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Erste Auflage November 2021
© 2021 Marina Mare
Covergestaltung: Vera Cort
Coverfoto: Agenturfoto, mit Model gestellt.
Buchsatz: Werbetext Wuppertal
Lektorat: Lucien Deprijck

Herausgeber:
ML Books, Bad Aibling & Wuppertal
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7557-2074-4

Für Verena, Maren, Ines, Roswitha & Nadine.

Was bisher geschah ...

Dieser Roman ist die Fortsetzung des Romans

Giertochter, Gespensterkind. Ein Binge-Eating-Roman.

Nach der Trennung von ihrem Freund Patrick steht Lena plötzlich alleine da und versucht, die Leere mit Essen zu füllen. Sie betäubt sich mit Fressanfällen, ihr Kummer beult sich immer mehr nach außen, doch niemand versteht die Hilfeschreie ihres Körpers. Nicht einmal ihre selbst übergewichtige Mutter, von der sie immer wieder mit der toten Schwester verglichen und verbal verletzt wird.

Während die Mutter sie zu Diäten überreden will, erkennt Lena, dass sie unter Binge Eating leidet, einer Essstörung, die zwar häufig, aber im Bewusstsein der Öffentlichkeit kaum vertreten ist.

Diese Erkenntnis bringt jedoch keine Besserung, sondern Lena gerät nach einer unglücklichen Affäre immer tiefer in die Sucht, bis sie schließlich in der Silvesternacht Claudis halben Kühlschrank leert und auffliegt. Die Freundinnen trennen sich im Streit. Lena schwänzt die Uni und betäubt jedes Gefühl mit Essen.

Erst als ihr Cousin Achim sie in verzweifeltem Zustand nach einem Fressanfall erwischt, lässt sie ihn hinter ihre perfekte Fassade blicken und ihr wird bewusst, dass sie Hilfe braucht.

Triggerwarnung

Das vorliegende Buch beschreibt eine behandlungsbedürftige Essstörung mit all ihren Tiefpunkten, Ursachen und Begleiterscheinungen, damit Menschen verstehen können.

Inhalt

  1. Die Spiegelwahrheit war nicht taktvoll
  2. Das Gespenst Sarah oder Du hast das damals ja nicht mitgekriegt
  3. Das Loch fühlt sich gut an
  4. Bitte pass auf dich auf
  5. Trauer, Ohnmacht und Flucht aus dem Körper
  6. Die schwarzen Klauen aus ihren Träumen
  7. Käseglockenwelt oder Ein Haus mit hundert Essgestörten
  8. Du machst hier dein Ding zu Ende
  9. Sie alleine haben das erreicht
  10. Du wirst nicht glauben, was passiert ist

Vorspann

Lena saß in der Schwebebahn und ließ das vertraute Stadtbild an sich vorbeiziehen. Jetzt im Frühjahr fiel ihr besonders auf, wie grün diese Stadt war. Zwischen den Häusern, die sich eng an den Berg schmiegten, ragten Bäume hervor und die Höhen waren alle bewaldet. Unter ihr floss die Wupper gemächlich dahin und Fischreiher wateten im Wasser, ohne sich vom Rattern der Bahn beirren zu lassen. Auch Lena ließ sich nicht mehr beirren – sie mochte die Schwebebahn inzwischen, hatte sich an das Rattern und Schaukeln gewöhnt und wollte das schnelle Vorwärtskommen unabhängig von Ampeln und Verkehrsstaus nicht mehr missen.

Am Hauptbahnhof stieg sie aus, ihre Füße trugen sie die Treppe hinunter, sie lief unberührt an der Gruppe von Obdachlosen und Drogenabhängigen vorbei. Am Eingang zum Bahnhofstunnel standen die Zeugen Jehovas. Drei Frauen waren es heute, darunter auch ein junges Mädchen, die dort verharrten in ihren altmodischen Röcken und mahnend ihre »Wachttürme« hochhielten. Sie waren täglich hier und aus Lenas Bahnhofsbild nicht wegzudenken.

Lena lief weiter den Fußgängertunnel hinauf in Richtung der Gleise. Ein paar Läden hatten die Besitzer gewechselt, mitten im Tunnel befand sich neuerdings ein Bratwurststand und oben im Bahnhof gab es jetzt einen McDonald’s. Sonst hatte sich nicht viel verändert, seit sie das erste Mal diesen Weg gegangen war. Die alte Türkin bot wie damals auf einer Decke ausgebreiteten Schmuck an. Heute hatte sie sich direkt neben dem Bratwurststand platziert und blickte dem orange gekleideten Mann mit dem Reinigungswagen hinterher, der eine nasse Wischspur auf den Bodenplatten vor ihr hinterließ.

Lena nahm die Rolltreppe zum Bahnhofsvorplatz. Sie mochte diese Rolltreppe, weil man von unten beim Hochfahren nur die Wolken sah und es so schien, als führe sie direkt in den Himmel. Erst auf den letzten Stufen kamen die Straße und das große Hotelgebäude zum Vorschein. Die Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz zu ihrer Rechten bescheinigte ihr Pünktlichkeit.

Sie lief den Bürgersteig entlang, am Hotel und an der Eisdiele vorbei. Angst hatte sie nicht mehr vor diesem Weg, aber ein kleines bisschen Nervosität blieb wohl immer. Heute wollte sie das ansprechen, was ihr schon seit einiger Zeit durch den Kopf ging, deswegen verspürte sie doch eine leichte Aufregung, je mehr sie sich dem gekachelten Haus näherte. Das Wort auf dem Klingelknopf störte sie schon lange nicht mehr. Die Tür summte und ließ sich aufdrücken. Im Flur stand die Sekretärin, Lena sagte ihren Text auf.

»Ich habe einen Termin bei Frau ...«

Die Sekretärin unterbrach sie mit einem »Moment bitte«, ging in ihr Büro und telefonierte: »Die Frau Pfannkuch ist hier für Sie.«

Kurze Zeit später kam sie zurück. »Sie können direkt runtergehen.«

»Okay, danke.« Lena lief die Treppe hinunter. Die Tür ihrer Therapeutin stand bereits offen, diese kam ihr entgegen und gab ihr lächelnd die Hand.

Lena setzte sich auf den Stuhl am Fenster, an dem sie immer saß, schlug die Beine übereinander und legte ihre Hände in den Schoß. Die Therapeutin setzte sich ihr gegenüber. Der Anfang war immer das Schwierigste, fand Lena.

»Wie geht es Ihnen?«

»Gut«, sagte sie, »viel zu gut.« Sie machte eine kurze Pause. Vielleicht war es besser, gleich damit herauszurücken. »Ich wollte Ihnen etwas sagen.«

Die Therapeutin sah sie erwartungsvoll an.

Lena holte tief Luft. Ihr Blick glitt über den Beistelltisch mit dem Häkeldeckchen und dem bunten Kästchen, auf dem »Danke für Ihre Spende!« stand. Sie hatte nie etwas hineingeworfen. Vielleicht hätte sie es mal tun müssen, kam ihr in den Sinn, aber sie war nie dazu aufgefordert worden. Und sie hätte sich vielleicht gar nicht getraut, etwas zu machen, was nicht dem normalen Ablauf der Therapiestunden entsprach.

