Online-Dating war noch nie ihr Ding – Kat Donovan, Detective bei der New Yorker Kriminalpolizei, ist überzeugter Großstadtsingle. Bis sie sich aus schierer Langeweile doch bei YouAreJustMyType.com anmeldet – und ihre Welt für einen Augenblick zum Stillstand kommt. Denn von ihrem Bildschirm lächelt ihr – unter falschem Namen, aber unverkennbar – der Mann entgegen, der ihr vor 18 Jahren das Herz brach: ihr Ex-Verlobter Jeff, der von einem Tag auf den anderen völlig spurlos aus ihrem Leben verschwand.
Während Kat noch zögert, ob sie alte Wunden wieder aufreißen soll, gibt ein Jugendlicher auf Kats Revier eine Vermisstenanzeige auf: Seine Mutter Dana habe auf einer Dating-Website einen Mann kennengelernt, sei vor einigen Tagen zu einem romantischen Treffen mit ihm aufgebrochen – und seitdem spurlos verschwunden. Kat sieht sich das Profilbild von Danas Online-Liebhaber an … und blickt in Jeffs wohlbekannte Augen. Welches falsche Spiel spielt ihre ehemalige große Liebe?
Währenddessen belauert auf einer abgelegenen Farm weit jenseits der Stadtgrenzen ein Mann jeden einzelnen von Kats Schritten. Denn sie droht seinen sorgfältig ausgeklügelten Plan zu stören. Einen Plan, der mit den Sehnsüchten und Hoffnungen einsamer Herzen spielt, bei dem es um viel Geld geht – und der schon so viele Menschenleben gekostet hat, dass es auf eins mehr nicht mehr ankommt …
HARLAN COBEN
ICH VERMISSE DICH
THRILLER
DEUTSCH
VON GUNNAR KWISINSKI
PAGE & Turner
Die Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »Missing you« bei Dutton, a member of
Penguin Group USA (Inc.), New York.
Words and music to the song »Demon Lover« composed by
Michael Peter Smith, Bird Avenue Publishing-ASCAP,
© 1986, used with permission. All rights reserved.
Page & Turner Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH.
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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Harlan Coben
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Anja Lademacher
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Rodney Harvey/Trevillion Images;
© Andy & Michelle Kerry/Trevillion Images; Fine Pic ®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15642-8
V002
www.pageundturner-verlag.de
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FÜR RAY UND MAUREEN CLARKE
EINS
Kat Donovan drehte sich auf dem Hocker, auf dem schon ihr Vater gesessen hatte, von der Theke weg, um aufzustehen und den Pub zu verlassen, als Stacy sagte: »Was ich getan habe, wird dir nicht gefallen.«
Ihr Tonfall stoppte Kat mitten in der Bewegung. »Was hast du getan?«
Das O’Malley’s war früher eine Polizistenkneipe vom alten Schlag gewesen. Schon Kats Großvater hatte hier rumgehangen. Später auch ihr Vater und seine Kollegen vom NYPD. Inzwischen hatte es sich in einen Yuppie-Schuppen voller Preppies, Masters-of-the-Universe, Poser und Arschlöcher verwandelt, lauter Typen in gestärkten und gebügelten weißen Hemden unter schwarzen Anzügen, mit Dreitagebart, die gerade so viel hatten enthaaren lassen, dass sie noch machohaft und unrasiert wirkten. Sie grinsten viel, diese soften Männer, mit ihren Extrem-Gel-Frisuren, und bestellten Ketel One statt Grey Goose, weil die Werbung ihnen erzählt hatte, dass das der Wodka für echte Männer wäre.
Stacys Blick streifte durch die Bar. Ein Ablenkungsmanöver. Kat gefiel das ganz und gar nicht.
»Was hast du getan?«, wiederholte Kat.
»Vorsicht«, sagte Stacy.
»Maulheld bei fünf Uhr.«
Kat drehte sich nach rechts um.
»Siehst du ihn?«, fragte Stacy.
»Klar.«
Die Einrichtung des O’Malley’s hatte sich im Lauf der Jahre kaum verändert. Der alte Röhrenfernseher war zwar durch eine Unzahl Flachbildschirme ersetzt worden, auf denen zu viele unterschiedliche Sportereignisse gleichzeitig liefen – wen interessierten schon die Spiele der Edmonton Oilers? Abgesehen davon war das Cop-Kneipen-Feeling im O’Malley’s jedoch noch erhalten. Und genau das zog diese Poser an, die Pseudo-Authentizität, die dadurch entstanden war, dass sie den Schuppen übernommen und alles vertrieben hatten, was den Laden früher ausgemacht hatte, sodass der Pub zu einer Disney-Version seines früheren Selbst geworden war.
Kat war die einzige Polizistin, die noch herkam. Die anderen gingen nach der Schicht entweder nach Hause oder zu einem Meeting der Anonymen Alkoholiker. Kat kam immer noch und versuchte, in aller Ruhe gemeinsam mit den Geistern der Vergangenheit auf dem alten Hocker ihres Vaters zu sitzen – ganz besonders an diesem Abend, wo die Gedanken an die Ermordung ihres Vaters ihr wieder einmal schwer zu schaffen machten. Sie wollte einfach nur hier sein, die Gegenwart ihres Vaters spüren, um – so kitschig das auch klingen mochte – daraus Kraft zu schöpfen.
