Zeichnungen von
Cathy Ionescu

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1. Auflage 2019
© 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlagillustration: Bente Schlick, www.benteschlick.com
Umschlagkonzeption: Init GmbH
CK · Herstellung: AJ
Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-24079-0
V001

www.cbj-verlag.de

1. Kapitel

Kleiner Wolf kommt zurück auf die Insel

Kleiner Wolf ist so aufgeregt, dass er am liebsten im Kreis rennen und laut bellen würde. Und vor Freude wedelt er schon die ganze Zeit mit dem Schwanz und trappelt mit den Vorderpfoten! Er weiß jetzt nämlich, warum sie heute schon aufgestanden sind, als es draußen noch dunkel war. Und dann sind sie ewig mit dem Auto gefahren. Aber erst als er den Hafen und das Meer gesehen hat, war klar, wo sie überhaupt hinwollten. Sie fahren wieder auf die Insel, auf der er im letzten Sommer war. Und das Schiff liegt schon mit qualmendem Schornstein da und wartet auf Sie!

Kleiner Wolf erkennt den Kapitän sofort. Er zerrt ein bisschen an der Leine, damit Emma und Leon kapieren, dass sie sich unbedingt an den anderen Leuten vorbeidrängeln müssen, damit er den Kapitän begrüßen kann. Aber auch als er kurz bellt, verstehen sie immer noch nicht, was er will.

Leon sagt nur: „Das Schiff ist groß genug, da passen alle drauf. Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir nicht mitkommen.“

Und Emma sagt: „Stimmt schon, es nervt, hier in der Schlange rumzustehen. Aber wir können uns nicht vordrängeln, das gibt nur Ärger.“

Emmas und Leons Mutter Andrea sagt gar nichts. Sie muss aufpassen, dass der Mann mit der Glatze und der Sonnenbrille, der hinter ihr steht, ihr nicht schon wieder seinen Koffer gegen die Beine rammt. Das hat er nämlich schon zweimal gemacht. Ohne sich zu entschuldigen!

Und Kleiner Wolf wollte sich schon umdrehen und kurz knurren, damit der Glatzkopf merkt, dass sie auch noch da sind. Aber der Mann sieht nicht so aus, als ob ihn das stören würde. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn Kleiner Wolf ihm einfach an den Koffer pinkelt. Das würde ihn nämlich ganz bestimmt stören! Aber in demselben Moment, in dem er sein Bein gehoben hat, hat er auch den Kapitän entdeckt, der oben auf dem Schiff steht und die Fahrkarten kontrolliert.

Er zerrt wieder an der Leine und bellt noch mal. Weiter vorne bellt ein anderer Hund zurück. Und dann noch ein dritter Hund, der schon auf dem Schiff ist.

Irgendjemand fängt an zu schimpfen. Und ein kleiner Junge weint und ruft ängstlich: „Ich will nicht auf die Insel, wenn da lauter Hunde sind, die immer bellen!“

Aber die anderen beiden Hunde hören trotzdem nicht auf. Also muss Kleiner Wolf natürlich auch antworten!

Was ist los?, bellt er laut. Habt ihr etwa Angst, weil wir gleich mit dem Schiff fahren? Müsst ihr nicht. Es schaukelt nur ein bisschen und es stinkt nach Qualm, aber sonst passiert nichts. Und der Kapitän ist mein Freund, dass ihr’s nur wisst!

Je länger sie hin und her bellen, umso mehr Leute regen sich auf.

„Sei endlich still“, befiehlt ihm Leon.

„Sitz“, sagt Emma.

Er setzt sich und wedelt kurz mit dem Schwanz, damit sie nicht böse auf ihn sind.

„Du brauchst gar nicht so freundlich zu tun“, sagt der Mann mit der Glatze und zeigt mit dem Finger auf ihn. „Du hast nämlich angefangen, ich hab’s genau gehört!“ Jetzt dreht er sich zu Andrea um. „Wenn Sie nicht in der Lage sind, auf Ihren Kläffer aufzupassen, dann sollten Sie besser zu Hause bleiben.“

„Und wenn Sie nicht in der Lage sind, auf Ihren Koffer aufzupassen, sollten Sie vielleicht lieber zur Insel schwimmen, als anderen Leuten die Beine zu zerschrammen“, gibt Andrea zurück.

„Unverschämtheit“, brummt der Glatzkopf und schiebt seinen Koffer so weit nach vorne, dass Kleiner Wolf beinahe gegen Leons Beine gequetscht wird.