Handgeben, Hinsetzen, Reden, Vereinbarung eines neuen Termins, Aufstehen, Handgeben, Gehen – so war es immer und alles andere hätte diesen Ablauf nur gestört.

Sie wandte ihren Blick vom Kästchen ab und der Therapeutin zu.

»Ich ... also mir geht es ja in letzter Zeit wirklich gut und ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht mehr so genau weiß, was ich Ihnen erzählen soll. Mit dem Essen ... das ist nicht mehr so ein Problem und in letzter Zeit habe ich Ihnen ja fast nur von normalen Alltagsproblemen erzählt. Also, was ich damit sagen will: Ich glaube, ich brauche das hier nicht mehr.«

Jetzt war es raus. Lena atmete auf.

»Das ist gut, dass Sie das sagen.« Die Therapeutin lächelte. »Wenn Sie das jetzt nicht gesagt hätten, hätte ich Ihnen das heute gesagt.«

Lena schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. War sie der Therapeutin vielleicht schon auf die Nerven gegangen, weil sie gar keine richtigen Probleme mehr hatte?

Die Therapeutin wirkte nicht genervt. Sie blickte Lena unverbindlich-freundlich an wie immer. »Okay, dann ist das jetzt heute unsere letzte Stunde.«

Lena erschrak innerlich. Die letzte Stunde.

Klar, sie brauchte keine Therapie mehr, aber die Vorstellung, so gar nicht mehr hierherkommen zu dürfen, war trotzdem seltsam. Und wenn es ihr doch wieder schlechter ginge? Aber andererseits: Hatte sie in den vergangenen Wochen irgendetwas erzählt, was wirklich ernsthaft problematisch war? Nein, hatte sie nicht. Es lief plötzlich alles gut.

Ihr Leben war so ... normal geworden.

»Das war eine lange Zeit, die Sie bei mir waren, nicht?«

Lena nickte. Ja, drei Jahre waren eine lange Zeit und sie hatte viel Enttäuschung, Frust, Verzweiflung und Trauer bei dieser Frau abgeladen; aber ihr auch von den kleinen Erfolgen erzählt, von ihren Fortschritten. Hier hatte sie Mut geschöpft, ihre Ziele weiterzuverfolgen.

Nun war es vorbei. Das Ende stand da, so wie sie es erwartet hatte. Trotzdem fühlte es sich merkwürdig an, jetzt, wo der Moment gekommen war.

Lena konnte sich noch ganz genau an ihre erste Therapiestunde erinnern. Sie war aufgeregt und voller Angst gewesen. Doch irgendwann schien es ihr fast normal zu sein, zu einer Therapeutin zu gehen.

Es war so viel seit damals passiert.

So Schlimmes. So Schönes. So viel.

1 . Die Spiegelwahrheit war nicht taktvoll

Geschafft! Lena atmete tief durch und Erleichterung machte sich in ihrem Körper breit. Sie hatte die letzte Prüfung hinter sich gebracht, vor wenigen Minuten in der Uni ihre Noten erfahren und nun ihr Vordiplom in der Tasche.

Der ganze Stress der letzten Wochen fiel von ihr ab, während sie die Straße entlang Richtung Innenstadt lief. Die untergehende Oktobersonne tauchte die Zweckbauten und den Asphalt in ein warmes Licht, während Lena eine Kurzmitteilung mit der freudigen Nachricht an ihre Mutter in ihr Handy tippte. Sie spürte plötzlich sehr viel Energie in sich, obwohl sie in den letzten Tagen nur wenig Schlaf gefunden hatte. Aber Erleichterung und Freude füllten ihren ganzen Körper und verdrängten die Müdigkeit.

Die Hälfte des Studiums war geschafft – obwohl es ihr am Anfang des Jahres noch so schlecht gegangen war, dass sie kaum das Haus verlassen hatte.

Und trotz allem hatte sie super Noten erhalten. Nun war sie im Hauptstudium. Und das musste gefeiert werden.

Lena wählte einen der vorderen Einträge in ihrem Handy. Bei ihrem Cousin Achim hatte sie sich in den letzten zwei Wochen gar nicht gemeldet, aber er würde bestimmt mit ihr zur Feier des Tages in die Kneipe gehen.

»Achim? Ich hab mein Vordiplom!«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Hast du vielleicht Lust, mit mir darauf anzustoßen? Ich lade dich ein.«

»Hm, normalerweise immer gerne. Aber ich habe morgen einen Unterrichtsbesuch und bin hier noch mitten in den Vorbereitungen. Tut mir leid, aber das geht echt nicht. Ein anderes Mal vielleicht.«

»Na ja, okay, macht nichts.«

Seufzend steckte Lena das Handy zurück in ihre Tasche. Wenn sie schon nicht mit Achim in die Kneipe ging, hätte sie wenigstens gerne eine Flasche Sekt gekauft und wäre damit zu ihrer Nachbarin Henrike gegangen, um mit ihr anzustoßen. Aber Henrike war für eine Woche mit ihrem Freund im Urlaub.

Und wer sollte sonst an einem Montagabend für sie Zeit haben? Zwar kannte sie inzwischen einige Leute in der Stadt, aber das waren alles keine so engen Freunde, dass man sie spontan hätte anrufen können. Von den meisten hatte sie nicht mal eine Telefonnummer.

Es war eine typische Situation, wie Lena sie schon so oft erlebt hatte, aber trotzdem traf es sie jedes Mal.

»Du hast keine Freunde«, pochte es in ihr. »Du hast keinen, der sich mit dir freut.«

Dann feiere ich eben alleine, kam es ihr in den Sinn. Sie würde ein bisschen durch die Stadt schlendern. Sich vielleicht etwas Schönes kaufen. Kein Essen und keine Klamotten natürlich, denn solche Einkäufe waren nicht zum Feiern, aber eine neue CD vielleicht oder ein Buch.

Sie durfte sich ihre gute Laune nicht davon verderben lassen, dass niemand für sie Zeit hatte, das hatte sie schon zu oft gemacht und sie wusste, wie das enden würde. Also schlenderte sie durch die Fußgängerzone, guckte in dieses Schaufenster und in jenes, hatte aber gar nicht so richtig Lust, in einen Laden hineinzugehen und etwas zu kaufen.

Sie spürte, wie Schwermut in ihr aufstieg und die Erleichterung über die bestandenen Prüfungen bedrohte.

Oder sollte sie sich doch etwas Schönes zum Anziehen kaufen? Um dann mal wieder feststellen zu müssen, dass ihr dicker Hintern nicht in die Hose passte oder ihre Speckrollen am Bauch sich in einem engen Oberteil zu sehr abzeichneten? Um sich von der hämischen Magerkeit der Schaufensterpuppen verspotten zu lassen? Nein, das war keine gute Idee.

Auf ein nettes Abendessen hätte sie Lust gehabt, denn zu Hause hatte sie nur Brot, aber der Gang in den Supermarkt erschien ihr auch zu gefährlich.

In solchen Momenten wünschte sie sich ihre Therapeutin herbei. »Und jetzt?«, hätte sie sie gerne gefragt. »Wie komme ich jetzt aus dieser Situation heraus, ohne zu fressen?«

»Hallo.«

Lena schrak aus ihren Gedanken hoch und drehte sich um. Hinter ihr stand Gertrud, die sie aus der Essstörungsgruppe der Frauenberatung kannte.

