Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Ausführliche Informationen zu Martin R. Siems
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-17968-6
ISBN E-Book 978-3-688-10384-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10384-3
Schon immer hatte ich den Wunsch, ein Buch zu schreiben, das den Laien wirklich dazu befähigen kann, auf Probleme aus sich selbst heraus Antworten finden zu können, anstatt von äußeren Autoritäten und Meinungen abhängig zu sein – nach dem Motto des chinesischen Sprichwortes: «Schenke den Menschen keine Fische – sondern lehre sie statt dessen das Angeln!»
Ich bin außerdem der Meinung, daß dieses Buch nicht nur für den Laien eine wichtige Anleitung und Anregung sein kann. Jeder, der in einem helfenden Beruf steht, sei es als Psycho- oder Körpertherapeut, als Lehrer, Arzt, Sozialarbeiter oder Geistlicher, wird wichtige Anregungen für seine helfende Tätigkeit finden.
Ich bin den verschiedenen Psycho- und Körpertherapeuten dankbar, die mich auf meinem Weg begleitet und unterstützt haben. Ohne ihre Hilfe hätte dieses Buch nicht entstehen können. Vor allem danke ich Gene Gendlin, Ernst Juchli, Friedhelm Köhne und Johannes Wiltschko für das, was ich durch sie und mit ihnen über Focusing gelernt habe. Weiterhin danke ich Ron Kurtz und Halko Weiss für das, was ich in der Hakomi-Therapie lernte, die dieses Buch stark beeinflußt hat. Außerdem danke ich John Brinley für seine Unterweisung in der Gestalttherapie und Michael Smith für sein Training in Reichianischer Atemtherapie.
Mein besonderer Dank gilt allen meinen Focusingpartnern, mit denen ich über lange Zeit das partnerschaftliche Focusing entwickeln konnte, vor allem Friedemann Pflug. Und selbstverständlich danke ich all den Teilnehmern an unserem Hamburger Focusingprojekt, deren Arbeit und deren Erfahrungen die Grundlage dieses Buches bilden.
Ich hoffe, daß ich einiges weitergeben kann, was ich selbst an Hilfreichem und Schönem erhalten und erfahren habe, und ich wünsche mir, daß dieses Buch vielen Menschen helfen kann, einen besseren Zugang zu der Weisheit ihres Körpers und tief in sich selbst ihren inneren Guru zu finden. Focusing ist ein guter Weg zu diesem Ziel.
Focusing ist keine neue Therapiemethode und keine neue Heilslehre. Focusing ist die Beschreibung eines grundlegenden Veränderungsprozesses in unserem Erleben, der möglich ist, um bei der Beschäftigung mit einem Problem, mit einer schwierigen Situation oder bei der Suche nach einer kreativen Lösung Erfolg zu haben.
Insofern ist Focusing nicht neu. Jeder von uns hat es schon einmal intuitiv richtig durchgeführt – nämlich dann, wenn er bei der Beschäftigung mit einem Problem eine Lösung oder Entspannung gefunden hat. Aber da uns nicht bewußt war, was wir in diesen günstigen Fällen unserer Selbsterforschung richtig gemacht hatten, halfen uns diese positiven Erfahrungen nicht dabei, unseren inneren Prozeß zu verbessern, wenn wir wieder und wieder nachdachten und sich keine Lösung oder Entspannung einstellen wollte. Kennen wir das nicht alle? Wir verbeißen uns in ein Problem, verfolgen immer wieder die gleichen Gedankenschleifen, fallen immer wieder in dieselben altbekannten Gefühle hinein, erzählen immer wieder die gleichen Geschichten – und es verändert sich nichts? Hier kann Focusing helfen, da es den möglichen positiven und effektiven Veränderungsprozeß in unserem inneren Erleben genau beschreibt. Obwohl dieser innere Veränderungsprozeß eigentlich ganz einfach und unkompliziert ist, konnte er erst durch das Konzept des Focusing klar erkannt und definiert werden. Dies ist das Verdienst des amerikanischen Psychologen und Philosophen Gene Gendlin, der diesen Veränderungsprozeß erforschte und ihm den Namen «Focusing» gab.
