1.
General Ushbar stieß den Rest seiner Kasbek-Zigarette in den Aschenbecher. Sein breites Kalmückengesicht war hochrot angelaufen, als sei er einem Schlaganfall nahe. Er hakte den Kragen seiner Litewka auf. Nein, es war nicht nur die zornige Erregung, es war auch die bleierne Hitze. So tief die Temperaturen im vergangenen Winter gefallen waren, so hoch waren sie im Sommer des Jahres 1942 in Moskau gestiegen. Jetzt freilich war es nicht mehr Sommer. Es war Ende September, aber das Thermometer zeigte schon zu dieser frühen Stunde 28 Grad.
»Wissen Sie, für wen er Moskau gerettet hat?«, sagte Ushbar mit seiner rostigen asthmatischen Stimme, die sich nur mit Mühe durch die Fleischmassen seines schweren Körpers hindurchzuquälen schien. »Wissen Sie für wen, Oberst Michailow?«
Die kleinen, wie Kubankiesel glitzernden Augen starrten den Oberst an.
»Nein, Towarischtsch General«, stammelte Michailow. Seine Hand, die die blaue Mütze mit dem himbeerroten Band hielt, die Kopfbedeckung aller Angehörigen der »besonderen Sektion«, zitterte merklich.
General Ushbar drückte sich aus dem gepolsterten Schreibtischstuhl hoch.
»Für sich selbst und seine Kumpane, die Hitler-Faschisten«, grollte er.
Sein Blick glitt von Michailows verstörtem Gesicht zu den Papieren auf seinem Schreibtisch: die Akte »Andrej Andrejewitsch Wlassow«. Zuoberst lag das Flugblatt, das heute früh auf dem Roten Platz – ja, auf dem Roten Platz! – aufgelesen worden war.
»An meine russischen Brüder diesseits und jenseits der Front …«
Ushbar brummte wie ein gereizter Bär. Plötzlich hob er die großen, fahlen Hände.
»Ich könnte Sie zerquetschen«, murmelte er drohend. »Wir haben Sie in den Wolchow-Kessel eingeflogen, und anstatt mir den Mann zu bringen, lassen Sie ihn zu den Deutschen hinübergehen. ›Schluß mit dem Morden!‹ Nach solchen Äußerungen war er reif für die physische Vernichtung. Warum haben Sie ihn nicht erschossen, Oberst Michailow?«
»Ich …«, stotterte der Oberst, »einen hochverdienten General – Träger des Ordens der Roten Fahne – unantastbar. Im Übrigen war da dieser Mironow, Kommandant der Leibwache –«
»Sie sind ein Versager. Sie werden die Folgen tragen«, fiel General Ushbar grimmig ein.
Der Oberst ließ die Mütze fallen und bückte sich ungeschickt danach. Gab es noch Hoffnung für ihn? Vielleicht doch, denn wozu hätte der General ihn sonst rufen lassen?
General Ushbar schob das verwünschte Flugblatt mit General Wlassows Aufruf zur Beseitigung des Sowjetregimes zur Seite. Von einer Liste las er Namen ab.
»Wassilij Fedorowitsch Malyschkin, Generalleutnant – Fedor Iwanowitsch Truchin, Generalmajor – Grigorij Nikolajewitsch Schilenkow, Generalmajor und Politkommissar – Blagoweschtschenskij, Generalmajor – Viktor Iwanowitsch Malzew, Oberst – Sykow, Kapitän, unter Bucharin Redakteur der Iswestija – was für eine erlesene Gesellschaft! Truchin, ein ›Gewesener‹. Malyschkin schwer belastet in der Tuchatschewskij-Affäre.« Unversehens reckte Ushbar den mächtigen kahlen Schädel hoch. »Sie werden sich etwas einfallen lassen, Oberst Michailow. In 24 Stunden legen Sie mir brauchbare Vorschläge für wirksame Gegenmaßnahmen vor. Die Wlassow-Bewegung muss aufgefangen werden, bevor dieser verhinderte Pope Unheil anrichten kann.«
Eine knappe Handbewegung bedeutete Oberst Michailow, dass er sich zu entfernen habe. Er verließ eilends das Zimmer, entschlossen, sich etwas einfallen zu lassen, um seinen Kopf zu retten.
Der Fernsprechapparat auf Oberst Michailows Schreibtisch schnarrte. Der Oberst hob den Hörer ab. Seine Hand zitterte nicht mehr. Eine Stimme meldete: »Leutnant Sonja Petrowna Rasumowa.«
»Ich lasse bitten«, sagte der Oberst in ungewöhnlich gönnerhaftem Ton. Seine Vorschläge waren von General Ushbar gebilligt worden. Er verfügte über alle Vollmachten zu ihrer Verwirklichung und war stolz darauf. Denn nun war er es, der eine Seite Sowjet-Geschichte schreiben würde, er, Iwan Ignatjewitsch Michailow, Oberst der »besonderen Sektion«.
Die Tür öffnete sich. Mit raschen Schritten trat Leutnant Rasumowa in das vom Sonnenschein erhellte Dienstzimmer. Die erdfarbene Uniform wirkte eher aufreizend an ihr als vermännlichend. Die nach Maß geschneiderte Jacke mit den roten Kragenspiegeln betonte die Kurve ihres kleinen, festen Busens. Der Rock reichte bis knapp übers Knie. Die hauchdünnen Seidenstrümpfe, die die geraden, schlanken Beine mehr entblößten als verhüllten, entstammten einer über Murmansk eingetroffenen Lieferung aus den USA. Die kleinen Halbschuhe waren von einer Spezialwerkstätte nahe dem Kasaner-Bahnhof angefertigt worden. Auf dem schwarzen Haar, das zigeunerhaft bis auf die Schultern herabfiel, saß schräg die blaue, rot abgesetzte Mütze der »Besonderen«.