»Oh, hallo, wie geht’s dir?«

Gertrud nickte zaghaft, als sei das eine Antwort auf die Frage. Lena fiel wieder einmal auf, wie dünn Gertrud war und wie alt sie wirkte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sie für über siebzig gehalten, dabei war sie erst fünfundfünfzig Jahre alt. Die Bulimie hatte sie schneller altern lassen, hatte ihr eine blasse, faltige Haut, eingefallene Wangen und glasige Augen beschert.

»Und was machst du in der Stadt?«

Gertrud blickte zu Boden. »Es ist doch Montag.«

»Ja, aber die Essstörungsgruppe ist doch erst wieder nächste Woche.«

»Ich weiß, aber ich bin jeden Montag hier. Mein Mann denkt doch, dass ich im Nähkurs von der VHS bin.«

»Was? Du treibst dich jeden Montag zwei Stunden in der Stadt herum und gibst vor zum Nähkurs zu gehen, damit du einmal im Monat unbemerkt zur Essstörungsgruppe gehen kannst?«

»Ja, das hab ich doch schon mal erzählt.«

»Aber ich wusste nicht, dass du deshalb jede Woche ... Ich dachte, du machst das nur, wenn die Essstörungsgruppe auch wirklich stattfindet?«

Gertrud schüttelte den Kopf.

»Undwas machst du dann immer in den zwei Stunden?«

»Durch die Stadt schlendern, gucken – ich versuche irgendwie die Zeit herumzukriegen.«

Zwei Menschen, die beide gelangweilt durch die Stadt liefen und nichts mit sich anzufangen wussten – Lena glaubte nicht an Zufälle.

»Hast du vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?«

Gertrud schien überrascht. »Nein, nein, ich will dich nicht abhalten vom Einkaufen oder was du vorhast. Du musst jetzt nicht wegen mir ...«

Lena lächelte. »Nicht wegen dir, auch wegen mir. Ich habe vorhin erfahren, dass ich mein Vordiplom bestanden habe, aber habe niemanden, der mit mir feiert.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Also was meinst du? Setzen wir uns in ein Café?«

Gertrud nickte und über ihr Gesicht huschte ein Lächeln.

Eine Viertelstunde später saßen sie im Café Engel. Das ›Engel‹ war nur wenige Meter von der VHS entfernt, wo Gertruds Mann sie hinterher abholen würde. Früher war in dem alten Gründerzeitgebäude mit den hohen Decken mal eine Apotheke gewesen – die große, dunkle Holztheke erinnerte noch daran.

Sie hatten sich einen Tisch im Hinterraum gesucht, dort, wo sie nicht direkt im Blickfeld der hereinkommenden Gäste saßen. Lena hatte sich eine Cola light bestellt und Gertrud einen Pfefferminztee. Symptomatisch irgendwie, dass sie beide kalorienfreie Getränke bestellt hatten, dachte Lena. Sie beobachtete, wie Gertrud in ihrem Tee herumrührte, ohne Zucker hineingegeben zu haben.

Sie selbst nahm einen Schluck Cola light. »Darf ich dich fragen, wieso du die Essstörungsgruppe vor deinem Mann verheimlichst?«

»Er würde mich ausschimpfen und das nicht verstehen.«

»Aber er weiß doch von deiner Essstörung?«

»Nein, er denkt, ich habe chronische Magenprobleme.«

»Du hast ihm nie etwas gesagt?«

Gertrud schüttelte den Kopf.

»Weiß es sonst jemand?«

»Nur die aus der Gruppe.«

Lena konnte nicht glauben, dass man vierzig Jahre lang seine Bulimie verschweigen konnte. Vielleicht war Gertrud deshalb in der Gruppe immer so ruhig. Meistens hörte sie nur zu und hatte noch nie so richtig von sich selbst erzählt.

»Aber wenn du mal mit deinem Mann reden würdest? Das ist doch schrecklich, wenn man so gar keinen zum Reden hat.«

Gertrud umfasste mit den Händen ihr Teeglas. »Du kennst meinen Mann nicht. Er würde das nicht hören wollen.«

»Aber ihm kann das doch nicht egal sein, ich meine, wenn er dich liebt ...«

»Mein Mann liebt mich nicht.«

»Was?«

Gertrud hielt einen Moment inne und nahm einen Schluck Tee, bevor sie leise weitersprach. »Er hat mich nur geheiratet, weil seine Eltern das von ihm erwartet haben. Das hat er mir damals zwei Tage vor unserer Hochzeit gesagt. Ich dachte, dass wir uns vielleicht aneinander gewöhnen und uns irgendwann lieben würden. Aber er liebt mich bis heute nicht.«

Lena schluckte. »Das ist ja schrecklich. Liebst du ihn denn?«

Gertrud schüttelte den Kopf. »Früher vielleicht, aber vermutlich habe ich mir das auch eingeredet. Ich war schon sehr alt für damalige Verhältnisse und war froh, dass mich überhaupt jemand zur Frau wollte. Oh Gott, warum erzähle ich dir das alles? Tut mir leid.«

»Hey, das ist doch in Ordnung. Ich wollte dir mit meinen Fragen auch nicht zu nahe treten. Aber jetzt verstehe ich, warum du dir einen Nähkurs ausgedacht hast.«

Gertrud starrte auf die Maserung der Tischoberfläche. Dann klammerte sie sich an ihr Teeglas. »Im Sommer war ich nicht bei der Gruppe, weil die Volkshochschule da ja auch Pause hatte. Manchmal kaufe ich in der Stadt irgendeine Tischdecke, schneide das Etikett ab und sage meinem Mann, dass ich die im Kurs genäht habe. Verrückt, oder?«

Lena nickte. Das musste ja schrecklich sein, mit einem Mann zusammenzuleben, der einen von Anfang an nicht geliebt hat.

»Entschuldige bitte, wenn ich zu indiskret bin – aber hast du schon mal darüber nachgedacht, dich von ihm zu trennen?«

»Das geht nicht. Ich war ja nie richtig berufstätig, habe nicht einmal eine abgeschlossene Ausbildung.«

»Aber wenn du dir einen Anwalt nehmen ...«

»Das geht auf gar keinen Fall!« Gertrud war richtig energisch geworden und Lena sah sie erschrocken an.

»Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich finde es nur so schade, dass du niemanden zum Reden hast.«

Gertrud rührte in ihrem Tee. »Schon gut. Kannst du denn mit jemandem über die Essstörung reden?«

»Ich habe ja seit einem halben Jahr eine Therapeutin. Ansonsten weiß mein Cousin davon, aber seit ich in Therapie bin, versuche ich meistens, ihn mit meinen Problemen in Ruhe zu lassen. Der Rest meiner Familie kann oder will das nicht verstehen. Die sehen nur, dass ich immer dicker werde. Also versuche ich es auch nicht mehr.«

Gertrud rührte weiter in ihrem Tee und schob sich dann einen Löffel voll in den Mund, als ob sie eine Suppe essen würde. »Und hilft dir die Therapie?«

Lena nahm einen Schluck Cola light, schmeckte kühl den Süßstoff, spürte die Kohlensäure und das Aroma der Zitronenscheibe. »Na ja, was heißt helfen? Schon. Ich verkrieche mich nicht mehr nur in meiner Wohnung und habe mir wieder Aktivitäten gesucht, die mir Spaß machen. Ich fresse auch nicht mehr ganz so viel. Aber zugenommen habe ich trotzdem weiter.«

»Du wirkst immer so selbstbewusst. Auch in der Gruppe. Das hab ich vom ersten Tag an gedacht, als ich dich gesehen habe.«

Lena versuchte ein Lächeln. »Irgendwie muss man die Rundungen ja überspielen. Ich bin inzwischen übergewichtig und ich gefalle mir so wirklich überhaupt nicht. Aber durch meine Therapeutin ist mir auch etwas klar geworden: Früher habe ich immer gedacht, dass ich erst abnehmen muss und dann automatisch glücklich werde. Inzwischen denke ich eben, dass es umgekehrt ist: Erst muss ich mein Leben in den Griff kriegen und glücklich werden – dann nehme ich vielleicht von alleine ab.«

»Das ist bestimmt eine gute Einstellung. Und worüber redest du so mit der Therapeutin?«

»Ach, über alles eigentlich. Übers Essen natürlich auch, aber meine Therapeutin sagt, dass das Essen ja nur ein Symptom sei, und deshalb sprechen wir mehr über die Situationen, in denen der Drang zu fressen stark wird.«

Sie schwiegen. Lena musste immer noch an Gertruds Mann denken. Sie hätte dieser Frau so gerne irgendwie geholfen.

»Jetzt haben wir noch gar nicht auf deine Prüfung angestoßen«, sagte Gertrud und hob ihr Glas mit einer letzten Pfütze Pfefferminztee.

Lena lachte und stieß mit ihrem Cola-light-Rest-Glas vorsichtig an Gertruds Teeglas.

»Auf dein Vordiplom!«

»Danke.«

Sie leerten ihre Gläser.

»Ich danke dir, Lena. Ich habe mich lange nicht so gut unterhalten.«

»Dafür brauchst du dich doch nicht zu bedanken.«

Gertrud blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich zahle besser schon, damit ich pünktlich an der VHS bin.«

Lena nickte und als ein paar Minuten später der Kellner mit der Rechnung kam und sie ihre Getränke zahlten, überlegte sie die ganze Zeit, ob sie sich trauen sollte zu fragen. Eigentlich fand sie ihre Idee gut, aber sie wollte Gertrud nicht überrumpeln.

Die nahm ihre Handtasche. »Ich danke dir sehr für dieses Treffen.«

»Ich hab grad gedacht, also, wenn du jeden Montag in der Stadt sein musst ... Ich habe montagabends nichts vor. Wenn du willst, können wir uns ja noch mal an einem Montag treffen. Nächste Woche ist ja die Gruppe, aber danach den Montag vielleicht.«

»Das würdest du tun? Gerne, aber ich will dir keine Umstände machen.«

»Ich fände es echt schön.«

»Wirklich? Dann machen wir das.«

»Wir können uns ja wieder hier im ›Engel‹ treffen. Aber nächste Woche sehen wir uns ja sowieso erst einmal in der Frauenberatung.«

Gertrud nickte. »So, ich muss mich beeilen. Tschüss Lena – und danke.«

Lena blickte ihr hinterher. Dann stand sie selbst auf und verließ das Lokal. Sie mochte Gertrud. Warum, wusste sie selbst nicht so genau. Denn diese Frau hätte ihre Mutter sein können. Dabei fiel ihr ein, dass sie ganz vergessen hatte, Gertrud nach Kindern zu fragen. Beim nächsten Mal vielleicht.

Das neue Semester begann und Lena packte ihr Leben voll. Denn je mehr Termine sie hatte, so dachte sie sich, desto weniger Zeit bliebe der Gier, die sie noch vor einem halben Jahr täglich dazu gebracht hatte, sich so viel Essen einzuverleiben, dass sie regelmäßig bewegungsunfähig auf ihrem Bett lag und sich nur noch in den Schlaf flüchten wollte.

Der Stundenplan in der Uni war straff und sie hatte zwei Nachmittage pro Woche einen Aushilfsjob in einem Architekturbüro in Erkrath angenommen, der ihr Spaß machte und auch endlich wieder etwas Geld einbrachte. Einmal pro Woche ging sie in der Mittagspause schnell von der Uni zur Therapiestunde in die Drogenberatung. Montagabends ging sie zur Essstörungsgruppe oder traf sich mit Gertrud im Café Engel. Dienstagabends belegte sie einen Standardtanzkurs an der Uni. Mittwochabends ging sie manchmal auf einen Tee zu ihrer Nachbarin Henrike hinüber.

Henrike studierte Sicherheitstechnik und so hatte Lena jemanden gefunden, mit dem sie sich über Gebäudeplanung und Haustechnik unterhalten konnte. Leider gehörte Henrike zu den Menschen, die lieber zu Hause herumsaßen, als in eine Kneipe zu gehen, und die Wochenenden waren ohnehin für ihre Fernbeziehung reserviert.

Donnerstagabends und freitagabends verbrachte Lena mit ihren Architekturentwürfen und ab und zu mit Achim. Manchmal auch mit der Gier. An den Wochenenden, denen die Struktur des Alltags fehlte, bestimmte die Gier noch viel zu oft ihr Leben. Dann suchte sie ihre Küche nach Essen ab und wenn sie nichts fand, ging sie in den Supermarkt, kaufte sich süße und fette Lebensmittel, schleppte sie nach Hause und verleibte sie sich ein. Die Fressanfälle waren ein süßer Rausch, doch der hielt nie lange an. Viel zu schnell wurde er von Bauchschmerzen und Selbstvorwürfen verdrängt. Sie fühlte sich mit ihrem unstillbaren Hunger als Versagerin. Dann lag sie auf dem Bett, neben sich ihren alten Känguru-Teddy mit seinem abgenutzten Fell, dem roten Ohr und und dem kleinen roten Cordteddy in der Bauchtasche, aber nicht einmal Kändy konnte ihr den Selbsthass nehmen.

Doch das zeigte sie niemandem. Auch Achim nicht. Schließlich hatte sie nun eine Therapeutin, die dafür zuständig war. Lena panzerte sich nach außen mit Selbstbewusstsein. Denn indem sie selbstbewusst schien, nahmen ihr die meisten Menschen ab, dass es ihr gut ging.

Den Tanzkurs hatte sie in der Hoffnung belegt, vielleicht etwas mehr Kontakt zu Studenten aus anderen Fachbereichen zu bekommen. Beschert hatte er ihr einen trotteligen Geschichtsstudenten als Tanzpartner, der zwar nett war, aber nicht tanzen konnte und sich lieber von ihr führen ließ. Er hieß Björn und anstatt sich auf die Schritte zu konzentrieren, konzentrierte er sich viel zu oft auf Lena. Sie dagegen schielte etwas neidisch zu den Studentinnen hinüber, die die besseren Tänzer erwischt hatten und auch die attraktiveren.

