Zum Buch
Wussten Sie, dass es drei Versuche brauchte, um Ihre Nieren entstehen zu lassen? Oder, dass winzige Härchen auf dem Rücken eines ungeborenen Kindes den Organen den richtigen Weg an ihre vorbestimmte Stelle weisen? Wann begannen unsere Sinnesorgane zu arbeiten – und was fühlten, hörten, sahen sie dann?
Zur Autorin
Die junge Wissenschaftlerin Katharina Vestre verknüpft in diesem Buch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Zellbiologie und den Neurowissenschaften. Mit ihrem herausragenden Erzähltalent öffnet sie uns die Augen für das, was mit uns geschieht, bevor wir das Licht der Welt erblicken.
Katharina Vestre
WUNDER IM BAUCH
Was in den neun Monaten
vor unserer Geburt geschieht
Aus dem Norwegischen
von Daniela Syczek
Mit Illustrationen von Linnea Vestre
Die norwegische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»Det første mysteriet« im Verlag H. Aschehoug & Co, Oslo.
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Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.
Der Verlag bedankt sich dafür.
Deutsche Erstausgabe September 2019
Copyright der Originalausgabe © 2018
by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Published in agreement with Oslo Literary Agency
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock/pickbiz; MaddyZ;
Autorenfoto © Hildur Augustsdottir;
Illustrationen © Linnea Vestre
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24675-4
V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Vorwort
Der Wettlauf
Das verborgene Universum
Das Rezept für einen Menschen
Die Invasion
Natürliche Klone und unbekannte Zwillinge
Die Umrisse eines Körpers
Zellisch für Anfänger
Die Kunst, eine Fruchtfliege zusammenzusetzen
Das Erbe des Urmeers
Helfende Hände
Geschlecht und Seeschlangen
Geheime Vorbereitungen
Wundersame Windungen
Die Sinne
Von Wasser zu Luft
Das Ende – oder der Anfang
Danksagung
Literaturhinweise
Als ich sechs Jahre alt war, sammelte ich Hotelseifen, spielte mit Barbies und trug blinkende Turnschuhe.
Mein Filmgeschmack war ungewöhnlich originell und lässt sich kurz mit »Alles mit Prinzessinnen« zusammenfassen. Du errätst sicher nie, was mein Lieblingsbuch war. Ich verrate es dir: Schwangerschaft und Geburt – ein praktischer Leitfaden für alle zukünftigen Eltern. Meine Schwester und ich holten es immer aus dem Bücherregal, überblätterten alle Ernährungsratschläge und stoppten auf Seite 70: Der wachsende Fötus. Tief fasziniert verfolgten wir auf den Zeichnungen ein kleines Wesen, das wuchs und wuchs, und dachten an unseren eigenen kleinen Bruder, der im Bauch unserer Mutter wohnte. Wir erlebten, wie er sich von einem seltsamen kleinen Tier mit Schwänzchen zu einem molligen Baby entwickelte, das nicht einmal wusste, wo es mit seinen eigenen Ärmchen und Beinchen hinsollte. Wie war das alles eigentlich möglich?
Es dauerte ungefähr 17 Jahre, bis ich mich wieder mit dieser Frage beschäftigte. Ich war gerade dabei, meinen Bachelor in Biochemie an der Uni Oslo abzuschließen, und saß eines Abends noch spät in der Bibliothek und lernte für eine Prüfung in Zellbiologie.
Als ich das Ende des Kapitels erreichte, fielen mir einige Bilder auf, die Schritt für Schritt zeigten, wie eine Hand entsteht. Zuerst ähnelt die Hand dem Fuß einer Ente, doch dann kann man nach und nach Finger erkennen. Aus der Bildunterschrift konnte ich erfahren, dass die Verwandlung durch »kollektiven Zellselbstmord« passierte. Irgendwann einmal starben die Zellen zwischen meinen Fingern also auf Befehl ab – und daraus entwickelten sich die Hände, mit denen ich jetzt schreibe.