Kleiner Wolf knurrt den Koffer an. Und dann riecht er es! In dem Koffer müssen Würstchen sein. Und Käse! Und noch irgendwas anderes, das so gut duftet, dass er gleich anfängt, den breiten Ledergürtel abzulecken, mit dem der Koffer verschlossen ist. Ganz zufällig erwischt er dabei mit den Zähnen das Ende des Gürtels und zieht und zerrt, um ihn aus der Schnalle zu bekommen.

Er hört noch, wie Leon ruft: „Nicht! Lass das!“

Und Emma versucht, ihn wegzuziehen, während der Glatzkopf auch schon brüllt: „Der Hund will meinen Koffer fressen! Wenn der irgendwas kaputt macht, dann … dann zeige ich Sie an. Dann verklage ich Sie wegen Sachbeschädigung!“

Gleich darauf spürt Kleiner Wolf, wie ihn eine starke Hand im Nacken packt und einfach in die Höhe hebt. Er windet sich und zappelt mit allen vieren, aber die Hand hält ihn fest gepackt.

„Was ist denn hier los?“, hört er eine tiefe Stimme. „Wenn der Hund Ärger macht, kann er nicht mit aufs Schiff, so einfach ist das!“

Die Stimme kommt ihm bekannt vor, aber erst als er es schafft, den Kopf ein bisschen zu drehen, sieht er, wer ihn da hochhebt! Und fängt vor Freude an zu winseln.

Im selben Moment erkennt ihn auch der Kapitän.

„Das gibt’s ja wohl nicht! Das ist doch mein kleiner Freund vom letzten Jahr, was machst du denn hier?“

Der Kapitän drückt ihn an sich. Und Kleiner Wolf leckt ihm zur Begrüßung schnell übers Gesicht und dann übers Ohr. Nur leider kommt er dabei mit der Schnauze gegen die Mütze! Bevor der Kapitän sie noch festhalten kann, weht ein Windstoß sie ihm vom Kopf und wirbelt sie hoch in die Luft und über die Leute hinweg aufs Hafenbecken zu …

„Nicht schon wieder“, stöhnt der Kapitän und setzt Kleiner Wolf hastig auf den Boden, um hinter seiner Mütze herzurennen. Kleiner Wolf drängt sich zwischen den Beinen der Leute hindurch, ohne auf die Rufe von Emma und Leon zu achten. Er muss dem Kapitän helfen, klar, aber da segelt die Mütze auch schon ins Wasser und wird von der nächsten Welle davongetragen.

Kleiner Wolf überlegt nicht lange. Er drückt sich mit allen vier Pfoten gleichzeitig ab und springt. Ganz fest kneift er die Augen zusammen und hält die Luft an, als er mit einem Bauchklatscher im Wasser landet.

Er hat völlig vergessen, wie kalt es im Meer ist, viel kälter als in dem Ententeich zu Hause, aber er paddelt mit den Pfoten, bis er prustend wieder an die Oberfläche kommt. Er schüttelt den Kopf, dass das Wasser nach allen Seiten spritzt. Da schwimmt die Mütze, gar nicht weit weg von ihm, und als eine Welle kommt, lässt er sich einfach von ihr mitnehmen, bis er die Mütze mit den Zähnen packen kann.

Aber die Hafenmauer, von der er gerade heruntergesprungen ist, ist natürlich viel zu hoch, um wieder nach oben zu kommen. Er muss also umdrehen und in die andere Richtung schwimmen, wo das Ufer flach und schlickig ist.

Es ist ganz schön anstrengend, mit der Mütze in der Schnauze voranzukommen, und immer wieder kriegt er salziges Wasser in die Nase, aber er schafft es! Und dann kommt ihm auch schon der Kapitän entgegengewatet, mit Schuhen und Hose mitten durch die Wellen, und nimmt ihn wieder auf die Arme. Als ob es ihm völlig egal wäre, dass jetzt auch noch sein schickes Hemd klatschnass wird.

„Du hast dich nicht verändert“, stellt der Kapitän fest. „Du bist immer noch genauso mutig! Aber versprich mir, nicht wegen einer albernen Mütze noch mal ins Hafenbecken zu springen, hörst du? Das ist nämlich zu gefährlich, merk dir das!“

Kleiner Wolf versteht nicht ganz, was der Kapitän meint. Aber es ist auch egal, Hauptsache, er freut sich, dass er seine Mütze wiederhat.

Er dreht sich zum Anleger und bellt, so laut er kann. Damit auch Emma und Leon wissen, dass alles in Ordnung ist. Die beiden anderen Hunde bellen zurück: Das hast du gut gemacht! Wir hätten uns das nicht getraut!