Gendlin hatte die Beobachtung gemacht, daß die Klienten, die in ihrer Therapie Erfolg hatten und in ihrem Leben positive Veränderungen erfuhren, sich irgendwie anders auszudrücken schienen als die Klienten, die in ihrer Therapie keine Fortschritte machten. Erfolgreiche Klienten schienen anders zu sprechen, anders in sich hineinzuhorchen; sie hatten anscheinend ein besonderes Verhältnis zu ihrem Körper und erlebten schon während des Gespräches größere Veränderungen.
Gendlins aufregende Entdeckung war die, daß diese Merkmale im Erleben und Ausdruck der Klienten wichtiger für deren Veränderung und Wachstum waren als die Fähigkeiten und Techniken der Psychotherapeuten oder deren therapeutische Ausrichtung. Es war also unabhängig von der therapeutischen Methode so, daß die Art und Weise, in der der Klient mit seinem inneren Erleben Kontakt aufnahm, die ausschlaggebende Variable dafür war, ob sich durch die Therapie im inneren Erleben des Klienten etwas bewegen und verändern würde.
Gendlin begann jetzt, diese Art des Kontaktes mit dem eigenen Erleben begrifflich zu fassen und nannte diese Art Focusing, und das erstaunliche ist, daß das, was Gendlin über ein effektives Umgehen mit dem eigenen Erleben bei Klienten in der Psychotherapie entdeckte, ganz allgemein für alle Menschen und alle möglichen Situationen gilt. Wir können uns diesen Focusingprozeß nutzbar machen für die Lösung persönlicher Probleme, für das bewußtere Erleben unserer Umwelt, für bewußtere und offenere Kommunikation mit unseren Mitmenschen oder für einen langfristigen Weg der Selbstentfaltung. Ebenso können wir Focusing bei der kreativen Problemlösung und für den kreativen Ausdruck, besonders im künstlerischen Bereich, nutzen. Focusing steigert die Fähigkeit, sein Leben aus seiner Mitte heraus zu leben – und das wiederum erhöht die persönliche Befriedigung wie auch die Effektivität des Handelns in allen Lebenslagen.
Gendlin begann, diesen allgemeinen Focusingprozeß in einer Abfolge von verschiedenen Schritten abzubilden, um ihn lehrbar zu machen. Denn warum sollte nicht jedermann von diesen erfolgreichen Klienten lernen können? Mit diesen praktischen sechs Schritten befassen wir uns in diesem ersten Teil «Der Focusingprozeß». Auf diese Weise können wir mit Alltagsproblemen arbeiten, aber auch auf fokussierende Weise richtige Entscheidungen finden oder uns künstlerisch ausdrücken.
Wenn wir Focusing für einen langfristigen Weg der Selbstentfaltung nutzen wollen, können wir Focusing in einen bestimmten Kontext stellen und den allgemeinen Focusingprozeß in anderer Art abbilden und lehrbar machen. In Teil II dieses Buches «Focusing und Charakter» stellen wir Focusing in den Kontext der Charaktertheorie von Wilhelm Reich, und im Teil III: «Anleitung zum partnerschaftlichen Focusing», wird Focusing in der Verbindung mit dieser Charaktertheorie auf eine fließendere Art lehrbar gemacht, als es durch die sechs Schritte von Gendlin möglich ist. Meine Erfahrung ist, daß Focusing auf diese Weise zu einem tiefen und wesentlichen Weg der Selbstentfaltung werden kann – und zwar auf eine Weise, bei der wir uns durch unser Inneres, durch unseren Bauch, durch unseren Körper oder durch unseren «inneren Guru» leiten lassen, – wie immer wir das nennen wollen.
