Das Buch
Jahrzehntelang hat Andreas Wunns Mutter dazu geschwiegen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet Jugoslawiens nach Deutschland floh. Auch über ihre Wurzeln – jene der Donauschwaben im Banat – sprach sie nicht viel. 2017 endlich, siebzig Jahre nach ihrer Flucht, beschließt Wunn, zusammen mit seiner Mutter eine Reise in die Region ihrer Kindheit zu machen – entlang ihrer damaligen Fluchtroute, die heute als »Balkan-Route« bekannt ist. Die Fahrt führt sie über Süddeutschland, Österreich und Ungarn bis nach Serbien. Entstanden ist die anrührende Erzählung eines Nachkriegsschicksals, aber auch die persönliche Wiederentdeckung eines fast vergessenen Stücks deutscher Geschichte, die vor Jahrhunderten begann und nach dem Zweiten Weltkrieg endete.
Der Autor
Andreas Wunn, geboren 1975, leitet die Redaktion des ZDF-Morgenmagazins und des ZDF-Mittagsmagazins. Für beide Sendungen steht er auch als Moderator vor der Kamera. Zuvor war er sechs Jahre lang Südamerika-Korrespondent des Senders und Leiter des ZDF-Studios in Rio de Janeiro. Seine TV-Dokumentationen wurden mehrfach ausgezeichnet, seine Bücher über Brasilien waren Bestseller. Wunn lebt mit seiner Familie in Berlin.
Andreas Wunn
Mutters Flucht
Auf den Spuren einer
verlorenen Heimat
Ullstein
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Die Namen mancher der im Buch erwähnten Personen wurden zum Schutz der Privatsphäre geändert.
ISBN 978-3-8437-1854-7
© 2018 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Tanja Ruzicska
Abbildungen im Innenteil: Andreas Wunn
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für meine Urgroßmutter Maria Ziwei, gestorben 1983
Für meine Großmutter Rosl Loch, gestorben 1981
Für meinen Onkel Kurt Loch,
gestorben 2012
Und für meine Mutter Rosemarie Wunn
Mit Luiza und Noah
»Alles, was ich habe, trage ich bei mir.«
Herta Müller, Atemschaukel
»What’s wrong with the world, Mama?«
The Black Eyed Peas, Where Is The Love?
Vorbemerkung
In diesem Buch habe ich vor allem die alten deutschen Ortsnamen für Dörfer und Städte verwendet und weniger die heutigen serbischen Bezeichnungen. Ich wollte diejenigen Ortsnamen benutzen, die auch meine Großeltern in ihrem Alltag gebrauchten. Mir gefällt der Gedanke, dass die Erinnerung an diese jahrhundertealten deutschen Namen nicht nur in den Köpfen und Herzen der noch lebenden Donauschwaben, sondern auch in diesem Buch am Leben gehalten wird. Um der aktuellen Namensgebung gerecht zu werden, habe ich jedoch bei jedem Ort mindestens ein Mal auch die heutige serbische Bezeichnung verwendet.
Vor der Reise
Und dann erzählte mir meine Mutter von dem Moment, als sie spürte, dass ihr Vater nicht mehr lebte.
Noch waren wir gar nicht losgefahren, noch brüteten wir über unseren Reiseplänen. Erst in einigen Wochen würden wir aufbrechen. Die Fahrt durch Deutschland, Österreich, Ungarn und Serbien bis in die Region Banat und in das Dorf mit dem Geburtshaus meiner Mutter würde viele Erinnerungen an die Oberfläche spülen, auch schmerzhafte. Doch jetzt, in diesem Moment, bei meiner Mutter auf der Couch, wollten wir eigentlich noch nicht über Gefühle, sondern über die wichtigsten Stationen unserer Reise sprechen. Wir wollten Routen aussuchen, Entfernungen in Autostunden umrechnen und Hotels auswählen.
Wie meistens, wenn die Sonnenstrahlen am Vormittag durch das Balkonfenster brachen, hatte meine Mutter den Rollladen ein Stück weit heruntergelassen. Eine löchrige Schattenkante zog sich über den Teppich. In diesem Reihenhaus, in einem Neubaugebiet bei Trier an der Mosel, bin ich aufgewachsen. Es ist vielleicht ein Stück Heimat – die ersten 19 Jahre meines Lebens habe ich fast ausschließlich hier verbracht. Doch weder in dieser Zeit noch danach habe ich mit meiner Mutter je über den Tod ihres Vaters gesprochen.
Doch jetzt, für mich ganz unvermittelt, erzählt sie davon. Und ich merke, wie schwer es ihr fällt. Nicht nur, weil die Erinnerungen wehtun. Sondern auch, weil sie nicht oft in ihrem Leben über ihren Vater gesprochen hat.