Aber diese Weicheier ließen sie einfach nicht in Ruhe.
Und dieser spezielle Maulheld – Stacys und ihr Kosename für all die wahren Helden, die einen aufs Maul verdient hatten – beging eine typische Maulhelden-Sünde. Er trug eine Sonnenbrille. Abends um elf. In einer schlecht beleuchteten Kneipe. Andere Anklagen wegen Maulheldentums wurden für angekettete Brieftaschen, im Nacken gebundene Kopftücher, offene Seidenhemden, übermäßig viele Tattoos (strafverschärfend: Tribals), das Tragen von Militär-Erkennungsmarken, ohne beim Militär zu sein, und wirklich große, weiße Armbanduhren erhoben.
Sonnenbrille grinste und prostete Kat und Stacy zu.
»Er mag uns«, sagte Stacy.
»Lenk nicht ab. Was wird mir nicht gefallen?«
Als Stacy sich wieder zu ihr umdrehte, sah Kat über ihre Schulter hinweg die Enttäuschung in Sonnenbrilles Gesicht, das vor überteuerter Lotion glänzte. Sie hatte diesen Blick schon unzählige Male gesehen. Männer mochten Stacy. Und das war noch stark untertrieben. Stacy war furchteinflößend, umwerfend, zähne-, knochen- und metallerweichend heiß. In Stacys Gegenwart bekamen Männer weiche Knie und benahmen sich albern. Ziemlich albern. Extrem albern.
Vielleicht war es ein Fehler, mit so einer Frau in die Kneipe zu gehen, denn viele Männer kamen zu dem Schluss, dass sie bei dieser Frau nicht landen konnten. Sie erschien ihnen unerreichbar.
Ganz anders als Kat.
Und so nahm Sonnenbrille denn auch Kat ins Visier und machte sich auf den Weg, wobei er eher auf seinem eigenen Schleim dahinzugleiten schien als zu gehen.
Stacy unterdrückte ein Kichern. »Das wird spaßig.«
In der Hoffnung, ihn abzuschrecken, musterte Kat ihn mit leerem Blick und missbilligendem Stirnrunzeln. Doch Sonnenbrille war nicht zu bremsen. Er tänzelte im Rhythmus eines Soundtracks heran, der nur in seinem Kopf spielte.
»Hey, Babe«, sagte Sonnenbrille. »Heißt du zufällig Wi-Fi?«
Kat wartete.
»Ich spüre da nämlich so eine Verbindung.«
Stacy prustete los.
Kat starrte ihn nur an. Er fuhr fort.
»Ich mag euch kleine Bräute, weißt du? Ihr seid einfach entzückend. Weißt du, was gut auf mir aussehen würde? Du.«
»Jemals Erfolg mit den Sprüchen gehabt?«, fragte Kat.
»Ich bin noch nicht fertig.« Sonnenbrille hustete sich in die Hand, zog sein iPhone heraus und streckte es Kat entgegen. »Hey, Babe, Glückwunsch, du stehst ganz oben auf meiner To-do-Liste.«
Stacy war begeistert.
Kat fragte: »Wie heißen Sie?«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie immer du willst, Baby.«
»Wie wäre es mit Dummschwätzer?« Kat öffnete die Jacke und zeigte ihm ihre Pistole am Gürtel. »Ich werde jetzt zu meiner Waffe greifen, Dummschwätzer.«
»Verdammt, Mädel, du bist wohl mein neuer Chef?« Er deutete auf seinen Schritt. » Weil du mir gerade was erhöht hast. Wenn auch nicht meinen Lohn.«
»Verschwinden Sie.«
»Meine Liebe für dich ist wie Durchfall«, sagte Sonnenbrille. »Ich kann sie einfach nicht in mir halten.«
Kat starrte ihn entgeistert an.
»War das zu viel?«, fragte er.
»Oh Mann, das ist einfach widerlich.«
»Mag sein, aber ich wette, den Spruch hast du noch nie gehört.«
Die Wette hätte er gewonnen. »Verschwinden Sie. Sofort.«
»Ehrlich?«
Stacy konnte sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten.
Sonnenbrille wollte sich abwenden. »Moment. Das ist ein Test, oder? Nennst du mich Dummschwätzer, um mich scharf zu machen?«
»Verschwinden Sie.«
Er zuckte die Achseln, drehte sich um, sah Stacy an und dachte, was soll’s? Er musterte ihren langen Körper von oben bis unten und sagte dann: »Das Wort des Tages ist Beine. Vielleicht sollten wir beide mal in uns gehen und die Untiefen dazwischen ausloten.«
Stacy war immer noch begeistert. »Nimm mich, Dummschwätzer, sofort. Auf der Stelle.«
»Wirklich?«
»Nein.«
Dummschwätzer drehte sich zu Kat um. Kat legte die Hand auf den Pistolengriff. Er hob die Hände und ging.
Kat sagte: »Stacy?«
»Hm.«
»Warum glauben diese Typen eigentlich immer wieder, sie hätten eine Chance bei mir?«
»Weil du hübsch und keck aussiehst.«
»Ich bin nicht keck.«
»Nein, aber du siehst keck aus.«
»Jetzt mal ehrlich, seh ich wirklich wie eine totale Versagerin aus?«
»Du siehst beschädigt aus«, sagte Stacy. »Ich sag das nicht gerne. Aber der Schaden … du strahlst es aus wie ein Pheromon, dem diese Weicheier nicht widerstehen können.«
Beide tranken einen Schluck.