Und das ist gerade das Ziel von Focusing – es bringt uns in Kontakt mit unserer inneren Weisheit und macht uns unabhängig von äußeren Autoritäten oder unseren inneren Glaubenssystemen. Ich denke, die meisten von uns haben gesehen, daß es kaum möglich ist, ein Leben in Abhängigkeit von den Meinungen irgendwelcher Autoritäten, Experten, Buchautoren oder Gurus zu führen. Ebenso haben viele schon erfahren, daß der eigene Kopf mit all seinen früheren Erfahrungen, seinen Philosophien und Glaubenssystemen auch nicht der verläßlichste Führer ist. Focusing weist uns den Weg zu etwas Neuem – zu einer Quelle unseres Erlebens in unserem Inneren, die wir mit und in unserem Körper wahrnehmen können und die zu einem verläßlichen Führer in unserem Leben werden kann. Diese Quelle liefert alle Informationen, die wir brauchen; Focusing weist uns den Weg, mit dieser Quelle Kontakt aufzunehmen und unser Leben immer mehr von hier aus zu leben und zu gestalten.
Selbstverständlich kannst du weiterhin Bücher lesen, Autoritäten befragen oder Methoden ausprobieren – aber der Punkt, von dem aus du diese Dinge tust, von dem aus du beurteilst, was dir gerade helfen kann und was nicht, dieser Punkt liegt ganz in dir. Du brauchst kein Nachbeter irgendwelcher Erkenntnisse, kein Anhänger irgendeines Gurus und kein Verfechter irgendeiner Methode zu werden. Du kannst alles benutzen – aber deine letztendliche Autorität ist diese Quelle deines Erlebens in deinem Körper. Focusing kann dir helfen, sie zu finden.
– Dein Körper weiß die Antwort –
Bevor wir uns damit beschäftigen, wie Focusing in der Praxis aussehen kann, will ich das Kernstück des Focusing, den «felt sense», vorstellen. Vielleicht wirst du nicht gleich alles verstehen, auch wenn ich mich bemühen werde, den «felt sense» von den verschiedensten Seiten zu beleuchten. Vielleicht empfindest du dieses Kapitel als besonders schwierig und theoretisch. Dann sei auf jeden Fall beruhigt, denn später wird es sehr viel konkreter und praktischer. Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, dieses Kapitel ganz zum Schluß des Buches noch einmal zu lesen.
Die zentrale Erkenntnis, die hinter dem Focusing steht, ist folgende:
Damit sich unser inneres Erleben bewegt und
verändert, müssen wir mit einer Erlebnisqualität
Kontakt aufnehmen, die noch hinter den Worten,
Bildern, Körperempfindungen und Emotionen liegt.
Diese Erlebnisqualität nennt Gendlin den «felt sense». Übersetzt heißt das «die gefühlte Bedeutung» oder «der gespürte Sinn», und praktisch bedeutet das ein vages, noch undeutliches Gefühl zu einer Sache, einem Problem, einem Menschen oder einer Situation, das wir auf schemenhafte Art in unserem ganzen Rumpfraum spüren können. Ich lasse hier den englischen Begriff «felt sense» als Kunstwort stehen, und wir werden aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln auf dieses «Etwas» schauen und es mit den verschiedensten Begriffen beschreiben. Andere Worte für dieses vage innere Gespür im Bauch- und Brustraum wären: «körperliche Resonanz» und «innere Aura». Es geht also um die Frage: «Wie fühlt sich das eigentlich an in meinem Körper, wenn ich über dies und jenes nachdenke?» oder: «Wie schwingt mein Körper mit, wenn ich mir dieses vorstelle?»
Diese körperliche Resonanz zu einem Problem, einer vorgestellten Person oder Situation, ist also ein noch vages und undeutliches Gefühl in meinem Körper, was per definitionem noch keine Worte, Bilder, Emotionen, Körperempfindungen oder andere fest umrissene und geformte Erlebniseinheiten in sich hat. Der «felt sense» ist noch etwas Ungeformtes – also etwas Vages, Undeutliches und Nebelhaftes. Und dennoch können wir uns auf ihn direkt beziehen – bei der praktischen Ausübung von Focusing.
Wenn wir in unser Innenleben hineinschauen, dann werden wir Gedanken, Bilder, Emotionen oder Körperempfindungen wahrnehmen. Meist haben wir eine Vorliebe für eine oder mehrere dieser Erlebnisebenen. Der eine denkt mehr in Worten und Begriffen, der andere hält sich besonders gern auf der Ebene der Imagination auf, und wieder ein anderer hat sich für seine Körperempfindungen sensibilisiert und nimmt seine Welt besonders durch seinen Körper wahr.