An einem Montag im November versuchte Lena, Björn den Rhythmus des Fox-Trott begreiflich zu machen. Wenn sie sich von ihm führen ließ, ging er jedes Mal gegen den Takt los. Also übernahm sie die Führung. Der Tag war nicht schön gewesen und der Abend hatte schon mit einem Fressanfall begonnen. Und weil sie Björn nicht ansehen mochte, die Bewunderung für sie in seinem Blick nicht wahrnehmen wollte, zog die Spiegelwand des Tanzsaals ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Hinter der Spiegelwand schien ein zweiter Raum zu sein, in dem die Menschen ebenfalls Fox-Trott tanzten. Eine zweite Lena, ein zweiter Björn.

Nein, das war nicht sie, die dort tanzte.

Das durfte sie nicht sein. Dieser dicke Hintern, der mit Björn durch den Raum foxtrottete. Dieser füllige Bauch. Ihr Profil, ihr Doppelkinn. Sie war so fett. Und daneben wirbelte der schlanke Tanzlehrer mit seiner Partnerin durch den Spiegel. In stolzer Haltung, mit Leichtigkeit und komplizierten Figuren. Andere Paare tanzten eher unbeholfen durch den Spiegel, aber sie waren wenigstens schlank dabei. Dieser fette Bauch, dieser fette Hintern, diese ganze fette Lena, das war das, wie andere Leute sie täglich sahen. Ihr wurde übel.

Spiegelwahrheit tanzte durch den Raum.

Björn grinste. Das war nicht sie, das konnte sie nicht sein. Sie, Lena, war doch immer schlank gewesen. Wer hatte ihr diesen dicken Bauch vor den Körper geschnallt und woher kamen dieser dicke Hintern, die dicken Beine? Lena und Björn drehten sich und mit jeder Drehung tauchte diese dicke Figur von Neuem im Spiegel auf. Immer wieder mit einem weiteren verachtenswerten Detail.

Sie schämte sich. Sie schämte sich vor dem Tanzlehrer, vor seiner Tanzpartnerin, vor den anderen. Nur vor Björn schämte sie sich nicht, denn der lächelte sie immer noch selig an, während sie energisch versuchte, seinen Körper im Takt zu führen.

Am liebsten wäre sie gegen den Spiegel gerannt, hätte ihn in tausend Stücke zerschlagen. Am liebsten wäre sie aus ihrem Körper geflohen, aus dieser dicken Hülle, die gar nicht zu ihr passte. Am liebsten wäre sie unsichtbar geworden, hätte sich in Luft aufgelöst.

Sie konnte zwar tanzen, aber mit diesem unförmigen Körper würde es nie gut aussehen. Weder im Spiegel noch in diesem Tanzsaal. Eins, zwei, drei-vier, eins, zwei, dreivier. Die Spiegelwahrheit war nicht taktvoll. Sie war hart, traf Lena mit voller Wucht und Selbsthass fraß sich durch die Fettschichten ihres Körpers.

»Manchmal wünschte ich, es hätte damals mit dem Kotzen geklappt, dann wäre ich jetzt nicht so dick.«

»So etwas darfst du nicht sagen.« Gertrud sah sie aus glasig-traurigen Augen an.

Lena bewegte einen Bierdeckel in ihren Händen. Sie brauchte etwas zum Festhalten. »Ich weiß, dass Bulimie auch keine Lösung gewesen wäre. Aber ich halte das nicht aus, so dick zu sein. Ich halte meinen eigenen Körper nicht aus.«

Gertrud nickte. »Das Gefühl kenne ich.«

»Aber bei Magersucht und Bulimie ist es ja meist nur das eingebildete Dicksein. Ich bin wirklich dick und deshalb halte ich meinen Körper nicht aus. Und die anderen Menschen halten ihn auch nicht aus, das sehe ich an ihren Blicken, sie sagen es nur nicht.«

»Aber so dick bist du doch nun auch nicht.«

Lena seufzte. Ihr BMI war noch nicht über dreißig, aber kurz davor. Und bei dem Gedanken an die vielen Kilos, die sie in eineinhalb Jahren zugenommen hatte, wurde ihr ganz anders. Sie war auf dem besten Weg zum krankhaften Übergewicht. Da half keine Beschwichtigung.

Sie–war – dick.

»Du würdest meinen Körper doch auch nicht haben wollen.«

»Ich würde am liebsten gar keinen Körper haben wollen«, sagte Gertrud leise.

Sie schwiegen. Die Montagabende im Café Engel waren etwas, worauf Lena sich freute, auch wenn es ihnen beiden nicht gut ging. Der Altersunterschied zwischen ihnen war groß, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Sie hatten beide ein Problem mit dem Essen und das schweißte zusammen. Die Essstörungsgespräche überwanden jede Altersgrenze, so wie auch die Essstörung selbst vor keinem Alter haltmachte.

Gertrud nippte an ihrem Tee. »Wieso kannst du eigentlich nicht erbrechen?«

Lena zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, ich habe es mehrmals versucht. Es ging nicht. Ich hab mir sogar selbst einen Löffel in den Hals gesteckt, aber es klappt einfach nicht. Irgendwie habe ich Hemmungen.«

»Trinkst du denn viel?«

»Nee, ich trinke total wenig. Ich esse eigentlich nur.«

»Du musst viel trinken, dann geht es leichter.« Erschrocken hielt Gertrud sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige bitte, ich hätte dir das nicht sagen dürfen, Lena. Bitte mach das jetzt nicht nach.«

»Du meinst, ich hätte einfach nur mehr trinken müssen? Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.«

Gertrud nickte. »Lena, wenn du das jetzt ausprobierst, fühle ich mich auf ewig schuldig. Tu es nicht, es ist schrecklich. Und beim Abnehmen hilft es auch nur bedingt. Lass es bitte.«

Lena konnte es kaum glauben. Sie hätte einfach trinken müssen? Was wäre gewesen, wenn sie das damals nach der Trennung von Patrick schon gewusst hätte? Wenn sie einfach mehr getrunken hätte, anstatt ihren Durst mit Obst zu löschen? Hätte sie dann jetzt Bulimie? Wäre nicht so dick, hätte dafür aber ständig Halsschmerzen, magensäureverätzte Zähne und Hamsterbacken vom Kotzen? Wären die letzten eineinhalb Jahre mit diesem Wissen anders verlaufen? Sie konnte nicht glauben, dass die simple Lösung ein paar Gläser Wasser gewesen wären. Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen? – Zum Glück war sie nicht selbst darauf gekommen!

»Keine Angst. Jetzt versuche ich es auch nicht mehr. Ich sehe ja in der Essstörungsgruppe, dass es den Bulimikern auch nicht besser geht als mir.«

Gertrud atmete auf. »Es ist alles nicht gut. Du musst lernen, andere Wege zu finden und die Probleme nicht über das Essen auszutragen.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich mache das schon zu lange. Ich glaube nicht, dass ich da noch zurückkann. Aber du, du bist noch so jung.«

»Sie ist etwas jünger als ich, hat die gleichen Fächer und irgendwie passt es einfach«, sagte Achim am Telefon.