Ich kenn mich hier aus!, bellt Kleiner Wolf. Man muss nur aufpassen, dass man kein Wasser in die Nase kriegt, das ist alles!

Der Kapitän setzt sich lachend die triefende Mütze auf den Kopf und ruft den Leuten auf der Hafenmauer zu: „Das ist Kleiner Wolf! Und er ist so ziemlich der schlaueste Hund, den ich kenne. Er hat vor nichts Angst!“

Natürlich gibt es noch ein bisschen Ärger mit Emma und Leon und Andrea, weil Kleiner Wolf nicht auf sie gehört hat. Aber als die anderen Leute alle ankommen, um ihn zu bewundern, und ihn unbedingt wenigstens einmal streicheln wollen, merkt er, dass auch seine Familie sehr stolz auf ihn ist.

Sogar der Glatzkopf ist jetzt freundlich zu ihnen! Als sie oben auf dem Schiff sind und sich gerade einen Platz gesucht haben, wuchtet er seinen Koffer auf die Bank neben ihnen – und klappt den Deckel auf und holt sechs Würstchen raus! Ein Würstchen für Kleiner Wolf. Eins für Emma. Eins für Leon. Eins für Andrea. Eins für sich selbst. Und dann noch eins für Kleiner Wolf, der mit seinem ersten Würstchen natürlich längst fertig ist.

„Wenn Sie Ihren Hund mal nicht mehr wollen, sagen Sie Bescheid“, erklärt der Glatzkopf mit vollem Mund. „Ich nehme ihn sofort.“

„Das können Sie vergessen“, antwortet Leon. „Das ist unser Hund. Den geben wir nicht her.“

„Auf gar keinen Fall“, bestätigt Emma und guckt den Mann so böse an, dass er schnell die Hände hebt und sagt: „Schon gut, ich hab’s ja kapiert. Aber darf ich wenigstens schnell noch ein Foto von ihm und mir machen?“

Er holt sein Handy aus der Tasche und setzt sich schnaufend auf die Bank.

„Hopp!“, ruft Leon, damit Kleiner Wolf neben ihn auf die Bank springt.

Natürlich hat Kleiner Wolf kapiert, was er machen soll. Aber er bleibt trotzdem einfach sitzen und tut so, als ob er hinter den Möwen herblicken würde, die kreischend dem Schiff folgen.

„Hä?“, macht Leon. „Was ist denn mit dir los?“

„Ist doch klar“, meint Emma und kichert ein bisschen. „Er arbeitet nur gegen Bezahlung. Und er hat doch garantiert längst gerochen, dass in dem Koffer nicht nur die Würstchen waren.“

„Ach so ist das“, sagt der Glatzkopf staunend und holt eine Scheibe Käse aus einer Dose. „Magst du denn auch Käse?“

Wuff, macht Kleiner Wolf und springt mit einem Satz neben ihn.

„Ganz schön schlau“, stellt der Mann fest. „Aber auch ganz schön verfressen.“

„Da ist er ja offensichtlich nicht der Einzige hier auf dem Schiff“, sagt Andrea, aber so leise, dass der Glatzkopf es zum Glück nicht hört.

Die Überfahrt geht eigentlich viel zu schnell vorüber, und als das Schiff im Hafen anlegt, hat Kleiner Wolf gerade entdeckt, dass in dem Koffer auch noch eine Tüte mit Nüssen ist. Und er mag Nüsse!

Aber im selben Moment ruft Leon laut: „Guckt mal da, seht ihr den Pferdewagen auf dem Anleger? Der Kutscher hält doch ein Schild hoch! Träume ich oder steht da wirklich …“

„Du träumst nicht“, unterbricht ihn seine Schwester. „Da steht wirklich ‚Kleiner Wolf‘ drauf.“

„Kleiner Wolf und Familie“, liest Andrea laut vor. „Das sind wir! Wir müssen nicht laufen, sondern werden mit dem Pferdewagen zum Campingplatz gebracht. Aber woher weiß der Kutscher, dass wir heute ankommen?“

Als sie ihr Gepäck zum Pferdewagen schleppen, fragt Leon den Kutscher für alle Fälle noch mal: „Meinen Sie wirklich uns?“

„Kennt ihr jemanden, der Kleiner Wolf heißt?“

„Das ist unser Hund.“

„Und macht euer Hund hier mit euch Ferien?“

„Ja schon, aber …“

„Aufladen, los geht’s.“

Das Pferd vor der Kutsche wiehert und stampft mit den Hufen. Kleiner Wolf läuft schnell zu ihm, um es zu begrüßen. Sie kennen sich ja noch vom letzten Sommer, als er heimlich auf dem Pferdewagen mitgefahren ist, ohne dass der Kutscher irgendwas gemerkt hat. Nur das Pferd wusste Bescheid!