Mir wurde schnell klar, dass das nicht im Leitfaden auf Seite 70 unter Der wachsende Fötus gestanden hatte. Die Bilder, die ich als Sechsjährige gesehen hatte, erzählten nur einen kleinen Teil der ganzen Geschichte. Wie entsteht das winzige Wesen also wirklich? Was passiert in den Zellen, in den DNA-Molekülen? Woher weiß die Hand, dass sie zur Hand und nicht zum Fuß oder zum Ohr werden soll? Auf der Suche nach Antworten begann ich in Nachschlagewerken und Forschungsartikeln zu graben, und es dauere nicht lange, bis das Thema mich vollkommen in seinen Bann gezogen hatte.
Vor den Sommersemesterferien 2015 lieh ich mir drei dicke Embryologie-Bücher aus der Krankenhausbibliothek aus und nahm sie in den Italienurlaub mit.
Nach und nach wurde meine Suchbegriffdatenbank mit Eizellen und Föten gefüllt. Google zog seine Schlussfolgerungen und begann hoffnungsvoll, mir Werbung für Babycremes vorzuschlagen. Was die Internetalgorithmen dann berechneten, als ich auch nach Fruchtfliegen, Geschlechtsentwicklung von Seeschlangen und Fischnieren suchte, ist eine andere Geschichte. Dabei herausgekommen ist jedenfalls das Buch, das du jetzt in deinen Händen hältst. Es ist eine Geschichte über entfernte Vorfahren, unbekannte Zwillinge, lebensgefährliche Mutterkuchen und eigenartige Fruchtfliegen. Und ohne zu viel zu verraten, kann ich auch schon sagen, dass es um dich geht. Lass mich dir vom Beginn deines Lebens erzählen.
Während der Arbeit an diesem Buch habe ich festgestellt, dass viel Verwirrung um die Altersbestimmung eines Fötus herrscht, da es mehrere Berechnungsmöglichkeiten gibt, die zu allem Übel noch miteinander vermischt werden können. Ärzte und Hebammen geben normalerweise Schwangerschaftswochen an, die von der letzten Menstruation der schwangeren Frau ausgehen. Verwirrenderweise findet die Befruchtung in der Regel etwa zwei Wochen später statt, so dass eine Frau eigentlich bereits ihre dritte Schwangerschaftswoche beginnt, wenn sie tatsächlich schwanger wird. Der Fötus ist daher zwei Wochen jünger als die Schwangerschaft an sich: Ende der zwölften Schwangerschaftswoche ist der Fötus zehn Wochen alt, Ende der vierzehnten Schwangerschaftswoche zwölf Wochen und so weiter.
Ich habe mich dafür entschieden, die Wochen ab der Empfängnis zu zählen, so dass die Zeitangabe das tatsächliche fetale Alter widerspiegelt. Wenn ich von Monaten spreche, meine ich jeweils vier Wochen – der erste Monat ist von Woche eins bis vier, der zweite von fünf bis acht und so weiter. Wenn man sich also fragt, von welcher Schwangerschaftswoche die Rede ist, braucht man einfach nur zwei Wochen hinzuzurechnen.
Die von mir angegebenen Längen gelten vom Kopf bis zum Gesäß des Fötus (Scheitel-Steiß-Länge oder SSL). Diese Berechnungsmethode ist sehr verbreitet, da der Fötus oft die Beine anzieht und es daher schwierig sein kann, die volle Körperlänge inklusive Beinchen zu bestimmen. Darüber hinaus ist es erwähnenswert, dass alle Zeit- und Größenangaben auf Durchschnittswerten basieren und sich verschiedene Föten unterschiedlich schnell entwickeln. Mit all dem im Hinterkopf können wir loslegen.
In den Stunden davor.