»Also, was wird mir nicht gefallen?«, fragte Kat.
Stacy sah dem Dummschwätzer hinterher. »Jetzt tut er mir leid. Vielleicht sollte ich ihm einen Quickie gönnen.«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Wieso?« Stacy schlug die angeberisch langen Beine übereinander und lächelte Dummschwätzer zu. Er zog ein Gesicht, das Kat an einen Hund erinnerte, den man zu lange im Auto gelassen hatte. »Findest du diesen Rock zu kurz?«
»Rock?«, sagte Kat. »Ich dachte, es wäre ein Gürtel.«
Stacy gefiel das. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie riss gerne Männer auf, weil sie glaubte, eine Nacht mit ihr wäre für die Typen eine Erfahrung, die ihr Leben verändern würde. Außerdem war es Teil ihres Jobs. Zusammen mit zwei anderen hinreißenden Frauen besaß Stacy eine Privatdetektei. Ihre Spezialität? Männer, die fremdgingen, zu überführen (oder sagen wir besser, zu verführen).
»Stacy?«
»Hmm.«
»Was wird mir nicht gefallen?«
»Das hier.«
Während sie weiter mit Dummschwätzer kokettierte, reichte sie Kat einen Zettel. Kat sah den Zettel an und runzelte die Stirn.
KD8115
HottestSexEvah
»Was ist das?«
»KD8115 ist dein Benutzername.«
Ihre Initialen und die Nummer ihrer Polizeimarke.
»HottestSexEvah ist dein Passwort. Oh, achte auf die Groß- und Kleinschreibung.«
»Und wofür sind die?«
»Eine Internetseite. YouAreJustMyType.com.«
»Was?«
»Eine Online-Partnerbörse.«
Kat verzog das Gesicht. »Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.«
»Ist was Seriöses.«
»Das sagt man auch über manche Striptease-Clubs.«
»Ich habe dich da angemeldet und für ein Jahr bezahlt.«
»Das soll ein Witz sein, oder?«
»Ich mache keine Witze. Ich arbeite gelegentlich für die Firma. Die ist gut. Und machen wir uns nichts vor, du brauchst jemanden. Du willst jemanden. Und hier wirst du ihn nicht finden.«
Kat seufzte, stand auf und nickte dem Barkeeper zu, einem Mann namens Pete, der aussah wie ein Charakterdarsteller, der immer die Rolle des irischen Barkeepers in einem Pub bekam, was er in diesem Fall tatsächlich war. Pete erwiderte das Nicken und schrieb Kats Drinks auf ihren Deckel.
»Wer weiß«, sagte Stacy. »Vielleicht findest du da den Richtigen.«
Kat ging zur Tür. »Wahrscheinlich aber auch wieder nur einen Dummschwätzer.«
Kat rief »YouAreJustMyType.com« auf, gab ihren Benutzernamen und das peinliche Passwort ein. Sie runzelte die Stirn, als sie die Kurzbeschreibung oben im Profil sah, die Stacy für sie ausgewählt hatte:
Hübsch und keck!
»Immerhin hat sie beschädigt weggelassen«, murmelte Kat.
Es war nach Mitternacht, aber Kat schlief nicht sehr viel. Die Wohnung, in der sie lebte, war eigentlich viel zu exklusiv für sie – eine Dachwohnung an der West 67th Street in der Nähe vom Central Park. Vor hundert Jahren hatten in diesem Haus und in den Nachbargebäuden, zu denen auch das berühmte Hotel des Artistes gehörte, Schriftsteller, Maler, Intellektuelle und andere Künstler gewohnt. Das geräumige, anheimelnde Apartment ging zur Straße hinaus, die kleineren Künstlerateliers nach hinten zum Hof. Irgendwann waren die alten Ateliers zu Einzimmerwohnungen umgebaut worden. Kats Vater, ein Polizist, der gesehen hatte, wie seine Freunde durch den Kauf von Immobilien reich geworden waren, hatte versucht, irgendwie daran teilzuhaben. Ein Mann, dem Dad das Leben gerettet hatte, hatte ihm die Wohnung billig verkauft.
Kat war zu Beginn ihres Studiums an der Columbia University hier eingezogen. Die Ausbildung an der Eliteuniversität hatte sie mit einem Stipendium der New Yorker Polizei bezahlt. Ihre Lebensplanung hatte ein Jurastudium und den Beitritt in eine führende Anwaltskanzlei in New York City vorgesehen, um dem Polizeidienst, dieser verfluchten Familientradition, zu entkommen.
Leider war es anders gekommen.
Neben der Tastatur stand ein Glas Rotwein. Kat trank zu viel. Sie wusste, dass das ganz dem Klischee entsprach. Polizisten, egal ob männlich oder weiblich, tranken zu viel. Aber manchmal sind diese Klischees eben nicht ganz grundlos entstanden. Sie funktionierte. Bei der Arbeit trank sie nicht. Es beeinträchtigte ihr Leben nicht merklich, aber wenn Kat spätnachts zum Telefon griff oder eine Entscheidung traf, war diese oft von einer gewissen, sagen wir, Nachlässigkeit gekennzeichnet. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, das Handy auszuschalten und nach zehn Uhr abends keine E-Mails mehr zu schicken.
