Amann: Am Ufer des Flusses

Jürg Amann

AM UFER DES FLUSSES

Erzählung

© 2001

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ISBN 978-3-7099-7620-3

Umschlag: Benno Peter

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In memoriam H. J.

(1947-1999)

Inhalt

Am Ufer des Flussesn

Juds Fall hatte mich in allem Übrigen immer an den meinen erinnert. In allem ausser dem Einen. Nicht ganz in allem natürlich, aber doch fast, das konnte man sagen.

Zwar hatten unsere Wege von Anfang an in verschiedene Richtungen gewiesen, hatten nicht viel miteinander zu tun gehabt, wir hatten uns auch immer wieder und manchmal wie für immer aus den Augen verloren; aber dann hatten sie sich doch wieder gekreuzt, wenn auch scheinbar nur zufällig, waren wir einander wieder über den Weg gelaufen, hatten uns unsere Leben doch wieder zusammengeworfen und am Ende auf der gleichen Schutthalde abgeladen.

Und da sassen oder lagen wir nun, er lag und ich sass, beieinander, einander gegenüber, und fragten uns, wie alles gekommen war. Ich trank Bier, aus der Dose, das ich in meinem Plastikbeutel mitgebracht hatte; er seinerseits wurde durch Plastikschläuche, die ihm in die Armbeugen gesteckt waren, mit Blut und Glukose versorgt. Unter den gegebenen Umständen auf unser gegenseitiges Wohl anzustossen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Er sagte trotzdem: Zum Wohl.

Klar, dass wir, nach dem, was geschehen war, zuerst auf die Mütter zu sprechen kamen. Die seine war ja nun tot. Die meine lebte noch. Und wie sie noch lebte. Auch wenn sie mir mit ihrem Sterben ständig in den Ohren lag. So weit ich zurückdenken konnte. Sie war auch ein paar Jahre später zur Welt gekommen als seine, wenngleich am selben Ort und wenngleich das jetzt nichts mehr zur Sache tat. Im Nol, wie der Flecken dort hiess. Es war der Flurname der Örtlichkeit, wir hatten ihn beide von unseren Müttern immer wieder gehört, im Laufe unserer Leben. Im hintersten Winkel der Welt. Wo sich nicht einmal mehr Fuchs und Hase gute Nacht sagten. In jenem Loch, wie unsere Mütter es oft genannt hatten, das trotzdem ihr einziges Paradies gewesen war. Das Paradies ihrer Kindheit. Ein anderes gab es ja nicht. Am Wasser. Zu nahe, wie der Volksmund sagt, wenn jemand dann immer die Tränen zuvorderst hat. Am Ufer des Flusses, unter dem Rheinfall. Wo der Wasserstaub alles in einen feinen feuchten Schleier hüllte. Hinter dem aber, wenn die Sonne von der richtigen Seite hineinschien, Regenbogen, die Brücken zum Himmel, aufleuchteten. Wir hatten den Ort oft genug mit unseren Müttern, die zeitlebens nicht von ihm loskamen, besucht. In unmittelbarer Nähe der Grenze. Die damals, zwischen den Kriegen, anders als in der Zeit unserer Kindheit, noch eine wirkliche und nicht nur eine gedachte Grenze gewesen war.

Da, in den Nol, hatten ihre Mütter sie also hinbringen müssen. Auf Geheiss von deren Müttern. Als ganz junge Dinger, viel zu früh schwanger geworden. Geschwängert von irgendwelchen Strizzis, die darauf ihren Abschied genommen hatten, kaum dass sie von dem freudigen Ereignis Wind bekommen hatten. Freudig in Anführungszeichen. Hintragen, noch im Bauch. Aus der Stadt in die Weltabgeschiedenheit des Landes, der Ziegenbollen- und Kuhfladenlandschaft eines gottverlassenen Weilers zwischen Wald und Wasser. Um der vermeintlichen Schmach der Unehelichkeit zu entkommen, die zu jener Zeit noch eine ungeheure Schande gewesen sein musste.

Wo sie unsere Mütter also geboren hatten. Allein. Ohne Mann. Ohne familiären Beistand, ohne verwandtschaftliche Unterstützung. Von Gott und der Welt verlassen, wie man sagt. Im tiefen Winter die eine, im Hochsommer die andere. Zu Mariä Empfängnis seine, an Mariä Himmelfahrt meine. Wenngleich ein paar Jahre dazwischen lagen. So dass wir uns ihre Geburtstage, deren sie ja trotzdem oder erst recht gedacht haben wollten, später leicht merken konnten.