Oberst Michailow strich unwillkürlich über seinen rotblonden Schnurrbart. Was war nur so fesselnd und erregend an diesem ein wenig unsymmetrischen hellhäutigen Gesicht? War es der Blick der haselnussbraunen Augen, der immer ein wenig spöttisch schien, als seien die Bewunderung und die schlecht verborgene Begehrlichkeit der Männer etwas ungemein Belustigendes? Oder war es die Lockung der sanft geschwungenen Lippen? Die dezent aufgetragene Schminke harmonierte jedenfalls mit dem Farbton des Mützenbandes.
Der Oberst hatte sich erhoben. Mit schwungvoller Kavaliersgeste deutete er auf einen Stuhl.
»Bitte, Genossin Rasumowa.«
»Danke, Genosse Oberst.«
Die Rasumowa neigte kaum merklich den Kopf und setzte sich. Sie war entschlossen, keine Spur von Neugier zur Schau zu tragen.
Oberst Michailow öffnete sein silbernes Etui und bot der schönen Agentin eine von seinen Kasbek-Zigaretten an. Der verlauste Rotarmist im Graben rauchte Machorka, wenn überhaupt etwas Rauchbares vorhanden war, aber in der »Besonderen Abteilung« gab es kein derartiges Kraut.
Die Rasumowa griff mit ihren schlanken, frisch manikürten Fingern zu, und wieder kam dieses leicht amüsierte »Danke, Genosse Oberst« über ihre Lippen.
»Sie kennen sicherlich die Umtriebe des ehemaligen Generals Wlassow, Genossin«, begann Oberst Michailow ohne lange Vorrede. »Kurzum, General Ushbar hat Sie dazu bestimmt, sich dieser sogenannten russischen Befreiungsbewegung anzunehmen. Sie sprechen Deutsch. Sie waren bei unserer Botschaft in Berlin und haben sich nach Ausbruch des sowjetisch-deutschen Krieges nach der Erfüllung Ihrer gewiss nicht leichten Aufgabe durchs Kampfgebiet durchgeschlagen. Wir sind überzeugt, dass Sie mit demselben Geschick nach Berlin zurückfinden werden. Wenn es sein muss, als Mann verkleidet …«
»Das dürfte etwas schwierig sein, Genosse Oberst«, lächelte die Rasumowa, während sie scheinbar unabsichtlich über ihre Hüften strich.
Oberst Michailow erwiderte irritiert das Lächeln.
»Ein Scherz – natürlich«, sagte er. »Wir überlassen das ganz Ihnen, Genossin. Sie erweisen Ihrem Vaterland, der großen Sowjetunion, einen unschätzbaren Dienst. Ich kann Ihnen verraten: Der Wendepunkt des Krieges zeichnet sich an der Wolga ab. Wir können in diesem Augenblick keine gefährlichen Störmanöver von außen dulden. Ihre besonderen Anweisungen, Genossin, übergebe ich Ihnen schriftlich. Sie prägen sich jeden Punkt gewissenhaft ein und vernichten dann sofort das Schriftstück. Den Anweisungen liegt ein Propusk bei, lautend auf Ihren Namen, unter dem Sie die Abwehr der Hitler-Faschisten nicht kennt. In fünf Stunden sind Sie marschbereit. Sie treten Ihre Reise in einem Sonderflugzeug an. Bei Tichoretzkaja in der Kubansteppe springen Sie mit dem Fallschirm ab. Sie kennen die Gegend vom Dezember her. Ihre Kleidung muss unauffällig, aber geschmackvoll sein. Die Größe und Bedeutung Ihrer Aufgabe ist Ihnen klar. Noch eine Frage, Genossin Rasumowa?«
Leutnant Sonja Rasumowa holte tief Atem.
»Nein, Genosse Oberst.«
Sie stand auf. Auch der Oberst erhob sich und nahm stramme Haltung an.
»Viel Glück zu Ihrem Unternehmen, Genossin. Sa Rodinu sa Stalina!«
Die Rasumowa wiederholte die feierliche Grußformel, nahm das Kuvert in Empfang, das ihre Anweisungen und den Propusk enthielt, und verließ das Dienstzimmer im NKWD-Block an der Lubljanka.
In der Nacht dieses 1. Oktober 1942, während das Sonderflugzeug mit der findigsten und schönsten Geheimagentin der Sowjetunion an Bord längst mit Südkurs über den dunklen Himmel schwebte, drang fahles Licht aus dem Erkerfenster im düsteren Verwaltungsgebäude des Obersten Sowjet. Nächtliche Stille lag über dem Kreml. Die Sterne über den Zwiebelkuppeln glommen in düsterem Rot. Im Erkerzimmer gab der mit Elfenbein eingelegte Fernsprechapparat ein schwaches Läuten von sich. Der alternde grusinische Wolf, den die einen Marschall und Generalissimus, die anderen den »großen und weisen Vater« nannten, nahm mit seiner schweren Hand den Hörer auf.
General Ushbars rostige Stimme meldete mit der gebotenen Unterwürfigkeit, der Fall Andrej Andrejewitsch Wlassow werde der befohlenen Erledigung zugeführt.
Jossip Dschugaschwili, genannt Stalin, legte wortlos den Hörer auf und gab sich erneut dem Studium der Landkarte hin. Es war das Gebiet zwischen dem Donbogen und dem Wolgaknie, dem die Aufmerksamkeit des Ergrauten galt.
Schukow und Rokossowskij beabsichtigten, in diesem Rayon den entscheidenden Gegenschlag gegen die Aggressoren zu führen.
Hunderttausende waren auf der Wanderschaft. Mit hochbeladenen Zweiradkarren oder mit Bündeln von unterschiedlicher Größe zogen sie von Kiew nach Charkow, von Melitopol oder Stalino nach Dnjepropetrowsk, dahin und dorthin, zumeist Frauen, viele mit Kindern. Auch von Tichoretzkaja nach Bataisk und Rostow bewegte sich ein stetiger Zug von Reisenden. Wer es eilig hatte, versuchte sich einen Platz in einem Leerzug der deutschen Wehrmacht zu sichern, doch die meisten hatten Zeit.