Ein fast aussichtsloser Wettlauf hat begonnen. Zusammen mit Hunderten von Millionen von Mitstreitern schwimmt eine Samenzelle energisch los. So fieberhaft, wie sie paddelt, sieht sie aus wie eine kleine Kaulquappe. Gegen den Strom und in einer unbekannten Umgebung muss sie mehr als tausend Mal ihre eigene Körperlänge zurücklegen. Die Regeln sind einfach: als Erste das Ziel erreichen – oder sterben.
Die Landschaft, durch die die Samenzelle schwimmt, ist weder idyllisch noch einladend. Sie erinnert an einen verwachsenen Wald voller wildem Gestrüpp und Sackgassen. Unterwegs läuft sie Gefahr, von Immunzellen geschluckt oder von Säure zersetzt zu werden. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass sie sich fälschlicherweise in einer der Vertiefungen der Gebärmutterwand ansiedelt. Schon kurz darauf sind die meisten Konkurrenten aus dem Rennen, und Muskelkontraktionen im Unterleib der Frau helfen der Samenzelle glücklicherweise dabei, sich nach oben durchzukämpfen. Bald erreicht sie die Gebärmutter, ist jedoch immer noch weit entfernt vom Sieg. Um eine reale Chance auf den Sieg zu haben, muss sie zuerst den richtigen Weg auswählen. Links oder rechts abbiegen? Die Gebärmutter ist mit zwei engen Kanälen – den Eileitern – verbunden, und am Ende einer der beiden befindet sich das Ziel. Die Wände der Eileiter sind mit Härchen bedeckt, die Flüssigkeit in die Gebärmutter peitschen, doch die Samenzelle weigert sich aufzugeben. Sie kämpft gegen den Strom an und schwimmt aufwärts. An diesem Ort da oben, versteckt zwischen den tiefen Gruben und hohen Gipfeln der Schleimhaut, wird die runde Eizelle bald den Gewinner des Wettlaufs willkommen heißen.
Auf das, was jetzt passieren wird, hat die Eizelle lange gewartet. Schon als deine Mutter selbst noch ein winziger Fötus war, hat sie bereits die Vorläufer ihrer eigenen Eizellen produziert. Später begannen diese allmählich, sich in reife Eizellen umzuwandeln. Die Eizelle, die soeben den Eileiter deiner Mutter hinunterschwimmt, ist eine der glücklichen Auserwählten. Jeden Monat beginnen mehrere Eizellen zu reifen, aber nur eine von ihnen hat die Chance, den Eileiter zu durchwandern. Die anderen erwartet der sichere Tod.
Wenn eine Eizelle heranreift, teilt sich ihr Vorläufer auf eine besondere Weise, so dass die Chromosomen deiner Großmutter und deines Großvaters voneinander getrennt werden. Chromosom Nummer 1 deiner Großmutter wandert in die eine Zelle, Chromosom Nummer 1 deines Großvaters in die andere und so weiter. Die fertige Eizelle hat daher einen halben Chromosomensatz und ist bereit, einen neuen Partner zu finden. Außerdem reichert sich die Eizelle während der Reifung bis in ihre Spitzen mit Nährstoffen an und ist daher im Vergleich zu den anderen Zellen im Körper ein riesiger Kraftprotz. Mit einem Durchmesser von etwa einem Zehntelmillimeter ist die Eizelle sogar tatsächlich ohne die Hilfe eines Mikroskops sichtbar.
Im Vergleich dazu ist die Samenzelle das mickrige Gegenteil der majestätischen Eizelle und gehört zu den winzigsten Zellen des Körpers. Hektisch und paddelnd, mit kleinem Kopf und peitschendem Schwänzchen. Für Nährstoffe ist kaum Platz, denn der Kopf ist mit der DNA deines Vaters vollgestopft. Unter den vielen Millionen von Samenzellen gibt es nur eine, die genau diese Hälfte deiner Gene trägt. Wäre der Schwimmer daneben nur ein kleines bisschen schneller vorangekommen, würdest du so, wie du heute bist, nicht existieren. Die Chance, dass zwei Samenzellen identisch sind, ist nämlich verschwindend gering. Wenn eine Samen- oder Eizelle entsteht, sind die Chromosomen deiner Großeltern eng umschlungen, und bevor die Chromosomen für immer voneinander getrennt werden, tauschen sie kleine DNA-Stücke aus. Ein Chromosom, das ursprünglich von deiner Großmutter väterlicherseits kam, kann daher auch ein paar Gene deines Großvaters väterlicherseits tragen, wenn es im Sperma endet.