»Das freut mich für dich, wirklich.«

»Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich ausgerechnet im Studienseminar eine neue Freundin finde. Ist schon witzig irgendwie. Aber wie geht es dir?«

Lena schluckte. »Och, gut soweit. Der Job in Erkrath ist ganz nett, die Kollegen auch. Und ich mache ja jetzt einen Tanzkurs.«

»Und die Uni, hast du inzwischen etwas mehr Kontakt zu deinen Kommilitonen?«

»Nein, nicht so richtig.«

»Hm, schade. Und was macht deine Therapie?«

»Achim, frag mich doch bitte nicht so aus! Nein, ich bin meine Essstörung noch nicht los. Ja, ich gehe noch zur Therapie.«

»Ich frage ja nur, weil ... Ich hab dich ja in letzter Zeit etwas vernachlässigt, das Referendariat ist einfach superstressig und dann kam noch das mit Yvonne dazwischen. Aber wenn du magst – ich hätte Donnerstagabend noch frei.«

»Lieb von dir, Achim. Aber ich bin Donnerstagabend schon mit Henrike verabredet. Mach dir mal keinen Kopf um mich und genieß erst einmal deine neue Liebe.«

»Meinst du wirklich?«

»Klar, wenn ich es doch sage.«

Der Dezember kam, Achim genoss seine neue Liebe, Björn genoss die Tanzstunden mit Lena, Henrike genoss die Wochenenden mit ihrem Freund, Lenas Kommilitoninnen genossen ihre Kneipen- und Discobesuche, Claudi genoss den Adventskalender, den ihr Olli gebastelt hatte und von dem sie Lena am Telefon vorschwärmte, ihre Großmutter genoss das Plätzchenbacken, ihre Mutter genoss das Glühweintrinken mit Freundinnen auf dem Weihnachtsmarkt und ihr Vater genoss die Ruhe, mit der er sich seiner Modelleisenbahn widmen konnte, während die Mutter auf dem Weihnachtsmarkt war.

Lena genoss die viele Schokolade nicht.

Es war, als würde sich alles wiederholen. Sie fraß und fraß und das Einzige, was sie ein bisschen genießen konnte, war, dass ihr wenigstens die Therapeutin einmal in der Woche zuhörte.

»Was ist mit Ihrer Mutter?«, fragte die Therapeutin.

Lena konnte sie nicht ansehen. Sie versuchte immer an der Therapeutin vorbeizugucken oder ihr Blick verfing sich in dem Häkeldeckchen und der Primel auf dem Beistelltisch.

»Sie ist so herrisch. Selbst am Telefon habe ich das Gefühl, dass sie durch die Leitung hindurch mein Gewicht kontrollieren will. Dabei hatte sie ihr eigenes Gewicht nie richtig im Griff. Dafür meint sie, den Rest der Familie kontrollieren zu müssen.«

»Und Ihr Vater?«

Lena blickte in ihren Schoß. Ihre Oberschenkel hatte sie übereinandergeschlagen. Die Hose saß eng.

»Ich glaube, mein Vater hat manchmal gerne jemanden, der ihm sagt, wo es langgeht. Dann muss er nicht selbst entscheiden. Er nimmt die herrische Art meiner Mutter so hin und wenn es ihm zu viel wird, zieht er sich zurück.«

»Und Ihr Bruder?«

»Der ist jetzt schon lange in Amerika. Ich glaube, den interessiert die Familie nicht mehr wirklich. Er hat seinen Aufenthalt ja auch verlängert. Aber Weihnachten kommt er wieder.«

Lena musste an Holger denken. Sie war gespannt auf ihr Wiedersehen. Ein bisschen Angst hatte sie auch, denn aus der schlanken, glücklichen Abiturientin-Schwester war eine dicke, unglückliche Studentin-Schwester geworden. Würde Holger etwas sagen? Oder lieber wie der Vater solchen Themen aus dem Weg gehen?

»Und welche Rolle spielen Sie dabei?«

»Was meinen Sie damit?«

»Ihre Eltern sind in Bielefeld, Sie wohnen seit zwei Jahren hier. Wo sehen Sie sich?«

»Eigentlich führe ich hier mein Leben und außer meinem Cousin weiß niemand wirklich, was das für ein Leben ist. Aber durch die Telefonate mit meiner Mutter und mit meiner Cousine ist es doch immer noch ein bisschen so, als würde meine Familie gar nicht weit weg sein. Ich bin mit meinen Gedanken oft da. Claudi erzählt mir immer von meinen Großeltern und dann bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich sie so selten besuche. Und meine Mutter macht mir auch oft Vorwürfe, dass ich nicht häufiger nach Bielefeld komme.«

»Und Ihr Vater?«

»Mit dem telefoniere ich nicht. Der ist nicht so gesprächig am Telefon.«

Lena suchte sich eine Stelle im Teppich, die sie fixieren konnte. Wenn sie der Therapeutin in die Augen sah, hatte sie das Gefühl, ihr noch tiefere Einblicke in ihr Leben zu geben, als sie es ohnehin schon tat. Und das wollte sie nicht.

»Das heißt, Sie nehmen sehr viel teil an dem, was bei Ihrer Verwandtschaft passiert. Aber Ihre Familie halten Sie vollkommen aus Ihrem Leben hier heraus, lassen Sie an einer Oberfläche abprallen?«

»Ja, so könnte man das sehen.«

»Wie finden Sie das?«

»Ich weiß nicht.«

»Finden Sie, dass das vom Gleichgewicht her stimmt?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich höre mir die Sorgen meiner Mutter an und nehme aus der Ferne an ihrem Leben teil, doch sie weiß von mir außer den Uninoten nur wenig. Aber sie will das ja auch gar nicht wissen.«

»Meinen Sie nicht, dass sie sich Gedanken um Sie macht?«

»Nur darum, dass ich dick werden könnte. Bin ich ja schon.«

»Dass Sie mit Ihrer Mutter reden, wäre eine Möglichkeit. Dass Sie sich selbst mehr abgrenzen und die Probleme ihrer Mutter nicht so an sich herankommen lassen, eine andere.«

Lena zuckte mit den Schultern. Es war schließlich ihre Mutter. Da konnte sie ja nicht einfach sagen, dass sie deren Sorgen nicht interessierten. Und mehr von sich erzählen wollte sie auch nicht. Schließlich wollte sie niemanden damit belasten. Es reichte schon, dass sie die Therapeutin wöchentlich zutextete.

»Was machen Sie denn für sich?«

»Wie ... für mich?«

»Nehmen Sie sich mal Zeit dazu, sich um sich selbst zu kümmern?«

»Ja, klar. Ich nehme mir Zeit für meine Architekturpläne. Und den Tanzkurs mache ich ja auch.«

»Entspannen Sie denn mal? Können Sie zwischendurch abschalten?«

»Nee, das ist mir aber auch nicht so wichtig. Ich bin schon glücklich, wenn ich meine Architekturmodelle bauen kann.«

»Tun Sie denn körperlich etwas für sich? Zum Beispiel in die Badewanne, Schwimmengehen, sich von oben bis unten eincremen und den Körper verwöhnen?«

»Eine Badewanne hab ich nicht, ins Schwimmbad gehe ich nicht wegen meiner Figur und stundenlang Körperpflege zu betreiben halte ich für Zeitverschwendung.«

»Vielleicht sollten Sie das trotzdem mal versuchen.«

Diesen fetten Körper auch noch eincremen? Ihm etwas Gutes tun, so als hätte er das verdient? Lena dachte nicht im Traum daran, ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Waschen war nötig, aber Eincremen nicht.

Sie wollte sich nicht mit dem Ergebnis ihres Suchtverhaltens auseinandersetzen. Es reichte, wenn sie einmal in der Woche beim Tanzen der Spiegelwahrheit begegnete.