Aber jetzt saß sie spätnachts am Schreibtisch und sah sich wahllos Typen auf einer Partnervermittlungs-Webseite an.
Stacy hatte vier Fotos auf Kats Seite hochgeladen. Kats Profilbild, ein Porträt, war ein Ausschnitt aus einem Gruppenbild der Brautjungfern bei einer Hochzeit im letzten Jahr. Kat versuchte, es mit einem objektiven Blick zu betrachten, was ihr aber nicht gelang. Sie konnte das Foto nicht ausstehen. Die Frau darauf sah unsicher aus, lächelte flau und wirkte, als rechnete sie damit, im nächsten Moment eine Ohrfeige zu bekommen oder so etwas. Als sie sich schließlich an das schmerzliche Ritual machte, sich sämtliche Fotos anzusehen, stellte sie fest, dass es sich bei allen um Ausschnitte aus Gruppenbildern handelte – und dass Kat auf allen etwas verhuscht aussah.
Okay, Schluss mit ihrem eigenen Profil.
Bei der Arbeit traf sie nur Polizisten. Sie wollte keinen Cop. Cops waren gute Menschen, aber furchtbare Ehemänner. Das wusste sie nur zu gut. Als Oma unheilbar krank wurde, war Opa, der nicht damit zurechtkam, abgehauen und erst wieder aufgetaucht, als es … tja … zu spät war. Opa hatte sich das nie verziehen. Das war jedenfalls Kats Theorie. Er war einsam, und obgleich er für viele ein Held war, hatte er gekniffen, als es am wichtigsten gewesen wäre. Er hatte damit nicht leben können – und sein Dienstrevolver war immer zur Hand, dort auf dem obersten Regal in der Küche, wo er immer lag. Und irgendwann hatte Kats Großvater dort hineingegriffen, die Waffe heruntergenommen, sich allein an den Küchentisch gesetzt und …
Ka-boom.
Dad war immer wieder auf Sauftour gewesen und für mehrere Tage am Stück verschwunden. Mom hatte sich dann jedes Mal besonders fröhlich gegeben, was das Ganze nur noch gruseliger und unheimlicher gemacht hatte. Entweder behauptete sie, dass Dad in geheimer Mission unterwegs sei, oder sie ignorierte sein Verschwinden komplett und lebte ein buchstäbliches »Aus den Augen, aus dem Sinn«, bis Dad, vielleicht eine Woche später, frisch rasiert, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und einem Dutzend Rosen für Mom wieder antanzte und alle so taten, als wäre das vollkommen normal.
YouAreJustMyType.com. Sie, die hübsche und kecke Kat Donovan, studierte die Seite einer Partnerbörse im Internet. Mannomann, keine Spur von wohldurchdachter Planung. Sie hob das Weinglas, toastete dem Bildschirm zu und trank einen kräftigen Schluck.
Leider war die Welt nicht mehr so eingerichtet, dass sie einem automatisch einen Lebenspartner präsentierte. Sex war etwas anderes. Das war kein Problem. Und genau das war auch die überwiegende Erwartungshaltung bei der Partnerbörse, für jedermann leicht erkennbar, ohne dass darüber gesprochen wurde. Und obwohl Kat die fleischlichen Freuden ebenso schätzte wie jede andere junge Frau, wusste sie doch genau, dass die Chance für eine langfristige Beziehung extrem sanken, wenn man mit jemandem zu früh ins Bett ging – ganz egal, ob es einem in dem Moment richtig oder falsch vorkam. Das war keine moralische Wertung. Das war einfach Fakt.
Ihr Computer piepte. Ein Nachrichtenfenster öffnete sich.
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Kat trank den Wein aus. Sie überlegte, ob sie sich noch ein Glas einschenken sollte, aber nein, es reichte. Sie ging kurz in sich und wurde sich einer offensichtlichen, wenn auch bisher unausgesprochenen Wahrheit bewusst: Sie wollte jemanden, mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Zeit, sich das einzugestehen, okay? Sosehr sie ihre Unabhängigkeit auch schätzte, wollte Kat doch einen Mann, einen Partner, jemanden, der nachts neben ihr lag. Sie schmachtete nicht danach, forcierte es auch nicht, gab sich wahrscheinlich nicht einmal viel Mühe, jemanden zu finden. Trotzdem war sie nicht fürs Alleinsein geschaffen.
Sie fing an, durch die Profile zu klicken. Man muss schon mitspielen, um gewinnen zu können.
Erbärmlich!
Manche Männer konnte sie bereits nach einem kurzen Blick aufs Profilfoto ausklammern. Ja, wenn man darüber nachdachte, war genau das der Schlüssel zum Erfolg. Das Profilbild, das der Mann sorgfältig ausgesucht hatte, war meist der erste, sehr bewusst gewählte Eindruck. Es sprach also Bände.