In verschiedenen Therapieschulen werden diese Erlebnisebenen in verschiedenem Maße genutzt. Meist wird auf der verbalen Ebene gearbeitet – wie in der Psychoanalyse oder den verschiedenen Gesprächstherapien. Im katathymen Bilderleben, in der Psychosynthese und in anderen imaginativen Verfahren arbeitet man hauptsächlich auf der Bilderebene. Einen großen Teil der Arbeit nimmt in der Primärtherapie, der Gestalttherapie und der Reichianischen Atemtherapie die Arbeit mit den Emotionen ein, und in verschiedenen Atem- und Körpertherapien arbeitet man primär mit den Körperempfindungen.
Aber bei all diesen verschiedenen Methoden muß auf die eine oder andere Weise Bezug zu etwas genommen werden, was hinter diesen Ebenen der schon geformten Einheiten liegt – sonst würde keine Veränderung geschehen. Es muß zu etwas Bezug genommen werden, was noch zentraler ist als die schon geformten Erlebniseinheiten – und das ist der «felt sense».
Ich möchte zur weiteren Beschreibung noch zwei neue Begriffe einführen: wir nennen die Gesamtheit der schon geformten Erlebniseinheiten «das Explizite», und das, was wir eben mit dem «felt sense» umschrieben haben, das Ungeformte, nennen wir «das Implizite».
Das Implizite, der «felt sense», ist also das, was nur vage zu spüren ist und noch keine Worte und Bilder hat. Das Explizite ist das Reich der Symbole und fest umrissenen Formen. Das sind die Bilder, die Worte, die Emotionen und die fest umrissenen Körperempfindungen.
Man könnte sich auch andere graphische Abbildungen für das Verhältnis von Implizitem und Explizitem ausdenken. Beispielsweise könnte man versuchen abzubilden, daß Emotionen oder Körperempfindungen dichter am Impliziten dran sind als Worte und Bilder. Aber hier will ich solch einen Gesichtspunkt ganz unberücksichtigt lassen. Ich will mit diesem Schema einfach klarmachen, daß es in uns etwas Implizites gibt, per definitionem ohne Form und Benennung, und daß es da das Explizite gibt, das Reich der Namen, Bezeichnungen, Begriffe und festen Formen.
In der Mitte unseres Erlebens liegt das Implizite, das Ungeformte, auf das wir uns beim Focusing immer wieder beziehen. Wir tauchen beim Focusing in dieses Implizite hinein und gelangen dann beim Ausdrücken des Erlebens wieder aus der Mitte zur Peripherie – in den Bereich des Expliziten, der Worte und Bilder.
Das Implizite expliziert sich in den Symbolen
Unser inneres Erleben – oder auch das Leben – zeigt sich uns in Begriffen, Worten und Bildern. Das ist ein Prozeß wie: Entstehen, Gebären, in Existenz bringen, in die Welt bringen.
Wenn wir aber den Bereich der Symbole verlassen, um in den Bereich des Impliziten einzutauchen (wenn wir also Kontakt mit dem «felt sense» aufnehmen), dann geben wir die alten Formen auf, lassen alte Begriffe und Namen los, tauchen in den Strom unseres inneren Erlebens hinein. Das ist dann ein Prozeß wie: Loslassen, Auflösen, Sterben und zur Quelle gehen.
Und wir tauchen in den inneren Strom unseres Erlebens hinein, um mit neuen Begriffen und Worten wiederzukehren, die jetzt frisch, neu, zutreffend und lebendig sind. Keine Worte und Symbole, die abgetrennt von unserem Erleben sind, sondern Worte und Bilder, wie sie jetzt gerade neu und frisch aus meinem Erleben heraus entstehen. Und die lasse ich nicht alt werden und benutze sie wie alte Ladenhüter. Gleich werde ich wieder hinabtauchen in mein Erleben und wieder mit frischen Symbolisierungen herauskommen.