Am Nachmittag saß Lena zuhause an ihrem Schreibtisch und fertigte ein paar Entwurfsskizzen für eine neue Uniaufgabe. Durchs Fenster fiel das letzte Tageslicht, ihr Bleistift flog über das Papier und sie fragte sich, warum man sich in eine (bei ihr ohnehin nicht vorhandene) Badewanne legen oder am ganzen Körper eincremen sollte, wenn man sich so wundervoll in Gebäudewelten vertiefen konnte. Vertiefen war der richtige Ausdruck, denn gerade zeichnete sie Fundament und Kellergeschoss. Vielleicht wusste die Therapeutin nicht, was für ein wohliges Gefühl es war, seine Ideen auf Papier zu Wirklichkeit werden zu lassen. Sie liebte das und sie wollte das immer tun.

Manchmal sah sie aus dem Fenster, das hinter dem Schreibtisch auf den Hinterhof und die Dächer der Hinterhäuser wies. Das alte Gründerzeithaus, in dem sie wohnte, fügte sich in eine Häuserzeile aus ebenso alten Häusern. Und diese Häuserzeile wiederum war Teil eines Karrees, das aus weiteren alten, aber auch aus 50er- und 60er-Jahre-Häusern bestand, vermutlich dort, wo im letzten Krieg Bomben gefallen waren. Das große Rechteck in der Mitte all dieser Bauten bot Hinterhöfe und Gärten, Hinterhäuser und gegenüber kleinere Sheddachhallen. Im Sommer brachten die Bäume aus den Gärten viel Grün, das einen kaum glauben ließ, mitten in einer Großstadt zu sein, aber im Winter dominierten die grauen Dächer und der Asphalt der Hinterhöfe.

Als sie an diesem Tag ihren Blick von ihren Skizzen hob und aus dem Fenster schweifen lassen wollte, saß dort plötzlich eine Taube. Einfach so. Sie hockte auf ihrer Fensterbank und schien Lena zu beobachten. Noch nie hatte sich dort eine Taube niedergelassen, es gab eigentlich auch keinen Grund, denn Futter fand sie hier nicht. Lena betrachtete ihren dunklen Kopf, die wachen Augen, den türkisen Schimmer am Hals und ihr graues Gefieder. Ein hübsches Tier war das und das schien die Taube in diesem Moment auch zu wissen, sie schritt auf der Fensterbank hin und her. Vorsichtig stand Lena auf und nahm ein neues Blatt Papier – jetzt sah sie, dass der Taube rechts zwei der vier Zehen fehlten. Trotzdem lahmte sie fast unmerklich. Lena legte das Blatt auf den Schreibtisch und skizzierte die Taube, die jetzt wieder ruhig blieb und ihr Modell stand. Mit ihrer stolzen Haltung überspielte sie ihre körperliche Beeinträchtigung komplett – ein bewundernswerter Vogel.

Die Skizze wurde gut, sie war heute richtig in Zeichenlaune. Anschließend hatte sie das Gefühl, sich bei der Taube bedanken zu müssen, stand vorsichtig auf und holte etwas Brot aus der Küche, das sie zerbröselte. Als sie wieder ins Zimmer kam, war die Taube jedoch verschwunden. Lena öffnete das Fenster und sah mehrere Tauben auf den Dächern der Hinterhäuser. Ob ihre dabei war? Auf die Entfernung konnte sie nicht erkennen, ob eine mit nur zwei Zehen am rechten Fuß dabei war. Da das Brot nun ohnehin zerbröselt war, legte sie es auf ihre Fensterbank – vielleicht würde die Taube ihre Gage später abholen.

Am Abend aquarellierte sie die Taubenzeichnung und hängte sie über ihren Schreibtisch. Und während sie in der Küche Abendbrot aß, holte sich diese Taube oder eine andere die Krumen, denn sie waren später verschwunden.

Gertrud war viel zu bescheiden und nahm sich selbst zu unwichtig, fand Lena. Bei fast jedem Treffen schien sie sich vergewissern zu wollen, dass sie ihr auch nicht auf die Nerven ging. Dabei mochte Lena sie immer mehr. Aus der so alt wirkenden, kranken Frau, die sie im Frühjahr bei der Essstörungsgruppe kennengelernt hatte, war eine Freundin geworden, eine heimliche zwar, aber eine, mit der man über vieles reden konnte. Auch wenn Lena immer etwas mehr erzählte und Gertrud oft zurückhaltend und schweigsam erlebte.

Aber sie mochte die vorsichtige Art, mit der Gertrud ihren Tee löffelte, sie mochte ihren scheuen und doch so warmherzigen Blick hinter der Brille und sie mochte Gertruds magere Zerbrechlichkeit, die so anders war als ihre eigene Fettleibigkeit. Sie mochte ihre altmodische Art, sich zu kleiden – wäre Gertrud ein Wohnzimmer gewesen, hätte man ihre Kleidung als Eiche rustikal bezeichnen können. Sie mochte es, wenn Gertrud lachte und man ihre schlechten Zähne und die Goldkronen sah, bevor sie schnell verschämt die Hand vor ihren Mund hielt. Sie mochte die leise Vehemenz, mit der Gertrud ihr manchmal die Meinung sagte, obwohl sie selbst ihr Leben nicht in den Griff bekam. Und sie mochte diese stille Verbundenheit, die zwischen ihnen lag, obwohl ihre Leben so unterschiedlich waren.

Gertrud hatte zwei Söhne, die etwas älter waren als Lena, und sie erzählte gerne von ihnen. Von ihrem Mann erzählte sie fast nie. Sie blendete ihn aus, diesen Menschen, mit dem sie nicht zusammenleben wollte und es doch schon so lange tat. Dem sie den Haushalt machte, den sie bekochte, dem sie seine Sachen hinterhertrug und von dessen alter Mutter sie sich beschimpfen ließ. Bei Lena zog sich immer alles in der Magengegend zusammen, wenn Gertrud doch mal in einem Nebensatz ein Detail ihrer Ehe herausrutschte.

Am Montag nach dem dritten Advent hatte sie etwas für die Freundin in ihrer Tasche. Sie wollte, sie musste dieser Frau doch irgendwie helfen. Lena ertrug es nicht, dass Gertrud ihr Unglück einfach so hinnahm. Es war nie zu spät, um etwas zu ändern.

Gertrud löffelte wie immer ihren Pfefferminztee und Lena wartete auf eine passende Gelegenheit.