Die Kombinationsmöglichkeiten sind also endlos – wir dürfen der richtigen Samenzelle also anständig die Daumen drücken! Ich kann dich jedenfalls dahingehend beruhigen, dass die fieberhaft kämpfende Kaulquappe genau für das geschaffen wurde, was sie jetzt versucht. Die Samenzelle mag blind und taub sein, das hält sie aber nicht davon ab, sich in einer Umgebung zurechtzufinden, in der sie noch nie zuvor gewesen ist. Sie kann minimalste Temperaturunterschiede wahrnehmen, was praktisch ist, weil das von ihr angesteuerte Ziel ungefähr zwei Grad wärmer als der restliche Weg dorthin ist. Deshalb spürt sie es auch, wenn sie sich auf der Zielgeraden befindet.
Außerdem ist sie mit einer Art einfachem Geruchssinn ausgestattet, der – genau wie in deiner Nase – kleine Moleküle an der Oberfläche hat, die Geruchsrezeptoren genannt werden. Jeder Geruchsrezeptor ist ein Spezialist im Erkennen eines bestimmten Moleküls. Wenn Luft durch deine Nase strömt, bleiben die Moleküle des Duftstoffes an verschiedenen Geruchsrezeptoren hängen und rufen ein elektrisches Signal hervor, das weiter ins Gehirn übertragen wird. In unserem Fall fangen die Geruchsrezeptoren der Samenzelle ein Molekül auf, das aus der Eizelle geschickt wird, welches ihr versichert, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Im Endspurt sind nur noch wenige Teilnehmer übrig und die chemischen Locksignale der Eizelle ermutigen die Samenzellen zu Höchstleistungen. Bald ist das Ei von den kleinen Kaulquappen umzingelt, deren Schwänzchen heftig paddeln, während ihre Köpfe sich in die gelbliche Schleimhaut bohren, die die Eizelle schützend umgibt.
Aus ihren Köpfchen sprühen die Samenzellen ihre chemischen Waffen: Enzyme, die die Schleimhaut abbauen und es der Samenzelle erlauben, sich nach innen zu graben, tiefer und tiefer. Nur eine von ihnen ist schnell genug. Der Gewinner wirft seinen Schwanz ab, verschmilzt mit dem Ei und entlädt seine kostbare Fracht: die 23 Chromosomen von deinem Vater. Im selben Moment setzt die Eizelle Stoffe frei, die eine harte und undurchlässige Hülle um das Ei bilden, so dass ab sofort niemand mehr eindringen kann. Nun gibt es keine Zeit mehr zu verlieren, denn wenn in diesem Augenblick mehrere Samenzellen mit der Eizelle verschmelzen, sind die Folgen katastrophal.
Wenn zwei Samenzellen gleichzeitig in das Ei gelangen, entsteht eine Zelle von 69 Chromosomen anstelle von 46. Obwohl die Eizelle ihr Bestes tut, um dies zu vermeiden, ist sie dabei leider nicht immer erfolgreich. Als ein Forscherteam Kabeljau-Eier beobachtete, stellte es fest, dass zehn Prozent der Eier von mehr als einer Samenzelle befruchtet worden waren. Es ist unmöglich, dass sich solche Eier normal entwickeln, weswegen sie auch – wie wir später sehen werden – zum Tode verurteilt sind. Aber: Kein Grund zur Panik – diesmal gab es nur einen Gewinner.
Nun vereinigen sich die Chromosomen von deiner Mutter und deinem Vater, und die allererste Zelle, aus der du entstehen wirst, ist erschaffen. Der Wettlauf ist vorbei. Deine Geschichte kann beginnen.