Auf diese Weise «schwingen» wir im Focusingprozeß zwischen Explizitem und Implizitem hin und her. Wir schweben weder im ungeformten Erleben, noch erstarren wir auf der Ebene der Namen und Begriffe. Wir werden nicht zu östlichen Mystikern, die nur noch im reinen «Sein» existieren, und wir werden nicht zu westlichen Gelehrten, die sich hinter toten Büchern und Symbolen verstecken, wir lassen die beiden Bereiche Implizit und Explizit sich immer wieder in einem lebendigen Prozeß durchdringen.
Noch einen Unterschied zwischen Implizitem und Explizitem möchte ich hier hervorheben, der auch später bei der praktischen Anwendung wichtig sein wird. Die Art der Informationsspeicherung in beiden Bereichen ist grundverschieden. Im Expliziten sind Informationen als eigenständige Einheiten gespeichert, also so wie in einem Computer. Im Impliziten haben wir aber nur ein vages, ungeformtes Gesamtgefühl ohne getrennte Informationseinheiten. Das macht auch deutlich, wie falsch unsere übliche Auffassung vom Bewußten und Unbewußten ist. Meist stellen sich Leute das Unbewußte so vor, daß da schon verschiedene geformte Einheiten sind, die aber nur noch nicht zu sehen sind, nur noch hervorgeholt werden müssen.
Das Bild vom Impliziten (wir können es ungefähr mit dem Unbewußten gleichsetzen), das noch keine Form hat und sich dann in Symbolen expliziert und bewußt wird, ist da sehr viel genauer.
Beim Focusingprozeß lassen wir also diese beiden Bereiche in einen dialektischen Dialog eintreten, der beide Bereiche befruchtet, sie vereint und ihnen erst Sinn gibt. Wir verlassen unsere Struktur und überlassen uns unserem inneren Erlebensstrom, um dann mit neuen Symbolen und Strukturen wiederaufzutauchen. Es entsteht dann eine fließende Struktur oder ein strukturiertes Fließen – und auf diese Weise geschieht Wachstum und Weiterentwicklung.
Das wesentliche beim Focusing ist also die fortwährende Rückbesinnung auf das Implizite. Focusing geschieht ganz von selbst dort, wo wir in unserem Denken, Bildern, Fühlen und Spüren innehalten und einmal dahin lauschen, woher all diese Gedanken, Bilder, Emotionen und Empfindungen kommen. Wir nehmen kurz mit dem Ursprung all dieser Impulse Kontakt auf. Das wird unser Erleben und unseren Ausdruck bereichern und verändern. Sich einfach etwas Zeit nehmen, immer mal wieder in sich hineinzuhorchen oder zu – schauen. «Wie fühlt sich dieser Ort an, von dem diese Worte und Bilder kommen? Wie fühlt sich das an, aus dem Lachen und Weinen kommen? Wie fühlt sich das alles zusammen als vages, aber bedeutungsgeladenes Gefühl in meinem Bauch- und Brustraum?»
Die meisten Menschen in unserer westlichen Kultur bewegen sich vorrangig auf der expliziten Ebene und brauchen deswegen Hilfen, um mit dem vagen Impliziten besser in Kontakt kommen zu können. Da sind Schritte zum Raumschaffen hilfreich, über die wir noch später sprechen werden. Entspannungs- und Spürübungen, Atem- und Körperarbeit und Meditation bereiten in diese Richtung vor.
Es gibt aber auch Menschen, die im Impliziten mehr zu Haus sind. Häufig fühlen sie sich von Meditation angezogen und haben Lust zur Arbeit mit dem Körper: Sie drücken sich eher künstlerisch aus, und das Spüren und Fühlen ist ihnen ganz vertraut, häufig vertrauter als das Ausdrücken und Symbolisieren. Diese Menschen erlernen Focusing häufig leicht. Sie können schnell den felt sense finden und brauchen dann nur Arbeit einzusetzen, um ihr inneres Erleben zu symbolisieren.