Sie erinnert sich an den Moment im Lager in Hof-Moschendorf in Bayern, das nach dem Krieg ein Durchgangslager für Heimatvertriebene war. Es muss in der ersten Hälfte des Jahres 1948 gewesen sein, sie war damals sechs Jahre alt. Am Fenster, im Gegenlicht, steht ihre junge Mutter mit einem Brief. Es sind schlechte Nachrichten. Der Brief in der Hand, der Blick aus dem Fenster, der zusammengeschnürte Hals, die unterdrückten Tränen der Mutter, die sich nichts anmerken lassen will. Aber das Kind merkt es halt doch.
Im Gegenlicht dieses Moments verschwimmen die Erinnerungen meiner Mutter an den Krieg, an die Flucht, an den Vater. Sie erinnert sich an ihre Träume von ihm und das stille Hoffen, dass er doch noch zurückkäme. Sie weiß zwar nicht mehr, wann und wie genau sie von der Mutter erfuhr, dass er ermordet wurde, aber sie erinnert sich an diesen einen Augenblick im Gegenlicht – als sie es noch nicht wusste, aber bereits spürte.
Meine Mutter bricht ab, sie erzählt nicht weiter. Es ist ihr fast peinlich. Sie trägt ihr Inneres nicht gerne nach außen. Ich bleibe still.
»Ich schaue lieber nach vorne. Ich blicke nicht gerne zurück. Weil es nichts bringt.« Meine Mutter sagt oft solche Sätze. Die Gedanken an ihre Kindheit schmerzen, obwohl die Szenen in ihrem Kopf aus den ersten, glücklichen Jahren nur geborgte Erinnerungsfetzen sind. Sie selbst kann sich an ihre Zeit im serbischen Banat kaum erinnern. Die Idylle ihrer Kindheit wurde von den Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter am Leben erhalten. Meine Mutter wollte diese geborgte Erinnerung nicht unbedingt verdrängen – aber auch nicht pflegen. Sie war ein Teil von ihr, den sie ruhen lassen wollte.
Doch jetzt werden wir genau an den Ort fahren, an den sie sich zwar nicht erinnern kann, von dem sie sich aber ein Bild gemacht haben muss: in das kleine Dorf Setschan im serbischen Teil des Banats, fast an der Grenze zu Rumänien. Im September 1941, während in weiten Teilen Europas schon der Krieg tobte und nur wenige Monate, nachdem die Wehrmacht auch in das damalige Jugoslawien eingefallen war, wurde meine Mutter hier geboren.
Bis der Krieg das Banat erreichte, muss es ein einfaches, aber sorgloses, vielleicht sogar glückliches Leben gewesen sein, das die Familie meiner Mutter als Teil der Donauschwaben, der deutschstämmigen Minderheit, dort führte. Die Familie besaß eine Mühle im Nachbardorf und war angesehen, im Wohnzimmer meiner Großeltern stand ein Flügel. Mein Großvater – damals noch ein junger Mann – war Apotheker, träumte aber von einer Karriere als Dirigent und wollte in Deutschland Musik studieren. In der Großfamilie sprachen sie Deutsch und Serbisch, manche auch Rumänisch und Ungarisch. Obwohl die Donauschwaben meist unter sich blieben, also auch in ihren eigenen Dörfern, lebten sie friedlich mit ihren Nachbarn zusammen, mit Serben, Ungarn und Roma und Sinti. Es klingt nach heiler Welt, wenn meine Mutter berichtet, was ihr berichtet worden war. Für sie aber blieb das Dorf, in dem sie geboren wurde, immer nur ein untergegangener Sehnsuchtsort. Nie wollte sie dorthin zurück – um von der Wirklichkeit nicht enttäuscht zu werden.
Kann ein Ort Heimat sein, an den man sich nicht erinnert? Den man nur aus verklärenden Erzählungen kennt? Und ist das diffuse Heimweh nach diesem Ort dann echt – oder nur ein Phantomschmerz?