Was passiert im Mutterbauch? Bevor das Mikroskop erfunden wurde, waren die meisten Veränderungen im Körperinneren für die Menschen nicht sichtbar. Es ist fast unmöglich, die Anfänge und die kleinen Details wahrzunehmen, die nach und nach mit bloßem Auge erkennbar werden. Sogar Elefanten, die bis zu vier Meter über den Boden ragen, beginnen als mikroskopisch kleine Geschöpfe. Außerdem hilft es der besseren Einsicht in den Körper nicht wirklich, dass wir in Haut, Muskeln und Blutgefäße eingewickelt sind. Vor mehr als 2300 Jahren machte sich Aristoteles Gedanken darüber, wie neues Leben entsteht. Auf der Suche nach Antworten schlug er befruchtete Hühnereier zu verschiedenen Zeiten ihrer Entwicklung auf. In einem drei Tage alten Ei sah er ein kleines rotes Herz, das inmitten des Eidotters offen lag und schlug. Wenn er erst nach einer Woche die Schale aufbrach, fand er eine kleine Kreatur mit großen Augen vor. Je später er das Ei öffnete, desto mehr ähnelte die Kreatur einem Huhn.
Genau so musste es auch bei den Menschen sein, dachte Aristoteles. Er stellte sich also vor, dass der Samen des Mannes das Blut der Frau irgendwie dazu brachte, allmählich einen Menschen im Mutterbauch zu formen.
Aristoteles glaubte auch, dass Lebewesen noch auf ganz andere Art und Weisen entstehen konnten. Insekten könnten aus dem Tau auf den Blättern gebildet werden, während Motten aus Wolle und Austern aus Schleimschlamm entstehen könnten. Seine Theorien waren zweitausend Jahre später immer noch aktuell. Noch im 17. Jahrhundert schrieb der Chemiker Jean Baptiste van Helmont einige kreative und heutzutage ziemlich unterhaltsame Ideen nieder, die beschreiben, wie die verschiedenen Lebewesen der Erde wohl entstehen könnten. Ihm zufolge kann jeder Mensch zu Hause seine eigene Maus züchten, denn das Rezept ist einfach: Man lege ein schmutziges, leicht verschwitztes Hemd an die Öffnung eines Behälters, der mit Weizenkörnern gefüllt ist, und warte 21 Tage – voilà! Der Weizen wandle sich angeblich zu einer schnüffelnden, kriechenden, putzmunteren Maus um.
Tatsächlich gab es kaum Gründe, am Rezept van Helmonts zu zweifeln – und es war nicht nur er alleine, der interessante Beispiele dafür lieferte, wie Tiere unter bestimmten Umständen ganz von selbst entstehen konnten. Nasser Schlamm entlang der Flussufer verwandelte sich auf magische Art und Weise in Frösche, Abfall in Ratten und die weißen Larven in verrottendem Fleisch wurden ebenfalls als eigenständig entstandene Schöpfung gesehen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es für die Forscher früherer Jahrhunderte schwer vorstellbar war, wie genau sich Austern paaren und Eier legen. Dennoch gab es schon damals einige Forscher, denen bewusst war, dass etwas mit dieser Idee nicht stimmen konnte. Wie konnte es möglich sein, dass eine komplette Spezies sich aus einem schwebenden Chaos selbst geformt hatte?
Am Ende des 17. Jahrhunderts kam eine neue Idee auf: Jede Kreatur, ob Frosch oder Mensch, entstehe aus einer Miniaturversion seiner selbst. Als Gott die ersten Menschen nach seinem Ebenbild schuf, schuf er somit auch alle zukünftigen Generationen mit. Man dachte, die kleinen Miniaturmenschen seien ineinandergestapelt, Schicht für Schicht, immer kleiner und kleiner werdend, wie bei einer russischen Puppe. Später würden sie im Mutterleib nur mehr heranwachsen, bis sie zur Welt kamen. Als die ersten Mikroskope erfunden wurden, verhärteten sich die Miniaturmenschen-Theorien der Biologen. Stell dir mal vor, welcher Detailreichtum sich den Forschern plötzlich eröffnete, der dem bloßen Auge so lange verborgen geblieben war! Die Möglichkeiten dessen, was man mit noch ausgereifteren Mikroskopen alles entdecken konnte, waren schier unbegrenzt.