Daher: Wenn du die bewusste Entscheidung getroffen hast, einen Filzhut zu tragen, ist das ein automatisches Nein. Wenn du dich entschieden hast, kein Hemd zu tragen, ganz egal, wie gut du gebaut bist – ein automatisches Nein. Wenn du einen Bluetooth-Ohrhörer trägst – herrje, was bist du wichtig – automatisches Nein. Wenn du ein Unterlippenbärtchen oder eine Weste trägst, blinzelst, irgendwelche Gesten mit den Händen machst, ein orangefarbenes Hemd anhast (persönliche Abneigung) oder die Sonnenbrille oben auf der Stirn balancierst – automatisches Nein, Nein, Nein. Wenn dein Profilname das Wort Hengst enthält oder Sexy-Smile, RichPrettyBoy, LadySatisfier lautet – Sie merken schon, worauf das hinausläuft.
Kat öffnete ein paar Seiten von Männern, die, in ihren Augen … zugänglich aussahen. Alle Texte strahlten eine traurige, deprimierende Gleichförmigkeit aus. Sämtliche Männer auf der Webseite liebten Strandspaziergänge, gingen gern essen, trieben Sport, unternahmen Fernreisen, gingen zu Weinproben, in Theater und Museen, waren aktiv, abenteuerlustig und scheuten das Risiko nicht – gleichzeitig blieben sie aber auch gern zu Hause, um gemeinsam einen Film anzusehen, Kaffee zu trinken, sich zu unterhalten, zu kochen, ein Buch zu lesen und andere schlichte Freuden des Lebens zu genießen. Jeder Mann behauptete, die wichtigste Eigenschaft, die er in einer Frau suche, sei ihr Sinn für Humor – sowieso, auf jeden Fall –, was so weit ging, dass Kat sich fragte, ob »Sinn für Humor« eine Umschreibung für »dicke Titten« war. Natürlich beschrieb jeder Mann den bevorzugten Körperbau als sportlich, schlank und feminin.
Das klang schon richtiger, zeigte vielleicht sogar einen Anflug von Ehrlichkeit im Wunschdenken.
Die Profile entsprachen nie der Realität. Statt zu zeigen, wer man war, stellten sie wunderbare, wenn auch nutzlose Übungen dar zu beschreiben, wofür man sich hielt – oder wofür der potenzielle Partner einen halten sollte. Oder, was vielleicht noch wahrscheinlicher war, die Profile zeigten einfach (und ja, es wäre ein Fest für jeden Psychologen), wie man gerne wäre.
Fast jeder hatte ein persönliches Motto, und sie hätten unterschiedlicher nicht sein können, aber wenn man sie alle in einem Wort hätte zusammenfassen wollen, träfe Melasse es wahrscheinlich am besten. Das erste Motto lautete: »Das Leben ist jeden Morgen wieder wie eine leere Leinwand, die darauf wartet, bemalt zu werden« … klick. Einige versuchten, Ehrlichkeit zu beschwören, indem sie mehrmals wiederholten, dass sie ehrlich wären. Manche täuschten Aufrichtigkeit vor. Manche gaben sich hochtrabend, arrogant, unsicher oder bedürftig. Eigentlich wie im richtigen Leben, dachte Kat. Die meisten waren einfach zu bemüht. Wie billiges Parfüm verströmte der Computer-Monitor wabernde Wolken des Ruchs der Verzweiflung. Das allgegenwärtige Geschwafel über Seelenverwandtschaft war bestenfalls abtörnend. Im richtigen Leben, dachte Kat, ist keiner von uns in der Lage, einen Menschen zu finden, mit dem er mehr als einmal ausgehen will, aber aus irgendeinem Grund glauben wir, dass wir auf YouAreJustMyType.com sofort die Person entdecken, mit der wir den Rest unseres Lebens verbringen wollen.
Wahnhaftes Verhalten? Oder starb die Hoffnung wirklich zuletzt?
Das war die andere Seite der Medaille. Es war leicht, zynisch zu sein und Witze zu reißen, aber wenn sie das Ganze mit ein wenig mehr Abstand betrachtete, wurde Kat etwas klar, das sie bis ins Mark traf: Hinter jedem Profil steckte ein Leben. Banal, ja, aber hinter jedem noch so klischeebeladenen, Bitte-liebe-mich-Profil verbarg sich ein Mitmensch mit Träumen, Zielen und Wünschen. Diese Leute hatten sich nicht umsonst angemeldet, Gebühren bezahlt und den Fragebogen ausgefüllt. Wenn man sich das überlegte: Jede einzelne dieser einsamen Personen war in der Hoffnung auf diese Internetseite gekommen – hatte die Anmeldeprozedur erledigt und auf Profile geklickt –, dass es dieses Mal anders laufen würde, hoffte, allen Widrigkeiten zum Trotz, dass sie hier auf den einen Menschen stoßen würde, der am Ende der wichtigste Mensch ihres Lebens wurde.
Wow. Einen Moment lang drohte diese Erkenntnis sie zu überwältigen.
Kat hatte sich gedankenverloren mit relativ konstanter, vielleicht leicht zunehmender Geschwindigkeit durch die Profile geklickt. Die Gesichter der Männer – Männer, die sich in der Hoffnung angemeldet hatten, hier »die Eine« zu finden – verschwammen vor ihren Augen zu einer breiigen Masse, als plötzlich ein Bild daraus hervorstach.
Ein, vielleicht zwei Sekunden lang traute sie ihren Augen nicht. Dann dauerte es noch eine Sekunde, bis der Finger aufhörte, die Maustaste zu bedienen, eine weitere, in der die Profilbilder langsam ausliefen und zum Stillstand kamen. Kat lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Das war unmöglich.