Den deutschen Besatzern war dieses Hin- und Herwandem auf den Straßen unbegreiflich, ja geradezu unheimlich. Aber es gab keinen, der sich mit dieser ständigen Bewegung ungezählter Menschen befasst hätte. Was hätte es auch geholfen, wenn die Militärbefehlshaber, die Ortskommandanten oder gar die Reichskommissare Verbote erlassen hätten? Die Fronten hatten sich ins Endlose ausgeweitet, und im riesenhaften Hinterland fehlten die Kräfte, die eine wirksame Kontrolle der Straßen hätten durchführen können – von der weglosen Steppe ganz zu schweigen.
Sonja Rasumowa hockte im Schatten einer Ulme am Straßenrand, kaute ein Stück Brot aus ihrem Wandersack und betrachtete die Wolken, die wie geblähte Segel über den blassblauen Herbsthimmel glitten. Vor dem Morgengrauen war sie unversehrt und unbemerkt auf der baumlosen Steppe gelandet. Den Fallschirm hatte sie zusammengefaltet und mit der Pilotenkombination in einem Wasserloch eines halb ausgetrockneten Flüsschens versenkt. Selbst wenn jemand beides dort fände, würde man nicht auf den Gedanken kommen, in der rastenden Wanderin eine vom Himmel herabgeschwebte Partisanin Stalins zu vermuten. Bei Sonnenaufgang war sie auf die Straße gelangt. Jetzt war es Mittag, und sie ruhte im Schatten der Ulme. Sechs deutsche Lastkraftwagen waren an ihr vorbeigefahren – vier nach Süden in Richtung zur Kaukasusfront und zwei nach Norden. Dort lag Rostow na Danu – die Stadt am Don. Der Weg dorthin war weit, wenn sie ihn würde zu Fuß zurücklegen müssen, aber sie war ja nicht aufs Geratewohl in dieser entlegenen Gegend gelandet. In den Anweisungen, die im Ofen ihres Moskauer Quartiers verkohlt waren, hatte es geheißen, sie solle auf ihrem Weg nach Norden erkunden, wie es hier, in dieser dünn besiedelten Steppenlandschaft, um die Möglichkeit einer unbemerkten Landung größerer Fallschirmgruppen bestünde. Diese Chance war angesichts der Sorglosigkeit der Deutschen durchaus gegeben. Sonja nahm sich vor, dies als Erstes nach Moskau durchzugeben, sobald sie mit dem Stützpunkt »Krasnij lutch« in Rostow Verbindung aufgenommen hätte. Vieles war zu überlegen. Nichts durfte versäumt oder vergessen werden.
Sonja hob die linke Hand und warf einen Blick auf den schlichten Ring, den man ihr vor dem Abflug übergeben hatte. Unter dem blauen Stein befand sich eine winzige Höhlung, und darin war eine Kapsel, zu der sie greifen würde, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gäbe. Sie schloss die Augen und legte den Kopf auf den mageren Wandersack. Ihr Haar hatte sie über dem Nacken zusammengebunden. Das weiße Kopftuch, unter dem Kinn verknotet, verlieh ihrem ovalen Gesicht einen Ausdruck rührender Unschuld. Sie wusste es und lachte leise vor sich hin. Diesen Anschein würde sie sich von jetzt an ständig geben, um aus der Hilfsbereitschaft der Männer Gewinn zu ziehen.
Plötzlich schrak sie zusammen und öffnete die Augen. Ein Lkw hatte jählings vor ihr gebremst. Ein junges Gesicht mit weichem Bartflaum beugte sich aus dem Fenster des Fahrerhauses, und eine Knabenstimme fragte auf deutsch, ob sie mitfahren wolle.
»Nix versteh«, antwortete sie und gab sich den Anschein bäuerlicher Einfalt.
Der junge Soldat wechselte ein paar Worte mit seinem am Lenkrad sitzenden Kameraden, und dieser erleichterte die Verständigung mit ein paar russischen Worten.
Zögernd folgte Sonja der Aufforderung der Soldaten. Doch als sie unter der Plane des Laderaumes auf einem Stapel leerer Munitionskisten saß, lächelte sie zufrieden. Hier würde man sie nicht kontrollieren, und wertvolle Zeit war gewonnen. Durch den Schlitz der Plane spähte sie aufmerksam hinaus. Der Staub, den die Räder hochwirbelten, störte sie nicht. Sie fühlte sich wohl und seltsam geborgen. Den Gedanken, dass die Soldaten versuchen könnten, als Fahrpreis Liebesdienste von ihr zu fordern, wies sie weit von sich. Diese beiden harmlosen »Fritzen« hatten gewiss nichts Derartiges im Sinn. Die Luft unter der Plane war warm und stickig. Sonjas Kopf neigte sich zur Seite. Sie schlief ein. Als sie erwachte, stand der Wagen still. Die Plane wurde auseinandergezogen, und der junge Soldat sagte: »Kurtschewskaja – jetzt Fahrt kaputt.«
Sonja verstand. Sie stieg ab und neigte dankend den Kopf. Der Wagen hielt am Rand einer kleinen Stadt vor einem Lager, in dem Leergut der deutschen Artillerie aufgestapelt war. Nahebei strömte ein Fluss durch fahl vergilbtes Wiesenland. Die Büsche am Ufer waren noch grün. Sonja hatte ihren Weg gut im Gedächtnis. Wenn die kleine Stadt Kurtschewskaja war, hieß der Fluss Yeja und strömte dem Asowschen Meer zu.