Aber unabhängig davon, woher wir kommen, – Focusing will uns helfen, die beiden Bereiche zusammenzubringen. Wie bei allen Polaritäten geht es auch bei Implizit – Explizit darum, daß die beiden Pole nicht getrennt voneinander existieren, daß sie sich nicht feindlich gegenüber stehen und sich vielleicht sogar bekämpfen, sondern daß sie sich ergänzen, sich gegenseitig fördern, sich gegenseitig befruchten und zu einer harmonischen Balance finden.
Leider neigen wir häufig dazu, in schwierigen oder problematischen Situationen so destruktiv mit unserem inneren Erleben umzugehen, daß Focusing und Veränderung unmöglich werden. Mit diesen destruktiven Arten unserer Selbstkommunikation wollen wir uns in diesem Kapitel auseinandersetzen. Vielleicht hast du diese destruktiven Weisen in deinem Leben schon überwunden, dann kannst du dich freuen, daß du heute anders mit dir umgehst. Vielleicht aber macht dieses Kapitel einige Punkte deutlich, die bisher verhinderten, daß du so weiterwächst, wie es dir gemäß ist.
Wenn Menschen über sich nachdenken oder versuchen, ein persönliches Problem zu lösen, beschäftigen sie sich meist mit der Frage: «Warum ist das so?» Irgendwie scheinen sie davon auszugehen, daß die Erkenntnis des Grundes irgend etwas verändern würde. Auch wenn es dich schockiert oder verwirrt:
Das Erkennen von Gründen, ganz egal, wie richtig
oder falsch sie sind, verändert nichts
Die Tatsache, daß du weißt, daß du jetzt diese Angst hast, weil dein Vater dich damals geschlagen hat oder: daß du jetzt traurig bist, weil dein Über-Ich dir kritische Sätze sagt oder: daß du weißt, daß du einen Ödipuskomplex hast usw. usw. – das alles macht keinen Unterschied. Das einzige, was durch dieses Analysieren und Suchen nach Gründen erreicht wird, ist, daß dein Verstand etwas zu tun hat. Aber es verändert nichts in deinem Erleben.
Es ist verständlich, daß wir so funktionieren. Unser Verstand hat sich unter dem Zwang, unsere Umwelt zu bewältigen, entwickelt, und daher rührt sein kausales Denken: A ist der Grund von B, und B der Grund von C usw. Auf diese Weise hat unser Verstand u.a. auch die Naturwissenschaften entwickelt, und wir haben gelernt, die Natur begreifen und beeinflussen zu können.
Dort hat der analytische Verstand auch seine Berechtigung – aber unser inneres Erleben verändert sich auf Grund von anderen Gesetzmäßigkeiten. Und es ist eher so, daß das Suchen nach Gründen geradezu die Funktion hat, nicht mit unserem Erleben direkt in Kontakt zu kommen. Anstatt zu spüren, wie es sich eigentlich genau anfühlt, wenn wir verletzt wurden oder Schmerz spürten, fragen wir uns, warum das wohl passiert ist. Das Suchen nach Gründen lenkt uns von unserem Erleben ab.
Und was ist mit all den Berichten, die man aus der populären psychologischen Literatur kennt, wo jemand ein Kindheitstrauma erinnert oder ein anderer ein Geburtstrauma oder ein Trauma aus einem früheren Leben, und sich dann ganz viel verändert?
Es ist zwar wahr, daß manche Menschen ein Kindheitstrauma oder Geburtstrauma oder ein Trauma aus einem früheren Leben erinnern und sich auf Grund des Erlebens dieser Erfahrungen verändern. Das hat aber nichts damit zu tun, daß sie nun den Grund für irgend etwas erkennen, sondern daß die Erinnerung an die betreffende traumatische Szene sie so mit ihrem inneren Erleben in Kontakt bringt, daß sich dieses bewegen und verändern kann.