Er wedelt mit dem Schwanz und stößt ihm mit der Schnauze gegen die Nüstern. Und das Pferd schnaubt und bläst ihm seinen warmen Atem ins Gesicht.

„Jetzt komm schon, Kleiner Wolf!“, ruft Emma.

Kleiner Wolf nimmt Anlauf, um auf den Wagen zu springen. Dann quetschen sie sich alle neben den Kutscher, und los geht’s.

„Wir sehen uns!“, ruft der Kapitän vom Schiff aus hinter ihnen her und winkt.

Kleiner Wolf sieht, wie der Kutscher zurückwinkt und kurz den Daumen hochhält. Und er ist sich sicher, dass der Kapitän den Pferdewagen zum Hafen bestellt hat, damit er sie abholt.

Aber die ganz große Überraschung kommt erst noch!

Als sie nämlich durchs Dorf fahren und dann plötzlich nach links abbiegen. Obwohl der Weg zum Campingplatz geradeaus führt.

„Wir müssen zum Campingplatz!“, erinnert Andrea den Kutscher.

Der Kutscher schüttelt nur den Kopf und fährt einfach weiter, ohne etwas zu sagen. Das Pferd vor dem Wagen wiehert leise, fast so, als würde es lachen. Und als Kleiner Wolf nicht weit vor ihnen das große Haus mit den vielen Fenstern sieht, weiß er, wo sie hinwollen.

2. Kapitel

Kleiner Wolf macht Urlaub im Hotel

Es dauert eine ganze Weile, bis sie es wirklich alle verstanden haben.

„Eine Ferienwohnung nur für uns?“, fragt Leon.

„Und Essen im Hotel?“, fragt Emma.

„Und wir müssen nichts dafür bezahlen?“, fragt Andrea.

Der Hoteldirektor lacht. „Ihr seid meine Gäste! Ich hab ja sogar den Zeitungsartikel vom letzten Sommer im Speisesaal aufgehängt, mit dem Foto von Kleiner Wolf, als er Emma und Leon von der Sandbank gerettet hat. Da kann ich euch doch jetzt nicht auf dem Campingplatz zelten lassen! Nein, nein, ihr wohnt schön im Hotel, das ist ja wohl selbstverständlich. Als der Kapitän vorhin angerufen hat, habe ich gleich die Wohnung unterm Dach für euch fertig gemacht. Und ich freue mich, wenn ihr euch freut.“

Dann will der Hoteldirektor noch wissen, wie es Opa geht. Für einen kleinen Moment ist Kleiner Wolf ein bisschen traurig, als er den Namen hört. Es wäre schön, wenn Opa auch dabei wäre, denkt er. Aber letztes Jahr ist er gleich am ersten Tag auf der Insel sehr krank geworden und musste mit dem Hubschrauber nach Hause gebracht werden. In dem ganzen Durcheinander hatte niemand mehr an Kleiner Wolf gedacht – und plötzlich war er ganz alleine! Zum Glück hat er dann Emma und Leon getroffen. Und weil sie in der gleichen Stadt wohnten wie Kleiner Wolf und Opa, ist doch noch alles gut geworden. Kleiner Wolf ist jetzt immer eine Woche bei Opa und eine Woche bei Emma und Leon, und das klappt richtig gut. Opa ist inzwischen auch wieder gesund. Aber auf die Insel wollte er trotzdem lieber nicht noch mal …

„Er wollte lieber zu Hause bleiben“, erklärt Andrea gerade dem Hoteldirektor. „Ich glaube, er hatte ein bisschen Angst davor, dass vielleicht wieder so etwas passiert.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagt der Hoteldirektor und nickt. „Dann müsst ihr aber viele Fotos machen und ihm hinterher alles ganz genau erzählen. Und ihr habt Glück, ich habe gerade die Wetternachrichten gehört, es soll viel Sonne geben und richtig warm werden …“

„Cool“, meint Leon.

„Wir müssen unbedingt gleich heute noch ans Meer!“, ruft Emma.

„Ich habe übrigens mein silbernes Schwimmabzeichen gemacht“, fängt Leon aufgeregt an zu erzählen. „Das war gar nicht so leicht. Ich musste sogar tauchen! Und von einem Dreimeterbrett springen und …“

Jetzt reden sie wieder endlos, denkt Kleiner Wolf. Typisch Menschen! Als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als sich ständig irgendwelche Geschichten zu erzählen.