Sonja entfernte sich schnell von dem Wagen und strebte den Uferauen zu. Der Staub brannte in ihrem Gesicht, und sie fühlte sich müde. Ein Bad im Fluss würde sie erfrischen. Sie verschwand hinter einem der Büsche, entkleidete sich und watete durchs Schilf ins Wasser. Ohne Bedenken hatte sie das Kleid und die Unterwäsche abgestreift. Zu Hause an der Desna hatte sie nie anders gebadet. Auf einmal jedoch fühlte sie, dass sie aus den Büschen beobachtet wurde. Sie bückte sich und bedeckte ihre Brüste mit den Händen. Wie töricht war es gewesen, so nah der Stadt, in der es sicherlich viele Soldaten gab, ins Wasser zu gehen. Das Blut schoss ihr heiß in die Wangen. Nun sahen die Feinde sie nackt. Zornig schnellte sie sich hoch. Ihr weißer Leib flog förmlich ans Ufer. Doch ehe sie bei ihren Kleidern war, teilte sich das Gebüsch, und das Gesicht des jungen Soldaten vom Lkw kam zum Vorschein – puterrot wie das ihre. Verlegen drehte er sich um und verschwand. Jetzt legte sich rasch ihr Zorn. Dieser Junge hatte nichts Böses gewollt. Es kam ihr einen Augenblick seltsam vor, dass man nicht gegen alle, nicht gegen jeden Feind tödlichen Hass empfinden konnte.
Sie kleidete sich an und nahm eilig den Weg nach Kurtschewskaja. Eine Brücke führte über den Fluss, und nachdem die Straße den Ort durchquert hatte, der alle Merkmale einer deutschen Etappenstation aufwies, erstreckte das von Rädern zermahlene Band sich weiter nach Norden in die Steppe hinaus.
»Nach Berlin«, sagte Sonja leise vor sich hin. Doch zunächst hieß ihr Ziel Rostow. Dort würde sie die Rolle des wandernden Bauernmädchens ablegen und sich in eine Intellektuelle verwandeln, die vor der Verfolgung durch das NKWD geflohen war. Es würde ihr nicht schwerfallen, vor den Deutschen eine Komsomolzin mit individualistischen Neigungen zu spielen. Im Grunde hatte sie ja immer irgendwelche Rollen gespielt. Wie hätte sie sonst bei den »Besonderen« so hoch aufsteigen können? Wie wäre sie sonst »Stalins Partisanin« geworden, die alle Privilegien der sowjetischen Elite genoss? Eine »Besondere« mit Vollmachten, über die kein General verfügte …
Unangefochten hatte Sonja die Pontonbrücke überquert, die von den Deutschen über den Don geschlagen worden war. Sie hatte dem Posten ihren Propusk vorgewiesen, und der Soldat hatte sie mit einem gelangweilten »Charascho« passieren lassen.
In ihrem mausgrauen Kleidchen, das zwar nicht gerade schäbig, aber ärmlich und obendrein zu leicht für die Jahreszeit war, ging sie durch die belebte Engelsstraße. Seit dem Dezember 1941 hatte sich manches in Rostow verändert. Von zahlreichen Häusern ragten nur noch die Außenmauern auf. Sie blickte in leere Fensterhöhlen und den grau verhangenen Oktoberhimmel.
Die Brände in der Engelsstraße und anderen Vierteln, das Knattern der Schüsse, die verzweifelten Angriffe sowjetischer Ratas auf die weit überlegenen Flugzeuge der deutschen Luftwaffe – dies alles war für Rostow Vergangenheit. In Sonjas Augen jedoch glich die Stadt einer hastig zurechtgemachten Schönheit, die in sich den Keim des Todes trägt. Damals, im Dezember 1941, hatten die Deutschen eilends den Rückzug angetreten. Jetzt hatten sie sich hier erneut eingenistet, und sie schienen nicht zu ahnen, dass über ihnen das scharfe Schwert der Rache hing. Sonja fühlte eine heiße Welle des Stolzes bei dem Gedanken, dass sie entscheidend teilhaben würde an dem tödlichen Vergeltungsschlag.
Geschäftig eilende oder lässig schlendernde deutsche Soldaten bevölkerten die Gehsteige, die doch Eigentum der Sowjetmenschen waren. Auch an Krücken humpelnde Verwundete zeigten sich und sogar deutsche Mädchen in gefälligen Uniformen oder in der Tracht der Krankenschwestern. An einer einsturzgefährdeten Ruine arbeiteten stumpf blickende Rotarmisten mit Pickel und Schaufel.
»Für euch bin ich hier«, dachte Sonja.
Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen und das Haarband gelöst. Der Reisesack lag in einem mit Grundwasser gefüllten Bombentrichter. In einer der wenigen heilen Fensterscheiben musterte sie flüchtig ihr Spiegelbild. Kleine sowjetische Lehrerin. Das würde man ihr wohl glauben.
Sie bog links ab. Der Stützpunkt »Krasnij lutsch«, das Haus, in dem Polwuchin wohnte, war unbeschädigt. Nur ein paar Fenster waren mit Pappe und Brettern vernagelt. Sie stieg die knarrende Treppe hinauf. Es roch muffig nach Kohl und Armut. Am dritten Absatz holte sie Atem und klopfte zweimal kurz und scharf an die Tür, von der die Farbe halb abgeblättert war. Sie entsann sich des eisigen Dezembertages, an dem sie hier zum ersten Mal gestanden hatte. Wie damals vernahm sie auch jetzt schlurfende Schritte. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Polwuchins Auge spähte heraus. Die Tür flog auf, und Sonja huschte in den Flur.
Polwuchin schloss sie in die Arme und gab ihr auf beide Wangen den Bruderkuss.
»Ich bin unterrichtet«, sagte er. »Ein Glück, dass Sie hier sind, Genossin.«
Sonja lachte leise.
»Waren Sie in Sorge, Ignatij Pawlowitsch? Die Fritzen sind blind. Noch einfältiger sind die Rumänen. Ich bin schneller gereist als damals im Winter. Ein Mädchen erreicht bei denen alles.«
»Eines wie Sie«, warf Polwuchin ein. »Ihre Schönheit ist Ihre beste Hilfe, Genossin.«
Sonja wehrte mit einer Handbewegung ab. »Lassen wir das, Ignatij Pawlowitsch. Ich hab’s eilig. Ich muss nach Berlin.«
Polwuchin schnappte nach Luft. »Hol’s der Teufel! Nach Berlin? Aber wie – wie, Genossin?«
Sie betraten das halb abgedunkelte Zimmer. Im Fehlboden unter den Dielen war das Funkgerät verstaut. An der Wand zwischen den beiden Fenstern stand das mit schwarzem Wachstuch bespannte Einheitssofa.