Erst ist unser inneres Erleben da, etwa das Gefühl, ständig bedroht zu sein, und wenn wir dann mit diesem felt sense arbeiten und ihn sich ausdrücken lassen, dann kann eine Kindheitsszene helfen, daß sich dieses Implizite explizieren kann und dadurch verändert. Aber wir können für dieses Explizieren des vagen Gefühls die verschiedensten «psychischen Bühnen» benutzen: Wir können mit Kindheitserinnerungen arbeiten, wie es die Psychoanalyse tut. Wir können mit der Geburt arbeiten, wie es viele Therapeuten tun, die das Geburtstrauma in das Zentrum der Arbeit stellen; wir können das frühere Leben als Bühne der Explikation benutzen, wie es Reinkarnationstherapeuten tun, und wir können auf der Ebene des kollektiven Unbewußten und der Archetypen arbeiten, wie es die Jungianischen Therapeuten tun. Aber auf all diesen Ebenen finden wir keine Gründe für unser Erleben; diese Ebenen können lediglich Bühnen sein, auf denen wir unser vages Implizites sich explizieren lassen.
Wenn aber nun unser Gehirn so daran gewöhnt ist, Gründe zu suchen, daß sich dieses Analysieren immer wieder einschleicht? Wir brauchen nicht dagegen anzugehen und diese Neigung zu bekämpfen. Es genügt, diesen Hang zum Analysieren zwar bewußt wahrzunehmen, sich aber nicht mit diesem «Analysierer» in uns zu identifizieren. Es ist ein Teil von uns – aber wir sind mehr als dieser Teil. Einfach wahrnehmen, daß da wieder eine Stimme ständig sagt: «Ich muß jetzt aber den Grund herausbekommen.» O.k. – soll sie doch da sein und plappern –, ich gehe ihr jetzt nicht nach und entscheide mich, mich meinem felt sense zuzuwenden. Die Frage «warum ist das so?» bringt uns also nicht weiter, wenn wir etwas in unserem inneren Erleben verändern wollen. Wir ersetzen sie einfach durch die Frage: «Wie fühlt sich das denn in meinem Körper an?»
Eine andere Art destruktiver Selbstkommunikation ist das Bewerten, Abwerten, Bagatellisieren unseres inneren Erlebens und die Selbstanklage: «Wie kann ich das nur wieder fühlen oder denken», «Ach, dieses dumme Gefühl wieder» oder «Na, das finde ich aber wieder unmöglich, was ich da in mir sehe.»
So verständlich es sein mag, daß wir einige Gefühle und Gedanken in uns nicht mögen und sie ablehnen, so wichtig ist es auch, uns ganz klarzumachen, daß dieses ablehnende Umgehen mit uns selbst die Dinge auf keinen Fall verändert oder löst. Im Gegenteil – alles wird durch diese Ablehnung nur noch starrer und verspannter.
Wogegen wir angehen, das verstärken wir,
was wir ablehnen, kann sich nicht verändern
Für viele Menschen besteht die größte Schwierigkeit darin, sich auf akzeptierende und liebevolle Weise dem inneren Erleben zuwenden zu lernen. Aber es ist eine Grundgesetzmäßigkeit des inneren Erlebens wie auch des Lebens: Es kann sich nur etwas verändern, wenn wir es liebevoll wahrnehmen und annehmen lernen. Diese Grundgesetzmäßigkeit ist einfach da, ist gültig und wirkt – egal, ob wir an sie glauben oder ob wir es schaffen, uns nach ihr zu verhalten. Sie ist einfach da, und wir tun gut daran, uns ihr anzupassen, sonst kann sich in uns nichts verändern und lösen.