Mehr als zwölf Millionen deutsche Kriegsflüchtlinge und Vertriebene gab es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, zwei Drittel von ihnen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, darunter Ostpreußen und Schlesien. Das Schicksal der Donauschwaben im Banat hingegen ist bis heute wenig bekannt. Meine Vorfahren waren vor fast 250 Jahren dorthin ausgewandert, um das von der Donau, der Theiß und der Temesch durchzogene Land nördlich von Belgrad zu besiedeln. Sie waren Handwerker und Bauern und verwandelten den feuchten Boden in Ackerland. Doch mit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich für die Donauschwaben im Banat alles. Viele von ihnen hatten mit Hitler sympathisiert, viele auch die Ziele der NS-Politik tatkräftig unterstützt und damit das friedliche Zusammenleben in der Region vergiftet. Josip Broz Tito, der als Marschall den Kampf der kommunistischen Partisanen gegen die deutschen Besatzer angeführt hatte und ab 1945 Jugoslawien regierte, ließ mit wenigen Ausnahmen alle Deutschen verfolgen. Ihre Häuser wurden geräumt, viele Männer und Frauen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert oder von jugoslawischen Partisanen ermordet. Auch mein Großvater war darunter. Was genau mit ihm geschah, wann und wie er gestorben ist, hat die Familie nie erfahren. Seine junge Frau (meine Großmutter) und die beiden kleinen Kinder (meine Mutter und meinen Onkel) steckte man in Lager.
Historiker gehen davon aus, dass bereits in den beiden letzten Kriegsjahren mehr als die Hälfte der rund 550000 Donauschwaben vertrieben war, Zehntausende der Zurückgebliebenen kamen in den jugoslawischen Internierungslagern ums Leben, darunter zahlreiche Kinder; viele von ihnen sind verhungert. Meine Mutter und der Großteil ihrer Familie überlebten nach 1945 zwei Jahre in verschiedenen jugoslawischen Lagern, bis ihnen Mitte 1947 die Flucht über die jugoslawisch-ungarische Grenze gelang, so wie vielen anderen auch. Heute sollen in Serbien nur noch rund 4000 Deutschstämmige leben.
Über all dies hatte meine Mutter kaum je gesprochen. Als sei sie ein Leben lang auf der Flucht vor ihrer Flucht gewesen. Erst ein paar Monate vor unserer Reise trat eine Veränderung ein. Sie war nach Berlin gekommen, weil sie ihr erstes Enkelkind, meinen neugeborenen Sohn Noah Joaquim, sehen wollte. Sie brachte die alte, noch von meiner Großmutter gestrickte Babykleidung mit, die vor vielen Jahren erst ich trug und die jetzt mein Sohn tragen sollte. Meine Mutter blieb ein paar Tage bei uns. Sie sah glücklich aus, mit ihrem Enkel im Arm. Und dann, am Abend vor ihrer Abreise, gab sie mir, etwas unsicher, ein paar lose Blätter.
»Ich habe aufgeschrieben, wie wir damals geflüchtet sind«, sagte sie. Sie hielt mir die sieben Seiten hin, auf denen ich sofort ihre akkurate Lehrerinnenschrift erkannte. Es war Februar 2017, draußen stürmte der dunkle Berliner Winter. Sie hatte einen Text geschrieben, um ihn in meiner alten Schule vorzulesen. Manche der Erlebnisse, die sie beschrieb, kannte ich schon, viele aber noch nicht. Sie wolle Schülern zeigen, dass Flüchtlingsschicksale in Europa kein neues Phänomen, sondern Teil vieler Familiengeschichten seien, sagte sie. Irgendwann, nachdem sie die Flüchtlingsbilder im Fernsehen gesehen hatte, wurde ihr schlagartig klar, dass sie auf demselben Weg nach Deutschland gekommen war: Ja, sie war auf genau der Route geflüchtet, die im Sommer 2015 als Balkanroute bekannt wurde – von Serbien über Ungarn, Österreich und die Alpen bis nach Bayern. Jetzt, siebzig Jahre später, wollte sie endlich darüber reden. »Ihr könnt mich alles fragen«, sagte sie.
Aus vielen Fragen entstand die Idee zu einer Reise – eine Fahrt in den serbischen Spätsommer und zurück in die Vergangenheit meiner Mutter. Damit schloss sich für sie ein Kreis. Und ich lernte dabei sie – aber auch mich selbst – besser kennen. Während ihr sechs Monate altes Enkelkind in Berlin auf unsere Rückkehr wartete, drangen wir immer tiefer in die Familiengeschichte meiner Mutter vor. Es ist eine individuelle, persönliche und einmalige Geschichte, die dennoch für so viele deutsche Familiengeschichten steht. Eine Geschichte von Idylle, Krieg, Vertreibung, Flucht und Sprachlosigkeit – aber auch eine Geschichte über das Wesen der Erinnerung.
Als kleines Mädchen ist meine Mutter einmal unter dem Flügel im Wohnzimmer durchgerannt, mit großem Anlauf, alle haben sich erschreckt. Aber sie war so klein, dass sie problemlos hindurchsauste. Doch daran kann sich meine Mutter nicht erinnern. Man hat es ihr erzählt.