Polwuchin brachte Zigaretten. Es waren nicht die gewohnten Papyrossi, sondern eine deutsche Marke ohne Pappmundstück.
»Der schwarze Markt blüht«, sagte Polwuchin.
Er war alt, über sechzig. Sein Gebiss war lückenhaft, das dichte Bürstenhaar schneeweiß. Sein linkes Auge blickte starr. In einem zaristischen Kerker war es geblendet worden. Das rechte hatte seine Sehkraft behalten.
Sonja ließ sich auf das Sofa nieder, schlug die Beine übereinander, die jetzt in billigen Baumwollstrümpfen steckten, und wippte mit dem einen ihrer abgetretenen Schuhe.
»Habt ihr Verbindung zu einer deutschen Dienststelle?«, fragte sie den alten Partisanen.
Polwuchin überlegte. Ein Lächeln legte ein Netz von Falten und Fältchen über sein sonst so strenges straffes Gesicht.
»Es gibt tatsächlich so etwas«, murmelte er. »Der Genosse Saburow ist Dolmetscher bei den Propagandisten, die uns mit Radio, Kino und Zeitungen bearbeiten. Vielleicht wäre das ein Weg. Sie werden gewiss die Abtrünnigen bekämpfen, Genossin? Meine Instruktion lautet wenigstens so.«
»Ja, so ungefähr.« Sonja lehnte sich schläfrig zurück. Sie hatte einen weiten Fußmarsch hinter sich. Hunger dagegen verspürte sie nicht. Wenn es nicht ihre russischen Landsleute gewesen waren, hatten deutsche oder rumänische Soldaten sie mit Nahrung versorgt. Die Rumänen allerdings hätten es gern gesehen, wenn sie zu erotischen Gegenleistungen bereit gewesen wäre.
Sie besprachen alles, was nach drüben gefunkt werden sollte. Dann nahm Polwuchin seine abgetragene Proletariermütze und entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Die Flurtür versperrte er, bevor er die Treppe hinunterstieg.
Saburow saß an einem kleinen Tisch im Speiselokal »Zum Don«, dessen einziger Schmuck eine Anzahl üppig wuchernder Gummibäume war. Wo das Stalinbild gehangen hatte, war ein helles Rechteck an der verschmutzten Wand. Doch für Saburow und Polwuchin, der soeben eintrat, war Stalin vorhanden wie ehedem.
»Sei gegrüßt, Iwan Jurjewitsch«, murmelte Polwuchin und ließ sich schwerfällig neben dem anderen nieder. Seine Knochen waren steif vor Rheuma.
Saburow blickte kurz aus seinen schrägen Schlitzaugen auf.
»Tschad!«, rief er.
»Sejtschas«, antwortete die gelbhaarige Serviererin an der Anrichte, schlappte heran und stellte ein Glas Tee vor Polwuchin auf den Tisch. Zucker gab es keinen. Denn nach Meinung der deutschen Verwaltung brauchten sich die russischen »Untermenschen« das Leben nicht zu versüßen.
»Es wird Herbst«, murmelte Polwuchin, setzte das Glas an die verrunzelten Lippen und schlürfte genießerisch den dünnen Tee.
»Es wird auch Winter werden«, gab Saburow beiläufig zurück. Er war ein wenig verwachsen. Das Rückgrat war verkrümmt und die linke Schulter schief. Sein blasses Gesicht war von Pockennarben entstellt. Spärliche aschfarbene Stoppeln bedeckten Kinn, Wangen und Oberlippe. Ein Wunder, dass dieser hässliche Mensch bei den Deutschen Beschäftigung gefunden hatte. Aber er sprach eben Deutsch, und Dolmetscher wurden gebraucht.
Polwuchin leerte sein Glas. Saburow legte ein paar Kopeken auf den Tisch, und die beiden verließen das Lokal.
Die Sonne hatte sich durch die Wolken gefressen. In ihrem milden Schein wanderten die beiden zum Park, der mit Splittergräben durchzogen war. Die Gräben hatte die Bevölkerung im vergangenen Juli auf Befehl der Roten Armee angelegt. Jetzt waren sie verfallen. Die graue Armee der Deutschen hielt die Rote Armee für erledigt und besiegt.
»Der ›Rote Stern‹ ist in der Stadt«, sagte Polwuchin leise. »Wir haben ihr jede Unterstützung zu geben – Befehl. Du weißt ja, Iwan Jurjewitsch.«
Saburow nickte. »Was kann ich tun?«
»Bring sie zu deinen ›Fritzen‹. Sie muss nach Berlin.«
Saburow grinste erfreut.
»Ein Feuerchen legen, wie?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Polwuchin. »Wirst du es schaffen?«
Saburow hob die schiefe Schulter noch höher.
»Ich schon. Danach kommt es auf das Täubchen an. Verdammt, sie hat Mut …«
»… und das gewisse Etwas«, ergänzte Polwuchin. »Die Männer werden weich wie Wachs in ihren Händen. Weißt du noch – damals im Dezember?«
Saburow grinste.
»Der SS-Mann hat vor ihr gewinselt wie ein Hund. Und was hat sie ihm gegeben? Nichts! Aber was hat sie bekommen? Alles, was er wusste. Ob ihn wohl die Fische im Don gefressen haben?«
»Vielleicht die Aale und Krebse«, sagte Polwuchin ungerührt. »Also, wann soll sie kommen?«
»Hol sie herunter. Ich bringe sie gleich hin. Der Leutnant hat Besuch – vom Kaukasus. Sie trinken Wein aus Maikop.«
»Unseren Wein, die verdammten Hunde«, brummte Polwuchin böse.
Sie kehrten bis zur Ecke der Proletarskaja zurück. Polwuchin entfernte sich, und wenig später erschien Sonja Rasumowa. Sie kannte Saburow vom Dezember her.
»Was stellen Sie dar, Genossin?«, fragte er anstelle eines Grußes.