Während sie über die Männer hinter den Bildern sinnierte, über ihre Leben, ihre Bedürfnisse, ihre Hoffnungen nachdachte, hatte sie extrem schnell geklickt. Ihr Gehirn, das in Kats Job gleichermaßen ihre Stärke als auch ihre Schwäche war, hatte sich mit den umherschweifenden Gedanken beschäftigt und sich nicht auf die Bilder vor ihr konzentriert, trotzdem hatte es das Wesentliche erfasst. In der Sprache der Strafverfolgungsbehörden bedeutete das, dass sie in der Lage war, Möglichkeiten wie Fluchtrouten, Alternativ-Szenarien oder eine versteckt lauernde Gestalt ausfindig zu machen, sowie Verdunkelungen, Hinderungsgründe oder Vorwände zu erkennen.
Es bedeutete aber auch, dass Kat das Offensichtliche manchmal übersah.
Sie fing an, langsam auf den Zurück-Pfeil zu klicken.
Es war vollkommen unmöglich.
Das Foto war nur kurz aufgeflackert. Die ganzen Gedanken über wahre Liebe, einen Seelenverwandten, die eine Person, mit der man sein Leben verbringen wollte … wie sollte sie ihrer Fantasie vorwerfen, ihr einen Streich gespielt zu haben? Es war achtzehn Jahre her. Sie hatte ein paarmal mehr oder weniger betrunken seinen Namen gegoogelt, aber nur ein paar alte Artikel von ihm gefunden. Nichts Aktuelles. Das hatte sie überrascht, ihre Neugier geweckt – Jeff war ein toller Journalist gewesen –, aber was sollte sie machen? Kat war zwischenzeitlich versucht gewesen, gründlicher nach ihm zu suchen. Das wäre in ihrer Position ohne allzu großen Aufwand möglich gewesen. Aber sie mochte es nicht, ihre Verbindungen zu den Strafverfolgungsbehörden für private Zwecke zu nutzen. Natürlich hätte sie auch Stacy fragen können, aber auch da galt: Was sollte es bringen?
Jeff war weg.
Einen Ex-Lover zu verfolgen oder auch nur zu googeln, war einfach nur jämmerlich. Okay, Jeff war mehr als das gewesen. Viel mehr. Geistesabwesend fuhr Kat mit dem Daumen über ihren linken Ringfinger. Leer. Das war er aber nicht immer gewesen. Jeff hatte um ihre Hand angehalten, hatte alles richtig gemacht. Er hatte ihren Vater um Erlaubnis gefragt. Er war vor ihr niedergekniet. Nichts Kitschiges. Er hatte den Ring nicht im Dessert versteckt oder die Frage im Madison Square Garden an die Anzeigetafel schreiben lassen. Es war stilvoll, romantisch und traditionell gewesen, weil er wusste, dass sie es sich genauso gewünscht hätte.
Tränen traten ihr in die Augen.
Kat klickte sich über den Zurück-Pfeil durch ein Potpourri aus Gesichtern und Frisuren, durch die vereinten Nationen verfügbarer Junggesellen, dann stoppte ihr Finger. Einen Moment lang starrte sie einfach mit angehaltenem Atem auf den Monitor und traute sich nicht, sich zu bewegen.
Dann stieß sie einen leisen Schrei aus.
Der zuvor tief verborgene Kummer war sofort wieder da. Die alte Wunde fühlte sich so frisch an, als wäre Jeff gerade erst durch die Tür gegangen und nicht vor achtzehn Jahren. Ihre Hand zitterte, als sie sie zum Monitor ausstreckte und sein Gesicht berührte.
Jeff.
Immer noch so verdammt attraktiv. Er war etwas gealtert, die Schläfen waren leicht angegraut, aber, Mann, das stand ihm gut. Kat hatte das nicht anders erwartet. Ihr war damals schon klar, dass Jeff zu den Männern gehören würde, die im Lauf der Jahre attraktiver wurden. Sie streichelte sein Gesicht. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.
Oh Mann, dachte sie.
Sie versuchte, sich zusammenzureißen, versuchte, etwas runterzukommen und die Dinge ins rechte Licht zu rücken, aber um sie herum drehte sich alles, und sie sah keine Möglichkeit, die Bewegung zu bremsen. Sie legte ihre noch immer zitternde Hand auf die Maus und klickte auf das Profilbild.
Die nächste Seite öffnete sich. Da stand Jeff in einem Flanellhemd und Jeans, die Hände in den Taschen und mit so blauen Augen, dass man unwillkürlich nach dem Rand einer Kontaktlinse suchte. Er war sehr attraktiv. Sah so verdammt gut aus. Er wirkte fit und sportlich, und trotz allem machten sich andere Regungen tief in Kats Innerem bemerkbar. Sie riskierte einen kurzen Blick ins Schlafzimmer. Sie hatte schon damals, als sie mit ihm zusammen war, hier gewohnt. Nach ihm waren andere Männer in diesem Schlafzimmer gewesen, aber nichts war dem Hochgefühl nahe gekommen, das sie mit ihrem Verlobten erlebt hatte. Sie wusste, wie sich das anhören musste, aber als sie mit Jeff zusammen war, hatte er alles in ihr zum Klingen gebracht. Es lag nicht an einer Technik, der Größe oder sonst irgendetwas. Es lag – so unerotisch das auch klang – am Vertrauen. Dieses Vertrauen hatte den Sex so umwerfend gemacht. Kat hatte sich bei ihm sicher gefühlt. Sie war selbstsicher, schön, furchtlos und frei gewesen. Er hatte sie zwar gelegentlich herausgefordert, die Kontrolle übernommen, aber sie hatte sich bei ihm nie verletzlich oder befangen gefühlt.
