Inhalt
Der blaue Schlund
Das Märchen von Lacrima
Die Legende vom Wasserwichtel
Die Dankbarkeit des Flusses
Das schwarze Gold des Fischers
Jonathans Abenteuerlust
Der verwunschene Quelltopf
Anker im Dunkelraum
Düstermoor
Der Fang seines Lebens
Die Boddenprinzessin
Die Fischerstochter
© JGIM Verlag, Wien
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Konzept und Satz: Nora Rath-Hodann
Text: Kristina Lohfeldt, Silja Topfstedt, Karin Wimmer, Anton Weste, Simone Niedermüller, Doris B. Salah, Marie-Anne Ernst, Casjen Griesel, Ayleen Kosma, Monika Deutsch, Sabine Frambach, Klara Weyerer
Illustration: Franco Zanichelli, Klara Weyerer
Druck: Standartu spaustuvé, Vilnius, Litauen
ISBN 978-3-9504446-0-5
Der blaue Schlund
von Kristina Lohfeldt
Einst wurde in südlichen Gefilden das rätselhafte Verschwinden von Kanus und ihren Ruderern dem blauen Schlund zugeschrieben. „Die eifersüchtige See holt sich zurück, was einstmals ihrem Schoße entstieg“, hieß es. „Das Rauschen, das wir vernehmen, wann immer wir uns eine ihrer Gaben, etwa eine Muschel, ans Ohr halten, ist ihr Flüstern, das uns zur Heimkehr drängt, und das uns zeigt, dass ihr Vermächtnis in uns weiterlebt.“
Jenen lockenden Ruf der blauen Weiten vernahm ehedem auch ein Mädchen. Ihr Name war Ihoiko, was so viel hieß wie: die Seele der Fische. Sie war eine begabte Taucherin und ihrer Familie lieb und teuer. Nicht nur, dass sie die Schätze der Meereswelten barg, sie berichtete ebenso von den geheimnisvollen Orten der Tiefen, die nur wenige Landbewohner lebend erblickten.
Es begab sich nun also, dass Ihoiko eines Tages mit einem Schatz heimkehrte, der alle in Erstaunen versetzte. Es handelte sich um eine handgroße Hütte aus Holz, die vorne ein Sonnenrad mit Symbolen aufwies und winzige Stöcke darüber trug. Diese Stäbe, ein großer und ein kleinerer, bewegten sich wie von Geisterhand, und sie gaben ein regelmäßiges und leises Picken von sich. Dieses Geräusch stammte offenbar von dem Vogel, der dieser Hütte innewohnte. Er erschien, wenn beide Stöcke ein volles Sonnenrad umrundet hatten, und ließ seinen eigentümlichen Ruf ertönen: „Kuckuck!“ Nach dem ersten Schrecken war die Begeisterung groß, und alle lobten Ihoikos Fund als ein Wunder der Tiefe.
Doch es gab auch missgünstige Stimmen. Wie jene des Jägers Malumau, „beständiger Schatten“, der danach trachtete, dass sein Name vor allen anderen genannt würde.
„Welch nutzlosen Tand bringst du der Familie?“, spottete er. „Verschwende deine Kräfte nicht an solchen Tand! Sieh mich an! Ich bin der größte Jäger weit und breit! Ich bin euer Ernährer. Du hingegen bist nur ein Mädchen, das euch mit ihren Träumen fängt.“
Hie und da erhob sich zustimmendes Gemurmel. Doch das reichte Malumau nicht. Denn die Herzen flogen trotz seines Tadels weiterhin Ihoiko zu, und die Verwandtschaft hoffte immer noch auf ihre wunderlichen Beutestücke.
„Wo liegen deine Jagdgründe?“, grübelte Malumau finsteren Herzens. „Wo findest du, was uns anderen verborgen bleibt und alle in Verzückung versetzt?“ Voller Eifersucht plante er, Ihoiko heimlich nachzugehen und ihr beim nächsten Tauchgang zuvorzukommen, um nach seiner Rückkehr selbst der Gepriesene sein zu können.
Und so geschah es. Sobald die Sonne in den Fluten der See badete, machte sich Ihoiko zum Tauchen bereit. Doch anstatt vom Strand aus hinauszuschwimmen, schlug sie sich ihren Weg durch die Büsche. Überrascht folgte Malumau ihr auf leisen Sohlen. Sie stiegen in die Felsen hinauf, und als sie die höchste Kuppe erreicht hatten, trat das Mädchen an den Rand und stürzte sich in die darunterliegenden Fluten hinab.
Fassungslos starrte ihr Verfolger auf die leere Stelle. Dann trat er selbst heran und spähte über den Felsgrat. Was er erblickte, ließ ihn erschaudern. Denn unter ihm tobten nicht bloß tosende Wellen, sondern ihm war, als schaue er in ein blaues, bodenloses Loch, dem Schlund eines gewaltigen Meerungetümes gleich.
Je länger Malumau auf das in unzähligen Blautönen schillernde Rund hinab starrte, desto mehr verspürte er den Drang, sich hinunterzustürzen. Und schließlich konnte er dem Sog nicht länger widerstehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte seine Arme über dem Kopf aus, ließ seinen Körper nach vorne schnellen und sprang.