»Ich bin vor dem NKWD aus Saratow geflohen«, antwortete Sonja und strich eine Strähne ihres schwarzen Haares zurück, die ihr der steife Ostwind in die Stirn geweht hatte.
Sie gingen die Straße hinunter, auf der am 25. Juli die ersten deutschen Panzer aufgetaucht waren. Auf der rechten Seite lag in einem verwilderten Garten ein kleines Haus mit einer Veranda, und auf dieser saßen ein deutscher Leutnant und ein Sonderführer (Z) bei goldfarbenem Wein.
Saburow schob die Gartentür auf und schritt über den Kiesweg zum Haus. Die Rasumowa folgte ihm. Sie war ohne Furcht, nur ein wenig neugierig und brannte darauf, an ihr Ziel zu gelangen.
Saburow zog die Mütze. Der Offizier blickte auf.
»Ich habe etwas für Sie«, sagte Saburow in seinem hart klingenden Deutsch. »Sie kommt aus Saratow an der Wolga. Vor dem NKWD geflohen.«
Der Leutnant war nicht mehr ganz jung. Sein hellbraunes Haar war gelichtet. Er musterte die bescheiden vor der Verandatreppe verharrende Frau aus blassblauen, etwas vorquellenden Augen. Betroffen stand er auf. Was für ein Gesicht! Ja, diese Russinnen! Gerade hatte er mit Sonderführer Freilinger über sie gesprochen. Bei der letzten Untersuchung der für Deutschland bestimmten Zivilarbeiterinnen hatte es sich ergeben, dass achtzig Prozent der Mädchen noch Jungfrauen waren.
Unwillkürlich verneigte sich Leutnant Simmroth ein wenig, als er das Mädchen vor den Stufen nach dem Namen fragte.
»Ich heiße Sonja Petrowna Rasumowa«, sagte das Mädchen mit einer Stimme, deren herber, dunkler Klang jeden Mann geradezu magisch anzog. »Ich war Lehrerin in Saratow.«
Erst jetzt kam dem Leutnant zum Bewusstsein, dass die hübsche Russin deutsch gesprochen hatte. Er bat sie näherzutreten.
Saburow rückte zur Seite. Die Rasumowa stieg die Stufen hinan. Auch der Sonderführer hatte sich erhoben. Er hatte ein schmales Gesicht sowie unmilitärisch lange Haare und trug eine Brille mit Hornfassung.
Der Leutnant rückte einen Stuhl heran und bedeutete Saburow mit einem Wink, sich zu entfernen.
Die Rasumowa nahm Platz, trank einen winzigen Schluck von dem Wein und begann ihre rührende Geschichte. Ihre Augen schimmerten feucht, und ihre Stimme stockte zuweilen, während sie ihre Erlebnisse in Saratow erzählte.
Es lag jetzt 15 Tage zurück. Eines ihrer Schulkinder hatte ihr arglos ein Flugblatt übergeben, das es auf dem Weg zur Schule aufgehoben hatte. Die Lehrerin für Fremdsprachen, Deutsch und Englisch hatte den Text des Flugblatts überflogen und es dann, weil es ein bemerkenswerter Aufruf des berühmten und gleichermaßen berüchtigten Generals Andrej Andrejewitsch Wlassow war, in ihrer Handtasche geborgen. Zu Hause hatte sie mit einigen Freunden über den Aufruf diskutiert. Spät in der Nacht war dann ein Kind eines der Freunde erschienen und hatte berichtet, der Vater sei wegen einer Bemerkung über General Wlassow vom NKWD verhaftet worden. Die verzweifelte Mutter habe das Kind zur Lehrerin geschickt. Noch in derselben Stunde sei sie aus der Stadt geflohen. 15 Tage lang sei sie unterwegs gewesen, von Angst gepeitscht.
»Wohin flieht ein Sowjetmensch in solcher Not?«, flüsterte sie. »Doch nur zu den Deutschen. Jetzt bin ich hier, und Sie wissen alles, meine Herren.«
Sie legte ihren Propusk aus Saratow vor, aber der Leutnant blickte nur flüchtig hinein.
Er hob den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Auf den Gedanken, sie zu fragen, wie sie an Saburow geraten sei, kam er nicht. Der schlichte Bericht dieser verängstigten Seele hatte ihn tiefer bewegt als der Film mit Heidemarie Hatheyer, den er kürzlich im Lazarett gesehen hatte.
»Wlassow«, sagte er, »ja, ich kenne den Aufruf, den Sie meinen. Ich habe ihn selbst hier in der Stadt verbreitet. Das Echo übertraf alle meine Erwartungen. Sie werden es kaum glauben. Ein paar Hundert Mann haben sich noch am gleichen Tag zum Eintritt in die russische Befreiungsarmee gemeldet. Ich glaube, wir stehen vor einem Wendepunkt des Krieges.«
»Das glaube ich auch«, dachte die Rasumowa, doch sie dachte dabei an die Worte Oberst Michailows: Zwischen Don und Wolga …
Leutnant Simmroth kratzte sich hinter dem Ohr, wie immer, wenn er angestrengt überlegte. Dieses Mädchen war nicht nur berückend schön, sondern offenbar auch ungewöhnlich intelligent. Eine Fremdsprachenlehrerin! War es nicht wie ein Wink des Schicksals, dass sie ausgerechnet hierher zu ihm gebracht worden war? Erst vor Kurzem hatte Hauptmann von Trollsfeld, der Hauptinitiator der Wlassow-Bewegung im OKW, hier Station gemacht. Mit aller Eindringlichkeit hatte er gebeten, ihn sofort zu verständigen, wenn Personen – auch Frauen mit deutschen Sprachkenntnissen – ausfindig gemacht würden, die ihm bei seiner Arbeit nützlich sein könnten, und hier war eine Frau, auf die dies sicherlich zutraf.