»Wie feierst du Weihnachten? Kommen deine Söhne?«

Gertrud leckte den Löffel ab und legte ihn auf die Untertasse. »Am Vierundzwanzigsten sind beide bei ihren Freundinnen. Sie kommen erst am ersten Weihnachtstag. Heiligabend bin ich mit meinem Mann und meiner Schwiegermutter alleine. Und du?«

»Ich fahre zu meiner Familie. Wahrscheinlich gehen wir in die Kirche, danach gibt es Essen und Bescherung. Mein Bruder kommt am 23. Dezember aus Amerika zurück, darauf freue ich mich. Ansonsten graut es mir jetzt schon vor dem ganzen Essen. Wie läuft das bei euch ab?«

Gertrud seufzte. »Ich würde gerne in den Gottesdienst, aber ich muss ja das Abendessen machen. Mein Mann und meine Schwiegermutter gehen dann alleine. Kirche ist ihnen nicht wichtig, aber sie machen das wegen der Leute. Danach gibt es Braten und meine Schwiegermutter wird wie jedes Jahr schimpfen, dass ich eine schlechte Köchin bin und meinen Mann auf ihre Seite ziehen. Dieses Jahr sind ja nicht mal meine Söhne da. Und dann sitzen wir da, schenken uns was, weil man das eben so macht, aber in Wirklichkeit will niemand von uns dem anderen eine Freude machen. Dann werden die beiden über die Leute in der Kirche schimpfen und ich werde dasitzen und schweigen.«

»Warum tust du dir das an?«

Gertrud zuckte mit den Schultern. »Na ja, so schlimm ist es auch nicht, ich koche schließlich gerne. Und am ersten Weihnachtstag kommen immerhin meine Söhne hinzu.«

»Ich finde sehr wohl, dass das schlimm ist.«

»Manche Sachen sind eben so, wie sie sind.«

»Und manche Sachen kann man ändern. Bitte, Gertrud, überleg dir das noch mal mit der Scheidung. Ich habe dir hier eine Liste von Anwälten mitgebracht und die Nummer von der Familienberatungsstelle.«

Gertrud sprang auf. »Was mischst du dich da ein? Pack das Zeug da weg!«

Lena schob die Liste und den Prospekt noch ein Stückchen weiter zu der Freundin. Wenn sie doch nur einmal etwas annehmen würde.

Gertrud starrte auf den Tisch. »Du verstehst überhaupt nichts!«

Sie sah Lena nicht an, nahm ihre Tasche und ihre Jacke und rannte aus dem Café.

Was war in sie gefahren?

Lena blickte ihr hinterher. Nicht mal ihren Tee bezahlt hatte sie. Was sollte das? So kannte sie Gertrud gar nicht. Sollte sie ihr folgen? An der Volkshochschule auf sie warten? Irgendwann würde Gertrud zur VHS gehen müssen, weil ihr Mann sie dort abholte. Oder sollte sie einfach abwarten, ob die Freundin wiederkäme, und ansonsten am nächsten Montag auf sie warten? Leider besaß Gertrud kein Handy und Lena wusste weder ihren Nachnamen noch ihre Festnetztelefonnummer. Sie selbst hatte ihr ihre Adresse und Telefonnummer gegeben, aber Gertrud hatte Angst gehabt wegen ihres Mannes.

Sie kam nicht zurück. Lena seufzte. Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte ihr doch nur helfen wollen.

Lena hörte die ganze Woche nichts von Gertrud. Kein Anruf. Nichts. Vielleicht war es auch verrückt von ihr gewesen, sich jede Woche mit einer fast fremden Frau zu treffen, von der sie nicht mal den kompletten Namen kannte. Aber was sollte daran verrückt sein? Sie hatten beide ein Problem mit dem Essen, waren beide einsam – wieso sollte man sich da nicht austauschen?

Es war eine Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, in der Gertruds Nachname und Adresse unwichtig schienen.

Und wenn die Freundin sie getäuscht hatte? Nein, das glaubte sie nicht. Gertrud war jemand, der nicht lügen konnte, da war Lena sich sicher. Notlügen vielleicht, aber sich komplett zu verstellen? Das traute sie ihr einfach nicht zu.

Am vierten Advent traf sie sich mit Achim auf dem Weihnachtsmarkt zum Glühweintrinken.

Sie erzählte ihm nicht von Gertrud. Nicht einmal ihrer Therapeutin hatte sie von Gertrud erzählt. Sie hatte Angst, dass die Therapeutin ihr diese Treffen verbieten könnte, dass sie es nicht guthieß, wenn sie sich privat mit einer anderen Betroffenen austauschte, ihr versuchte zu helfen, anstatt sich um sich selbst zu kümmern. Vielleicht hätte sie es der Therapeutin erzählen sollen. Aber sie hatten auch so genug Gesprächsstoff. Und je häufiger man etwas verschwieg, desto einfacher wurde es, darüber immer Schweigen zu bewahren.

Lena hatte ihre Weihnachtsmiene aufgesetzt, trank mit Achim Glühwein und dachte an Gertrud. Die Weihnachtsbeleuchtung strahlte in der Dämmerung, die meisten Schaufenster erstrahlten heller und auch der Glühwein ließ den einen oder anderen strahlen. Achim sah glücklich aus. Sie erzählte ihm aus der Uni, vom Tanzkurs, von ihrem Job. Dann sprachen sie über Holgers Heimkehr und über die Weihnachtstage.

»Warst du wirklich seit September kein einziges Mal in Bielefeld?«

»Nein, gar nicht. Du doch auch nicht, oder?«

Achim schüttelte den Kopf. »Hast du denn Angst?«

»Du meinst, weil ich wieder zugenommen habe?«

»Hast du?«

»Ja. Natürlich wird Mama das auffallen und mir graut es davor. Zumal Holger mich noch gar nicht so gesehen hat. Aber was soll ich machen? Ich kann ja schlecht alleine hier feiern, damit meine Familie mich nicht sieht.«

Achim nickte. Plötzlich hielten ihm zwei Handschuhe von hinten die Augen zu. Achim drehte sich um.

»Yvonne?« Er küsste die Frau, zu der die Handschuhe gehörten, dann schob er sie vor sich.

»Lena, das ist Yvonne, meine Freundin. Yvonne, das ist meine Cousine Lena.«

Yvonne reichte ihr lächelnd ihre Handschuhhand. Sie hatte ein hübsches Gesicht und unter ihrer Wollmütze lugten ein paar Locken hervor. Sie hätte mit ihren weißen Zähnen und der warmen Kleidung in eine Tchibo-Werbung für winterliche Wochenangebote gepasst.

»Schön, dich kennenzulernen.«

Lena erwiderte den Handdruck. »Ja«, sagte sie nur und ließ sich dann von Yvonne in einen höflichen Smalltalk verwickeln.

Sie zog ihre Mundwinkel nach oben. Vielleicht sah das aus wie Lächeln. Es war ihr nicht wichtig, es war ihr verdammt noch mal nicht wichtig. Weihnachtsmusik dröhnte hämisch aus den Lautsprechern. Sie musste an Gertrud denken. Achims Freundin war ihr egal.

Der nächste Tag war ein Montag und Montage waren Gertrud-Tage. Waren sie das noch? Würde es dieser Montag vor Weihnachten sein? Lena hoffte es. Sie wollte nicht nach Bielefeld fahren, ohne sich mit der Freundin ausgesprochen zu haben. Zuerst überlegte sie, Gertrud an der VHS aufzulauern und sie zur Rede zu stellen, falls sie nicht ins Café ginge. Aber dann setzte Lena sich einfach ins Café Engel – in den hinteren Bereich, wo sie immer saßen – und wartete. Und hoffte. Und fragte sich zum hundertsten Mal, was eine Woche zuvor in Gertrud gefahren war. Und bestellte schon mal eine Cola light. Und spielte nervös mit dem Bierdeckel.

Gertrud kam.

Etwas verspätet, aber sie kam. Ihr Gruß war kleinlaut und ihre Stimme noch zurückhaltender als sonst. Sie sah Lena nicht an, als sie sich ihr gegenübersetzte.