Tief sank er in das kalte Nass ein. Da er ein geübter und ausdauernder Taucher war, fiel ihm der Übergang leicht. Er wusste, wie er sich den Strömungen des Meeres anpassen musste, um die blaue Welt gefahrlos zu ergründen. Doch dieses Mal war alles anders. An jenem Tag wurde er von einem gierigen Strudel fortgerissen, hinab in die Tiefe der See. Er glaubte sich bereits verloren, als der Atem ihm aus der Kehle gepresst wurde und das Salz des Wassers ihm die Lunge zu verbrennen schien. Aber nach einem endlos erscheinenden Sturz fiel er hart zu Boden und konnte es kaum fassen, dass er noch lebte. Benommen blinzelte er und riss dann seine Augen weit auf.
„Wo bin ich? Was für eine Welt ist das hier?“, rief er aus, als ihn ein bläulich-grüner Schimmer einer fremden Umgebung umfing. Schwankend erhob er sich und ließ seinen Blick schweifen. „Eine Höhle?“, überlegte er bei sich. „Unter Wasser? Wie riesig sie ist. Und wie fremd ihr Gestein und die Farben wirken. Mag der Schlund, den ich gesehen habe, das Tor zu einer anderen Welt sein?“
Da hörte er ein Geräusch und kauerte sich zusammen. Atemlos lauschte er und hatte das Gefühl, nicht bloß seinen eigenen Herzschlag zu hören, sondern auch ein beständiges Beben, das nicht von ihm selbst kam. Doch er dachte nicht lange darüber nach, denn das Geräusch fesselte seine Aufmerksamkeit.
Schritte? Dann muss Ihoiko nah sein, dachte Malumau. „Nun wirst du mir dein Geheimnis offenbaren“, murmelte er. Er folgte den Schritten, und kurz darauf betrat er eine riesige Höhle, deren Decke ihm hoch wie das Himmelsgewölbe selbst erschien. Unheimlicher noch waren aber die Trümmer, die überall den schlammigen Boden bedeckten. Teils waren sie verrottet und ihr Ursprung kaum noch zu erkennen. Doch bei vielen handelte es sich um die Gerippe von Booten – und von Menschen.
Malumau unterdrückte einen Aufschrei und duckte sich, denn er sah Ihoiko, die vor den Überresten eines überwältigend großen, seltsamen Kanus stand. Aus dessen Mitte erwuchs eine Palme ohne Blattwerk, und aus seinem aufgerissenen Bauch quollen Schätze hervor, ähnlich jenen, die Ihoiko an die Oberfläche gebracht hatte. Trotz seiner Verwirrung sprang Malumau entschlossen auf.
„Hab’ ich dich, du Lügnerin!“, rief er. „Du bist keine Jägerin! Eine Sammlerin bist du, eine, die erntet, was der nasse Tod anderen entrissen hat!“
In jenem Moment erklang ein fernes Donnern und der Boden unter Malumau erzitterte. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Ihoiko aber schien unbeeindruckt und stand immer noch reglos da.
„Du machst ihn wütend“, flüsterte sie. „Und mich auch.“ Dann blickte sie über ihre Schulter hinweg zu Malumau hinüber. Der Mann erzitterte, als er ihre Augen sah, die nichts mehr als nur leere Höhlen waren, in denen ein blaues Feuer glänzte, der Farbe des bodenlosen Schlundes gleich.
„Ich bin Ihohukilau, die Seelenfischerin“, hörte er ihre Stimme aus weiter Ferne ertönen. „Ich habe über deine Familie gewacht, habe für Wohlstand und Freude gesorgt, und nur wenige Opfer habe ich im Laufe der Jahre dafür genommen. Aber dein Neid, Malumau, hat diesen Bund zerstört. Du sollst für deinen Frevel büßen, dann will ich deine Sippschaft verschonen und sie auch weiterhin umsorgen. Fortan sollst du mein Wächter sein. Denn mein alter Gefährte hier, dessen Leib all diese Schätze hütet, ist bereits müde. Diene mir, und deine Familie soll stets gesegnet sein.“
„Ka pai, einverstanden“, flüsterte Malumau. „Ich verstehe, es bleibt mir also keine Wahl.“ Und mit seinen Worten veränderten sich sein Körper und seine Welt. Während seine menschliche Gestalt mit den Körpern der anderen Versunkenen verrottete, lebte sein Geist im Leib eines Wales fort und diente seiner Herrin, indem er auf ihr Geheiß hin verschlang, was ihre Gewässer störte.
Ihoiko aber kehrte zur Familie zurück und berichtete von dem blauen Schlund, der Malumau vernichtet habe, auf dass nie wieder jemand den Hort der Ihohukilau entweihen möge.
Neid führt zu Leid.
Kristina Lohfeldtmöchte mit ihrem Text das Gefühl vergangener Zeiten heraufbeschwören, als man am Herdfeuer beisammensaß und sich Geschichten erzählte.
Inspiriert wurde sie von Mythen der Mãori über die Taniwha, reptilien- oder fischähnliche Fabelwesen, die sich in Unterwasserhöhlen verstecken. Sie können sowohl als Gefahr als auch als eine Art Schutzgeist angesehen werden.
Der Text ist eine Neuschöpfung und bedient sich frei erfundener Märchenmotive sowie Wörtern, die polynesisch korrekt sind, deren Zusammensetzung aber frei erfunden ist. Darüber hinaus wurden Eigennamen kreiert, die für die Handlung des Märchens passend erschienen.
Mit der Figur der Ihohukilau, der Seelenfischerin, wird eine völlig neue Form einer Nixe, Meerjungfrau, Neckerin oder Sirene beschrieben, wie wir sie aus klassischen Märchen kennen.