Leutnant Simmroth stand auf. Der starke Wein vor dem Mittagessen übte eine beschwingende Wirkung auf ihn aus. Überdies war Eile geboten. Wenn dieser Wlassow nicht vor Eintritt des Winters zum Zug kam, war der Krieg im Osten verloren. Das heraufziehende Unwetter zeichnete sich für nüchterne Beobachter bereits deutlich ab.
Sonderführer Freilinger war der gleichen Ansicht. Er war beim Artillerie-Kommandeur des 49. Gebirgs-A.K., dem weit bekannten Ski-Winkler, gewesen und hatte an den verlustreichen Kämpfen im Waldkaukasus teilgenommen. Nein, von schnellen Siegen war nicht mehr die Rede.
Als Leutnant Simmroth im Haus verschwunden war, um sein Gespräch mit OKW/WPR Abteilung IV zu führen, sagte Freilinger zu Sonja Rasumowa:
»Merkwürdig – wir sitzen hier auf einer russischen Veranda an einem russischen Tisch, und Sie als Russin kommen als Flüchtling zu uns.«
»Gefällt es Ihnen nicht in Russland?«, fragte Sonja.
»Schon«, sagte er. »Vor allem der Kaukasus hat es mir angetan. Aber mich friert – auch bei der größten Hitze. Verstehen Sie das, Fräulein …«
»Sonja Petrowna.« Sie lächelte versonnen. »Ja, Herr Offizier, ich glaube, ich kann es verstehen. So fremd und so weit nach Hause.«
Er nickte schweigend. Diese Russin aus Saratow hatte die Situation treffend in Worte gefasst. Mit Erleichterung dachte er daran, dass er am Nachmittag mit der Kuriermaschine abfliegen würde. Dieses ganze Land kam ihm vor, als sei es unterminiert und könne jede Minute hochgehen. Nein, dann lieber noch Nordafrika oder der Balkan, nur nie wieder diese Endlosigkeit, in der sich ganze Armeen verlieren konnten!
Die Rasumowa warf einen kurzen Seitenblick auf das ernste Gesicht des Offiziers. »Diese Deutschen«, dachte sie verächtlich, »was für armselige Gegner!« Wenn alle so waren und ihr Herz auf der Zunge trugen, würde sie leichtes Spiel haben. Hatte es denn nicht schon den Anschein, als sei sie an der richtigen Stelle gelandet? Jedes Wort hatte man ihr geglaubt. Auch damals, im Dezember, als Hitlers Leibstandarte in Rostow eingedrungen war, hatte sie ähnliche Erfahrungen gemacht – sogar bei der SS, die als Elitetruppe galt. Es reizte sie, dem Offizier, dessen Rang sie nicht kannte, noch mehr Lügen zu erzählen, von Saratow, der Schule und ihrer alten Mutter, die mittlerweile sicherlich vom NKWD verhaftet worden war. Aber sie entsann sich des ersten Lehrsatzes der Agentenschule, niemals über mehr als das für die Arbeit Erforderliche zu sprechen, und sie schwieg.
Auch Freilinger, Wortberichter der Staffel beim Oberbefehlshaber des Heeres, sagte nichts mehr. Er fühlte sich beunruhigt, fast beklommen in der Nähe der schönen Russin. Ihr schwarzes Haar schimmerte seidig. Mit unnachahmlicher Gebärde strich sie eine Strähne aus der Stirn. Wie bleich dieses schmale, nachdenklich verschlossene Gesicht war! Die zart geschwungenen Lippen, die keine Spur von Schminke zeigten, waren fest zusammengepresst wie aus Trotz oder vor innerem Schmerz. Er versuchte einen Blick von ihr einzufangen, aber sie senkte sofort die dunkelbewimperten Lider. Armes scheues Kind! Sicherlich war sie noch völlig verstört von den Schrecken der Flucht durch die Linien. Darüber hatte sie nichts gesagt – kein Wort, obgleich es das Schlimmste gewesen sein musste. Herb und stolz erschien sie, die Tochter eines Riesenlandes, das von Polen bis an die Küste des pazifischen Ozeans reichte. Über so ein Wesen einen Roman zu schreiben, wäre eine reizvollere Aufgabe als das Verfassen von Kampfberichten, für die man sich in der vorderen Linie Informationen holen musste. Wieder blickte er sie prüfend an. Ihre abweisende Zurückhaltung beruhte wohl auf einem tief verwurzelten Misstrauen gegen die Aggressoren, bei denen sie Zuflucht hatte suchen müssen. Sicherlich war sie bis zur Stunde ihrer Flucht eine gläubige Bolschewikin gewesen und fand sich noch nicht zurecht in der fremden Umwelt der Feinde.
Als der Leutnant, der eigentlich für seinen Rang etwas zu alt schien, auf die Veranda zurückkehrte, schaute die Rasumowa mit einem Ausdruck argwöhnischer Wachsamkeit auf. Was hatte ihn so lange im Haus festgehalten? War sie in eine Falle geraten? War die Feldgendarmerie schon auf dem Weg?
Leutnant Simmroth ahnte nicht, welche Wirkung seine geheimnisvolle Miene bei der vermeintlichen jungen Lehrerin aus Saratow hervorgerufen hatte. Sein Ferngespräch mit Hauptmann von Trollsfeld beim OKW in Berlin war nach wenigen Minuten zustande gekommen. Die Blitzmädchen in den Vermittlungen mochten ihn gern wegen der netten, albernen Scherze, mit denen er seine Bitten um rasche Verbindung zu würzen pflegte. Stets fertigten sie ihn bevorzugt ab und unterbrachen selbst dann nicht, wenn eine aufgeregte Stimme »Ausnahme – Ausnahme!« in den Hörer schrie.