Einer der geschicktesten Mikroskophersteller seiner Zeit war der holländische Kaufmann Anton van Leeuwenhoek. Kaum etwas sprach dafür, dass Leeuwenhoek zum Wissenschaftler werden würde, da er weder über einen Universitätsabschluss noch über ausreichende finanzielle Mittel verfügte. Sein Plan war es eigentlich gewesen, mit seinen Linsen die Qualität der von ihm verkauften Stoffe zu untersuchen. Aber eines Tages packte Leeuwenhoek die Neugier, und er setzte einen Wassertropfen unter die Linse.
Was er sah, veränderte sein Leben für immer. In dem kleinen, durchsichtigen Tropfen konnte er ein richtiges Gewusel mysteriöser Kreaturen mit allen möglichen Formen erkennen. Leeuwenhoek gab ihnen den Namen Animalcule – »kleine Tiere«. Bald schon untersuchte Leeuwenhoek alles, was ihm über den Weg lief: das Wasser, das er trank, die Pfützen, durch die er lief – sogar seinen eigenen Zahnbelag! Überall fand er die winzigen Tierchen. Vergessen waren exotische Inseln, vergessen der Weltraum – Leeuwenhoek konnte ein bisher verborgenes Universum erspähen, das noch kaum beforscht war und ganz nahe, nämlich im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor seiner Nase lag.
Die Gerüchte über Leeuwenhoeks beeindruckendes Mikroskop verbreiteten sich blitzschnell, weswegen er eines Tages von einem Medizinstudenten konsultiert wurde, der eine Spermaprobe eines kranken Patienten untersuchen wollte. Leeuwenhoek hatte sich lange geweigert, Sperma zu untersuchen, denn als streng gläubiger Mensch befürchtete er, von anderen als pervers abgestempelt zu werden. Andererseits handelte es sich hier ja um einen medizinischen Fall …
Royal Society of London
War bestimmt nicht einfach, seine Ehefrau zu sein …
Am Ende des Briefes bat Leeuwenhoek den Präsidenten um Verschwiegenheit, da er befürchtete, die Beobachtungen könnten in der Riege der Wissenschaftler Ekel erregen, und ein Skandal war das Letzte, was er wollte.
Leeuwenhoek kam mehr und mehr zur Schlussfolgerung, dass Sperma eine wichtige Rolle für die Entstehung des Lebens spielen musste. Hierbei handelte es sich keineswegs um eine unbedeutende, sinnlose Flüssigkeit – sie wimmelte nur so vor mikroskopischem Leben! Könnte es nicht sein, dass der Miniaturmensch genau hier zu finden war? Wahrscheinlich fehlte ihm zur Beantwortung dieser Frage lediglich ein Mikroskop, das stark genug war. Seit Jahren arbeitete Leeuwenhoek extrem gewissenhaft an der Verbesserung seiner Linsen, doch obwohl seine Objektive immer genauer und stärker wurden, konnte er keine Minimenschen erkennen. Er probierte sogar, vorsichtig die Haut um die Köpfe der Samenzellen zu entfernen – aber auch dahinter versteckt erkannte er keine Miniaturlebewesen. Er fand sich schlussendlich damit ab, dass das zu nichts führen würde; er war sich zwar immer noch sicher, dass die Samenzellen ein bedeutendes Geheimnis in sich trugen, dieses sei aber wahrscheinlich so klein, dass wir es nie erkennen würden können. Dabei hätte er so gerne gewusst, was tatsächlich im Inneren der Spermien passierte.