruhigung war offenbar kurzlebig – oder appetitanregend. Jedenfalls widmete sich Barnaby ganz dem Verzehr des letzten Würstchens, dann schaute er Gerrard erwartungsvoll an. »Also, wann brechen wir auf?«

Gerrard erwiderte seinen Blick. Patience hatte recht, auch wenn er das niemals zugeben würde. »Ich werde Tregonnings Mittelsmann heute gleich schreiben. Ich muss noch Material besorgen und mich darum kümmern, dass alles andere hier in Ordnung ist. Sagen wir Ende nächster Woche?«

»Ausgezeichnet!« Barnaby hob seine Tasse zum Toast, leerte sie, dann griff er nach der Kanne. »Bis dahin kann ich mich bestimmt verstecken.«

Zwölf Tage später lenkte Gerrard seine Kutsche zwischen zwei abgenutzten Steinpfosten hindurch, die Schilder zur Einfahrt von Hellebore Hall erklärten.

»Es ist jedenfalls ein gutes Stück Weg von London.« Barnaby lehnte entspannt neben ihm in den Polstern, schaute sich aber trotzdem neugierig und interessiert um.

Sie waren letzte Woche von London aufgebrochen in einem Phaeton, vor den Gerrard sein Paar Graue gespannt hatte. In Gasthöfen, die ihnen gefielen, waren sie zur Mittagszeit und am Abend eingekehrt.

Die Auffahrt, eine Fortsetzung der Straße, in die sie von der Landstraße nach St. Just und St. Mawes eingebogen waren, säumten alte, knorrige Bäume mit dichtem Laub. Die Felder auf der anderen Straßenseite waren von mannshohen Hecken umgeben. Das Gefühl, sich in einem lebendigen Korridor zu befinden, eine abwechselnd braune und grüne Collage, wurde übermächtig. Zwischen den Spitzen der Hecken und den überhängenden Ästen konnten sie flüchtig das Meer sehen, das silbrig unter dem strahlend blauen Himmel schimmerte. Vor ihnen und zu ihrer Rechten war der Meeresarm in der Ferne von Landzungen begrenzt, ein Klecks aus Olivtönen, Lila und Rauchgrau im Licht der frühen Nachmittagssonne.

Gerrard kniff geblendet die Augen zusammen. »Meinen Berechnungen nach müsste der Meeresarm dort Carrick Roads sein. Falmouth liegt gleich davor.«

Barnaby blickte hinüber. »Die Stadt ist zu weit weg, als dass man sie erkennen könnte, aber es sind auf jeden Fall viele Segelboote dort.«

Das Land war abschüssig; die Straße folgte, wand sich langsam nach Süden und dann nach Westen. Sie konnten das Meer nicht mehr sehen, als der Fahrweg nach St. Mawes von rechts die Auffahrt kreuzte. Dann brach plötzlich die Baumreihe am Wegesrand ab – sie wirkten wie riesige Wächter – und sie fuhren in den Sonnenschein.

Beide Männer hielten den Atem an.

Vor ihnen lag eine dieser unregelmäßig geformten Buchten, die sich oft dort finden, wo ursprünglich einmal ein Tal gewesen ist, das durch den Anstieg des Meeresspiegels überflutet worden war. Zu ihrer Rechten erstreckte sich der St. Mawes-Arm der Halbinsel Roseland, ein wirksamer Schutz vor Nordwinden. Zu ihrer Linken erhob sich das rauere Heideland des südlichen Armes, sodass der Wind auch von Süden abgehalten wurde. Die Pferde trotteten weiter, und die Aussicht änderte sich wieder, als der Weg zum Meer hin noch weiter abfiel.

Er führte sie durch abschüssige Felder, dann tauchten ein steiles Dach und spitze Giebel auf, zwischen ihnen und dem blaugrünen Wasser des Meeresarms. Einen weiten abschüssigen Bogen beschreibend verlief die Auffahrt am Haus entlang, das sich nun majestätisch vor ihnen erhob – und dann wieder zurück, um auf einem mit Kies bestreuten Platz an der Vorderseite des Gebäudes zu enden.