Bei anderen Männern hatte Kat nie richtig loslassen können.
Sie schluckte und klickte auf den Link zum vollständigen Profil. Sein persönliches Motto war kurz und, wie Kat fand, perfekt: Lass uns sehen, was passiert.
Kein Druck. Keine grandiosen Pläne. Keine Bedingungen, Versprechungen oder hochgesteckten Erwartungen.
Lass uns sehen, was passiert.
Sie klickte auf seinen Status. Im Lauf der letzten achtzehn Jahre hatte Kat sich unzählige Male gefragt, wie es ihm ergangen war. Die erste Frage war also naheliegend: Was war in Jeffs Leben passiert, dass er auf einer Internetseite für Singles gelandet war?
Andererseits: Was war in ihrem Leben passiert?
Der Status lautete: Witwer.
Noch ein Wow.
Sie versuchte, sich das vorzustellen – wie Jeff eine Frau geheiratet, mit ihr zusammengelebt hatte, bis sie schließlich verstorben war. Der Gedanke ließ sie nicht los. Noch nicht. Sie sperrte sich gegen die Vorstellung. Das war okay. Mach einfach weiter. Es gab keinen Grund, sich länger damit aufzuhalten.
Witwer.
Dann ein weiterer Schock: Ein Kind.
Alter und Geschlecht waren nicht angegeben, aber das spielte natürlich auch keine Rolle. Jede Enthüllung, jede neue Information über den Mann, den sie einmal von ganzem Herzen geliebt hatte, drohte ihre Welt erneut aus der Bahn zu werfen. Er hatte ein ganzes Leben ohne sie gelebt. Warum überraschte sie das? Was hatte sie erwartet? Ihre Trennung war sowohl plötzlich als auch unvermeidlich gewesen. Auch wenn er sie letztendlich verlassen hatte, war es doch ihre Schuld gewesen. Er war einfach verschwunden, ganz plötzlich, und mit ihm das ganze Leben, das sie gekannt und geplant hatte.
Jetzt war er wieder da, als einer von ein- oder zweihundert Männern, durch deren Profile sie sich geklickt hatte.
Stellte sich nur die Frage, wie sie damit umgehen sollte.
ZWEI
Gerard Remington hatte nur wenige Stunden davorgestanden, Vanessa Moreau einen Heiratsantrag zu machen, als es um ihn herum schwarz wurde.
Der Heiratsantrag war, wie so viele Dinge in Gerard Remingtons Leben, sorgfältig geplant gewesen. Erster Schritt: Nach ausgiebiger Recherche hatte Gerard einen Verlobungsring gekauft: 2,93 Karat, exquisiter Schliff, Reinheit VVS1, Farbe F, Platinring mit runder Fassung. Er hatte ihn bei einem namhaften Juwelier im Diamantenviertel in Manhattan gekauft – nicht in einem der überteuerten, größeren Läden, sondern an einem Stand weiter hinten an der Ecke zur 6th Avenue.
Zweiter Schritt: Ihre Maschine würde als JetBlue Flug Nummer 267 um 7 Uhr 30 am Bostoner Logan Airport abheben und um 11 Uhr 31 in St. Maarten landen, wo er und Vanessa in eine kleine Klapperkiste nach Anguilla umsteigen und um 12 Uhr 45 auf der Karibikinsel ankommen würden.
Schritt drei, vier etc.: Sie würden sich in der zweigeschossigen Villa vom Viceroy Anguilla Hotel mit Blick auf Meads Bay entspannen, sich kurz im hauseigenen Infinity-Pool erfrischen, sich lieben, duschen und sich anziehen und im Blanchards essen gehen. Das Abendessen war für 19 Uhr reserviert. Gerard hatte angerufen und eine Flasche von Vanessas Lieblingswein vorbestellt, einen Château Haut-Bailly Grand Cru Classé 2005, einen Bordeaux aus dem Gebiet Pessac-Léognan. Nach dem Abendessen würden Gerard und Vanessa barfuß, Hand in Hand am Strand entlangspazieren. Er hatte im Mondphasenkalender nachgesehen und wusste, dass es beinahe Vollmond war. Einhundertachtundneunzig Meter den Strand hinab (er hatte es ausmessen lassen) stand eine schilfgedeckte Hütte, die tagsüber für den Verleih von Schnorcheln und Wasserski genutzt wurde. Nachts war sie leer. Ein örtlicher Blumenhändler würde die Vorderveranda mit einundzwanzig (die Anzahl der Wochen, die sie sich kannten) weißen Callas schmücken (Vanessas Lieblingsblume). Außerdem würde sie dort ein Streichquartett erwarten. Auf Gerards Stichwort würde das Quartett Somewhere Only We Know von Keane spielen, der Song, den Vanessa und er sich als den ihren erwählt hatten. Und weil beide Traditionen mochten, würde Gerard vor ihr niederknien. Gerard konnte Vanessas Reaktion vor seinem inneren Auge aufziehen lassen. Sie würde überrascht nach Luft schnappen. Tränen würden ihr in die Augen steigen. Sie würde erstaunt und erfreut die Hände vors Gesicht schlagen.