»Herr Freilinger«, sagte der Leutnant, »halten Sie sich fest. Sie werden in Gesellschaft fliegen. Sie werden nämlich Fräulein Rasumowa nach Berlin begleiten. Befehl vom OKW/WPR-Ostabteilung. Was sagen Sie nun?« Er lachte kurz auf. »Na, jetzt sind Sie platt, was? Und Sie, mein Fräulein? Überrascht, wie? Sie wollen doch für General Wlassow arbeiten, nicht wahr?«
Sonja schluckte krampfhaft, völlig verwirrt angesichts so viel unerklärlichen Eifers und der unfassbaren Fügung, dass sie nun ohne ihr Zutun buchstäblich im Flug an ihr Ziel gelangen sollte. Doch dann kam ihr zu Bewusstsein, dass hier Zusammenhänge vorlagen, die sie zunächst nicht durchschauen konnte, und dass den kleinen, betriebsamen Mann in der Uniform eines deutschen Leutnants eine ungeheure Sorge belastete. Diese Umstände waren es wohl, denen sie ihr unerwartetes Glück verdankte.
Der Leutnant forderte ihren Propusk. Sie reichte den gefälschten Pass über den Tisch, wütend auf sich selbst, weil ihre Hand zitterte – die Hand, die den schweren Nagant-Revolver sicher führen und jeden Schuss ins Schwarze feuern konnte.
Leutnant Simmroth eilte wieder ins Haus. Der Sonderausweis musste ausgefertigt werden. Außerdem brauchte er Saburow. In diesem Fähnchen konnte die Russin nicht nach Berlin fliegen, und niemand verstand es so wie Iwan Iurjewitsch, auf dem Schwarzen Markt etwas einzuhandeln. Tauschobjekte hatte man ausreichend zur Hand: Feuersteine, Salz, Nähnadeln und Fotos deutscher Filmstars, die besonders bei den Frauen begehrt waren.
Wenn einer der Piloten oder ein Mann vom Bodenpersonal die Baracke betrat, musste er die Tür festhalten, so heftig fegte der Ostwind über das weite Rollfeld. Steppenhexen, kugeliges, dürres Gesträuch, trieben geisterhaft heran und schlugen wie ermattete Hände gegen die Barackenwand.
»Das wird eine stürmische Luftfahrt werden«, sagte Sonderführer Freilinger. »Sind Sie überhaupt schon einmal geflogen, Fräulein Rasumowa?«
»Es heißt Sonja Petrowna«, verbesserte sie. »Geflogen – nein, niemals.«
Freilinger zeigte sich besorgt. »Hoffentlich werden Sie nicht luftkrank.«
»Ich habe keine Angst«, sagte sie mit leisem Lachen. »Die Schiffe auf der Wolga schaukeln auch, wenn es stürmisch ist. Ich bin nie seekrank geworden, Herr Offizier.«
Freilinger blickte wieder durchs Fenster. Sie warteten seit einer halben Stunde in der Kantinenbaracke. Die große He 111, mit der sie fliegen sollten, war startklar, aber die Kuriermaschine aus Pitomnik, dem Flugplatz der in Stalingrad kämpfenden 6. Armee, war noch nicht eingetroffen.
Freilinger nahm das Gespräch, das sie vor der Abfahrt von Simmroths Quartier begonnen hatten, wieder auf. Er hatte der aufmerksam lauschenden Russin berichtet, welche Aufregung im Mai im Hauptquartier der Nordarmee entstanden war, als es hieß, General Andrej Andrejewitsch Wlassow, Oberkommandierender der 2. sowjetischen Stoßarmee, habe die Wolchow-Sümpfe verlassen und sich aus freien Stücken in Gefangenschaft begeben. Die Aufregung war begreiflich gewesen, denn General Wlassow, der Retter Moskaus und Träger des Ordens der Roten Fahne, stand im Ruf, einer der fähigsten Heerführer der Roten Armee zu sein. Noch hatte niemand geahnt, was den General bewogen hatte, den 30 000 in den Sümpfen verwesenden Toten seiner Armee den Rücken zu kehren und zum Feind überzulaufen.
Freilinger, der damals im Nordabschnitt gewesen war, hatte den hünenhaften Wlassow mit der schwarz umrandeten Hornbrille an der Seite des deutschen Oberbefehlshabers, des Generals Lindemann, gesehen. Der eine grauhaarig, straff aufgerichtet, in korrekter feldgrauer Uniform mit allen Orden und dem goldenen Eichenlaub auf den roten Kragenspiegeln – der andere in zerschlissenem Erdbraun mit verschimmelten Stiefeln, das kantige Gesicht eingefallen, um die fleischigen Lippen einen bitteren Zug.
Sonja hatte den abtrünnigen General anders in der Erinnerung. Sie hatte ihn zweimal in Moskau gesehen: einmal in jenen schwarzen Oktobertagen, als Wlassow von Stalin den Befehl erhalten hatte, die 20. Armee aus dem Nichts aufzustellen und die deutschen Angriffsspitzen aufzuhalten. Im Dezember, als der »Verräter« aus der Hand des Generalissimus den Orden der Roten Fahne entgegengenommen hatte, war die Bedrohung Moskaus mithilfe der sibirischen Divisionen und des gnadenlosen Winters beseitigt gewesen. Damals hatte die Hauptstadt der Sowjetunion General Wlassow als Helden gefeiert. Fünf Monate später war dieser Mann zu den Feinden des Sowjetvolkes übergelaufen, und seither schlug er die Werbetrommel für seine Armee aus Kollaborateuren.
»Wlassow hat recht«, sagte Sonderführer Freilinger. »Russland kann nur durch die Russen selbst besiegt werden.«
Bevor Sonja dazukam, diese unanfechtbare Feststellung zu bestätigen, schwoll draußen über dem Flugfeld Motorengeräusch an. Das Geräusch verebbte, die Maschine aus Pitomnik setzte holpernd auf.
Eine Ordonnanz erschien in der Kantine und rief den Sonderführer und seine in einen Schwarzmarkt-Mantel gehüllte Begleiterin zum Flug nach Berlin aufs Rollfeld hinaus.
»Kommen Sie, Sonja Petrowna«, sagte Freilinger, schon völlig vertraut mit seiner Beschützerrolle.
Sonja stand auf. Ihre Lippen bewegten sich.
»Sagten Sie etwas?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Die Formel »sa Rodinu – sa Stalina« war nicht für deutsche Ohren bestimmt.