Als sie der letzten Wegbiegung gefolgt waren, zügelte Gerrard seine Pferde; weder er noch Barnaby hatte auf dem abschließenden Wegstück ein Wort gesprochen. Das Haus war exzentrisch, fabelhaft – wunderbar. Es gab zahllose Türmchen, etliche Balkone mit schmiedeeisernen Geländern und seltsam geformten Stützpfeilern, Fenster aller Art und faszinierende Erker in den grauen Steinmauern.

»Von dem Haus hast du gar nichts gesagt!«, bemerkte Barnaby, als die Pferde stehen blieben und sie nicht länger stumm das Anwesen anstarren konnten.

»Weil ich von dem Haus nichts wusste«, verteidigte sich Gerrard. »Ich habe immer nur von den Gärten gehört.«

Die Gärten befanden sich rechts und links sowie in dem Tal, das sich unterhalb des Herrenhauses zum Meer hin öffnete; sie schienen das phantastische Gebäude schier zu umarmen. Der Hauptteil lag jedoch hinter dem Haus verborgen. Am oberen Ende des Landschaftseinschnittes thronte das Herrenhaus. Fast wie ein Hüter versperrte es alle Sicht auf das Tal selbst sowie auf die dort befindlichen Gartenanlagen.

Gerrard stieß den Atem aus, den er unwillkürlich angehaltenen hatte. »Kein Wunder, dass es niemandem gelungen ist, unbemerkt zum Malen hineinzuschlüpfen.«

Barnaby bedachte ihn mit einem belustigten Blick und stieg aus, während Gerrard die Zügel dem herbeigeeilten Stallburschen reichte. Er folgte seinem Freund, und zusammen gingen sie zur Tür, hinter der die schattige Eingangshalle von Hellebore Hall sie erwartete.

Jacqueline Tregonning saß im Empfangssalon von Hellebore Hall und hörte die Geräusche, auf die sie gewartet hatte – das Klappern von Hufen, das Knirschen von Kies unter den Kutschrädern.

Keiner der anderen, die sich in dem geräumigen Salon versammelt hatten, schien etwas vernommen zu haben. Sie waren alle zu sehr mit Spekulationen beschäftigt, wie die Besucher wohl sein würden, die gerade eingetroffen waren.

Jacqueline zog es vor, sich derartigen Überlegungen nicht hinzugeben – nicht wenn sie die Gäste mit eigenen Augen sehen konnte, um sich eine Meinung zu bilden.

»Sie sind vermutlich arrogant, sagt meine Cousine.« Mrs. Elcott verzog abschätzig das Gesicht. »Ich könnte mir denken, dass sie sich für etwas Besseres halten.«

»Stimmt«, pflichtete ihr Lady Fritham bei. »Aber wenn sie auch nur halb so wohl erzogen sind, wie Ihre Ladyschaft behauptet, dann sind sie sicher nicht eingebildet. Merk dir, was ich sage.« Lady Fritham nickte bedeutungsvoll, wobei ihr Doppelkinn beeindruckende Bewegungen vollführte und die Bänder ihres Häubchens lustig wippten. »Das Kennzeichen eines wahren Gentleman zeigt sich in der Mühelosigkeit, mit der er sich in jeder Umgebung zu bewegen weiß.«

Nicht, insofern man unbezähmbare Neugier nicht als ausreichenden Grund durchgehen ließ.

Langsam und vorsichtig trat Jacqueline ans Fenster. Ungeachtet, was ihr Vater, Mitchel Cunningham oder der Künstler meinten – eigentlich war sie es, die einen Gefallen gewährte. Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie für ihn sitzen würde, und würde das auch nicht tun, bevor sie sich ein Bild von dem Mann gemacht hatte, von seinem Können und vor allem auch von seiner Integrität.

Es gab keine andere Möglichkeit.

Zuerst musste sie herausfinden, welcher von den beiden Männern er überhaupt war. Derjenige, der nicht fuhr? Ein Herr mit blondem Haar sprang leichtfüßig von der Kutsche, blieb stehen und warf dem anderen lachend eine Bemerkung zu; er saß noch auf dem Kutschbock und hielt die Zügel locker in einer Hand.