»Du bist in mein Leben getreten und hast es für immer verändert«, würde Gerard sagen. »Wie ein Superkatalysator hast du dieses einfache Stück Lehm in etwas unendlich Bedeutsameres, Glücklicheres und Lebensfroheres verwandelt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich liebe dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Ich liebe alles an dir. Dein Lächeln gibt meinem Leben Farbe und Struktur. Du bist die schönste und leidenschaftlichste Frau auf der Welt. Würdest du mich heiraten und mich damit zum glücklichsten Mann auf der Welt machen?«
Am exakten Wortlaut hatte Gerard noch gearbeitet – er musste perfekt sein –, als es um ihn herum schwarz wurde. Aber jedes Wort entsprach der Wahrheit. Er liebte Vanessa. Er liebte sie von ganzem Herzen. Gerard war nie ein großer Romantiker gewesen. Sein Leben lang hatten die Menschen ihn immer wieder enttäuscht. Anders als die Wissenschaft. Ehrlich gesagt war er immer am zufriedensten gewesen, wenn er allein war und Mikroben und andere Organismen bekämpft, neue Medikamente und Gegenmittel entwickelt hatte, um die Kriege gegen sie zu gewinnen. Er war vollkommen zufrieden gewesen in seinem Labor bei Benesti Pharmaceuticals, wenn er an der Tafel eine Gleichung löste. In der Beziehung war er etwas altmodisch, wie seine jüngeren Kollegen immer wieder betonten. Er mochte die Tafel. Sie half ihm beim Denken, er mochte den Geruch der Kreide, den Staub, die schmutzigen Finger, die Leichtigkeit, mit der sich alles wieder wegwischen ließ, denn in der Wissenschaft sollte nur Weniges ewig währen.
Ja, in diesen verlorenen, einsamen Momenten war Gerard am zufriedensten.
Zufrieden. Aber nicht glücklich.
Seit er Vanessa kennengelernt hatte, war er das erste Mal im Leben glücklich gewesen.
Gerard öffnete die Augen und dachte an sie. Mit Vanessa war alles bis in die zehnte Potenz erhöht. Keine andere Frau hatte ihn je geistig, emotional und, ja, natürlich, körperlich so bewegt. Keine Frau, die er kannte, würde das jemals können.
Er hatte die Augen geöffnet, doch die Dunkelheit blieb bestehen. Erst fragte er sich, ob er irgendwie doch noch zu Hause wäre, aber dafür war es viel zu kalt. Sein digitaler Thermostat stand immer genau auf 21,9 Grad. Immer. Vanessa hatte ihn oft wegen seiner Präzision aufgezogen. Im Laufe seines Lebens hatten einige Leute Gerards Bedürfnis nach Ordnung für eine anale Fixierung oder sogar für eine Zwangsstörung gehalten. Vanessa hingegen verstand ihn. Sie schätzte es und betrachtete es manchmal sogar als Vorteil. »Das macht dich zu einem großen Wissenschaftler und einem fürsorglichen Mann«, hatte Vanessa einmal zu ihm gesagt. Sie erläuterte ihm ihre Theorie, dass Personen, die wir heute als »etwas schräg« einordnen, in der Vergangenheit die Genies in Kunst, Wissenschaft und Literatur gewesen waren, die wir inzwischen mit Diagnosen und Medikamenten zurechtstutzten, sie gleichschalteten und ihre Sinne abstumpften.
»Genie entspringt dem Ungewöhnlichen«, hatte Vanessa ihm erklärt.
»Und ich bin ungewöhnlich?«
»Im allerbesten Sinne, mein Süßer.«
Doch während ihm vor Erinnerung das Herz überging, konnte Gerard doch den seltsamen Geruch nicht ignorieren. Es roch muffig, alt und moderig und wie …
Wie Erde. Wie frische Muttererde.
Panik erfasste ihn. In der pechschwarzen Dunkelheit versuchte Gerard, die Hände zum Gesicht zu führen. Es ging nicht. Seine Handgelenke waren gefesselt. Mit einem Seil oder, nein, etwas Dünnerem. Vielleicht Draht. Er versuchte, die Beine zu bewegen. Sie waren zusammengebunden. Er spannte die Bauchmuskeln an und versuchte, beide Beine nach oben zu schwingen, sie trafen jedoch auf etwas. Holz. Direkt über ihm. Als wäre er in …
Sein Körper fing an, sich vor Angst aufzubäumen.
Wo war er? Wo war Vanessa?
»Hallo?«, rief er. »Hallo?«
Gerard versuchte, sich aufzusetzen, doch er konnte sich nicht bewegen. Er wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, aber es ging nicht schnell genug.
»Hallo? Hört mich jemand? Bitte helfen Sie mir!«
Er hörte etwas. Direkt über sich. Es klang wie ein Kratzen oder Schlurfen oder …
Oder Schritte?
Schritte direkt über ihm.
Gerard dachte an die Dunkelheit. Er dachte an den Geruch frischer Erde. Plötzlich kannte er die Antwort, auch wenn sie vollkommen unlogisch war.
Ich bin unter der Erde, dachte er. Ich bin unter der Erde.
Dann fing er an zu schreien.