In diesem Studer-Haus, wo man sie also gelassen hatte, mutterseelenallein, wie man in ihrem Fall mit Fug und Recht behaupten kann. Das eine Art Heim für die Kinder sogenannt gefallener Mädchen gewesen war. An der Brust der Studer-Mutter, in der Obhut der Studer-Tochter, die als Milch-Amme und Kindermädchen ein Zubrot zum Schreiner-Brot des Studer-Mannes und Studer-Vaters verdienten. Zwar waren sie nicht aus dem selben Schoss gekrochen, wie wir es uns jetzt ausmalten, aber am gleichen Busen genährt und von der gleichen Hand geführt und vielleicht gezüchtigt und also den Studers zu Ziehtöchtern und einander zu Ziehschwestern und uns übers Kreuz zu einer Art Nenntanten geworden. Nenntante K., Nenntante R. Die wir jedenfalls später je und je Tante genannt hatten. So wie ihre späteren Männer, unsere Väter, Onkel. Onkel H. und Onkel F. So wie uns selbst Cousin oder Vetter. Vetter zuerst, wie es die Zeit erforderte, Cousin später, wie es die Mode wollte.

Jedenfalls hatten sich unsere Mütter immer als Schwestern gefühlt, ihre ganze Kindheit hindurch, ihre ganze Jugend hindurch, im Grunde ihr ganzes Leben lang. Solange sie beide am Leben gewesen waren. Also bis auf den heutigen oder wenigstens gestrigen Tag, der uns wie der heutige vorkam. Als Studer-Schwestern und Studer-Töchter. Auch als und auch wenn sie von ihren wirklichen, leiblichen Müttern, die ihnen inzwischen ganz unwirklich geworden waren, ganz fremd, ganz umrisshaft, und die sie nur von ein paar wenigen, über die Jahre verteilten Besuchen als die Frauen aus der Stadt kannten, die ihnen Geschenke mitbrachten, auseinandergerissen worden waren. Zurück-, das heisst in die Stadt geholt. In die Städte. In die zwei verschiedenen Städte ihrer Herkunft. Nach S. die eine, die seine, nach W. die andere, die meine. Vom Nol, vom Studer-Haus, von ihrer Ziehschwester und Ziehfamilie, die ihnen inzwischen zu ihrer wirklichen Familie und zu ihrer wirklichen Heimat geworden waren, jedenfalls weg. Wir konnten uns vorstellen, was das bedeutete. Vielleicht konnten wir es uns aber auch nicht vorstellen. Nur weil ihre Mütter und deren Mütter, denen sie dereinst nicht genehm gewesen waren, endlich zur Ansicht gelangt waren, dass ihre Bälger und Grossbälger, die sie einmal am Rand der bewohnten Welt ausgesetzt hatten, sich inzwischen zu brauchbaren jungen Mädchen gemausert hätten und also nach Hause zurückkehren konnten. Was immer nach Hause für sie bedeutete. Für meine Mutter war es: in eine Stadt, die sie nicht kannte, zu einer Mutter, die den ganzen Tag zum Arbeiten fort war, in eine Wohnung, die von einer Grossmutter und einem schmarotzenden Onkel mitbewohnt wurde. Der nichts arbeitete. Der nur seiner Schwester auf der Tasche lag. Der zudem Alkoholiker war. Der seiner Nichte, je grösser sie wurde, in angetrunkenem Zustand mehr und mehr nachstieg und auf den Leib rückte. Und das wörtlich. In eine Gastarbeiterfamilie, was damals noch Fremdarbeiterfamilie hiess, und auch Familie war ja für das, was es war, nur ein Hohn. Zu keinem Vater. Und auch bei Juds Mutter mochte es nicht viel anders gewesen sein. Nur dass es in ihrem Fall keine Fremdoder Gastarbeiterfamilie gewesen war, in die sie zurückgeholt wurde. Und dass ihre Mutter dann doch noch geheiratet hatte. Wenn auch nicht den Vater ihrer Tochter. In die Fremde kamen sie allemal. Alle Ferien, die ganze Kindheit, die ganze Schulzeit hindurch, wann immer es ging, wenn immer es ihnen erlaubt wurde, hatten seine Mutter und meine Mutter als junge Mädchen und junge Frauen wechselseitig beieinander verbracht. Aneinander, wenn sonst an nichts, hatten sie sich über alle Jahre hinweg und über alle Entfernung hinweg festgehalten.

Dann hatten beide geheiratet. Zuerst seine, dann meine, ihrem Alter entsprechend, kaum dass sie flügge geworden waren. Mannbar, wie eine schroffere Wendung es etwas nüchterner sagte. Beide den ersten, der ihnen über den Weg lief. Nicht den ersten besten, das nicht, so wollten wir es für uns nicht wahrhaben, schliesslich waren ja daraus unsere ganz speziellen, einzigartigen Väter geworden. In die sie sich verliebt hatten. Gehauen oder gestochen, sagte ich. Auf Gedeih und Verderb, fügte mein Gegenüber hinzu. Ihre erste Liebe hatten sie jedenfalls geheiratet. Beide nicht den für sie besten, wie sich später herausstellte, das war das mindeste, was man sagen konnte. Aber da war es schon längst zu spät. Nur weg, war die Devise, weg von da, wo man herkommt, weg aus der Armut, weg aus dem Chaos, sich irgendwo unterstellen, sich irgendwie in Sicherheit bringen.