In der Sekunde, in der sich der Gedanke in ihr formte, fiel ihr auf, wie merkwürdig es war, dass sie das wahrnahm. Männliche Schönheit beschäftigte sie nur selten. Dann schaute sie erneut hin und musste sich eingestehen, dass sich das Aussehen der beiden nur schwer ignorieren ließ.

Und da hatte sie ihre Antwort. Er war der Maler. Er war Gerrard Debbington.

Diese Intensität hatte beinahe etwas Schockierendes. Sie hatte sich innerlich für die Begegnung mit einem modischen Gecken oder eitlen Gockel gewappnet, aber dieser Mann war ganz anders.

Und sie geradewegs anschaute.

Im Gegensatz zu ihr drängten sie sich dicht ans Fenster.

Gerrard musterte die Gesichter, die neugierig aus dem Fenster auf den Vorhof starrten. Er machte eine angedeutete Verbeugung und wandte sich ab; und wich dabei dem Blick der allein für sich stehenden Frau hinter dem anderen Fenster aus, das dichter am Hauseingang lag. Zu Barnaby gewandt erklärte er: »Hat den Anschein, als würden wir erwartet.«

Gerrard nickte. »Läute, bitte.«

Gerrard wandte den Kopf und schaute die Frau noch einmal an. Sie verharrte völlig reglos, was ihm verriet, dass sie meinte, er könne sie nicht sehen. Von einem Fenster hinter ihr fiel jedoch Licht in den Salon, schräg gegenüber von der Stelle, wo sie stand; daher war sie im Grunde kaum mehr als eine Silhouette zu erkennen. Immerhin war sie klug genug, das auch zu wissen.

Nur ihr Gesicht.

Diese Dame hingegen … die konnte er malen. Er wusste es sofort, ein Blick genügte. Obwohl er ihre Züge nicht klar erkennen konnte, hatte Sie etwas Besonderes an sich; es lag eine Ruhe, eine Tiefe und Komplexität hinter dem blassen Oval ihres Gesichtes, das seine Aufmerksamkeit fesselte.

Die Eingangstür öffnete sich, und er kehrte ihr notgedrungen den Rücken zu. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, grüßte und wurde begrüßt. Cunningham war herausgekommen. Gerrard schüttelte ihm die Hand, befand sich in Gedanken jedoch ganz woanders.

»Das hier ist Treadle«, stellte Cunningham den Butler vor, der sich verbeugte. »Und dies ist Mrs. Carpenter, die Haushälterin.«

Gerrard lächelte. »Danke, das ist sehr freundlich.« Der Charme seines Lächelns zeigte seine übliche Wirkung; Mrs. Carpernters Züge entspannten sich, und Treadle stand plötzlich lockerer da.

Gerrard schaute Cunningham erwartungsvoll an.

Gerrards Lächeln wurde intensiver. »Danke.«

Er hatte recht. Sie betraten ein Zimmer, das geräumig genug war, um drei verschiedenen Sitzgruppen für angenehme Unterhaltungen Platz zu bieten. Am einen Ende, nicht mehr am Fenster, sondern bei den Polstersesseln, die vor einem großen Kamin arrangiert waren, befanden sich die Gruppe junger Mädchen sowie der junge Mann, die ihn angestarrt hatten, außerdem eine Dame mittleren Alters, die er noch nie gesehen hatte.

Obwohl er nicht in ihre Richtung schaute, war sich Gerrard doch überdeutlich der Anwesenheit der Frau bewusst, die alleine dastand und alles gleichmütig von der anderen Seite des Raumes aus beobachtete.

Die Dame mittleren Alters kam mit willkommen heißender Miene auf ihn zu.

Die ältere Frau konnte es nicht sein. Sie war zu alt.

Und sah sie, ihr Gesicht zum ersten Mal im Licht.

Sie war keine Gouvernante. Und auch keine Gesellschafterin.