Wenn wir diese Nichtakzeptierung in unserer Wahrnehmung verändern wollen, dann sind zwei Dinge wichtig:
Als erstes müssen wir diese Abwertung aufspüren und bewußt machen, falls sie sich nur implizit äußert. Häufig wird nämlich diese Abwertung gar nicht explizit geäußert, sondern wirkt sich in der Betonung unserer inneren Stimmen aus. Jemand sagt beispielsweise: «Ja, da ist wieder dieser Schmerz in der Brust» – und er sagt es mit einer Betonung, die ausdrückt: «Dieser alberne Schmerz, der sollte wirklich nicht da sein.» Wird ihm nun diese Betonung und Haltung seiner Stimme gar nicht bewußt, dann wird bei der weiteren Selbstexploration sich alles zusammenziehen und schrumpfen, was immer er wahrnimmt. Unser inneres Erleben reagiert da wie ein zartes Kind, das zusammenschreckt, wenn es gescholten oder lieblos angeschaut wird. Wir verändern an dieser Situation schon etwas, wenn wir diese Ablehnung explizit machen, damit unsere Stimme wieder akzeptierend werden kann. Also aus
«Ja, da ist wieder der Schmerz in meiner Brust»
(Stimme ablehnend)
wird
«Ja, da ist wieder der Schmerz in meiner Brust»
(Stimme akzeptierend)
«Und ich mag das nicht»
(Stimme akzeptierend)
Das zweite, was wir tun können, ist, uns wieder klarzumachen, daß wir diese abwertenden Stimmen zwar in uns haben, daß wir sie aber nicht sind. Wir können akzeptieren, daß sie da sind, brauchen ihnen aber keine Macht über unser Verhalten zu geben.
«Wieso denn das schon wieder», «Ich will das nicht», «Ich mag das nicht», «Nicht schon wieder» und «Das halte ich nicht aus» – all diese Stimmen dürfen gern weiter herumplappern, aber wir entscheiden uns, uns liebevoll und akzeptierend unserem inneren Erleben zuzuwenden, zu dem auch diese Stimmen gehören.
Eine andere Art, das akzeptierende Hinschauen zu vermeiden, ist das Hineinfallen in das eigene Erleben. Sich von seinen Gefühlen überschwemmen zu lassen, in ihnen zu baden, sich in sie hineinfallen zu lassen oder sie zu dramatisieren – all das sind Wege, mit denen wir ebenfalls das klare, nüchterne und liebevolle Wahrnehmen verhindern. Dann ist da zwar «Erleben», aber keiner, der erlebt. Dieses Hineinfallen kann man immer wiederholen, es kann sogar zur Sucht führen, diese ewig gleichen Sensationen zu fühlen, aber es wird sich nichts verändern.
Das wieder und wieder Hineinfallen in seine bekannten Gefühle sowie das Dramatisieren des inneren Erlebens verhindert eine Veränderung und Entwicklung.
Damit ist nicht gemeint, daß wir keine starken Gefühle haben sollten. Wir akzeptieren selbstverständlich unsere Gefühle ebenso wie alles andere in uns. Gemeint ist hier aber ein Verhalten, bei dem jemand mit dem Kopf seinem Körper ein Schema aufzwingt, etwa: «Ich brauche meine Gefühle nur kräftig genug zu spüren, dann verändert sich alles.» Häufig hat da jemand durch falsche Interpretation kathartischer Therapiemethoden, bei denen ja mit starken Gefühlen gearbeitet wird, sich solch ein System zurechtgelegt. Die Gefühle kommen jetzt nicht mehr einfach dann, wenn sie wollen, – der Betreffende versucht sie zu produzieren und zu forcieren, um etwas zu erreichen. So werden Gefühle unecht.
Zum anderen sind mit dieser Vorgehensweise häufig falsche Annahmen verbunden: «In mir ist soviel Traurigkeit – ich muß jetzt ganz viel weinen, damit dieser See von Traurigkeit geleert wird» oder «Ich habe soviel Wut, daß ich ganz viel Matratzen schlagen muß, bis dieser Sack von Wut geleert ist.» – «Und wenn alles entleert ist, dann bin ich ein anderer» – falls jemand nach diesem System mit sich umgegangen ist, dann ist es ganz wichtig, sich klarzumachen, daß diese Annahmen einfach falsch sind. Wir sind keine mechanischen Maschinen mit Behältern für ein bestimmtes Quantum an Traurigkeit oder Wut. Wir entstehen jede Sekunde neu, und es ist wichtig zu beobachten, nach welchen Gesetzmäßigkeiten und auf welche Weise wir immer wieder die gleichen Erfahrungen kreieren.
So wertvoll das Erleben von vorher verdrängten Emotionen sein kann, so kommen wir doch nicht um die Arbeit herum, genau hinzuschauen, was das eigentlich für eine Traurigkeit oder Wut ist. Was würden diese Gefühle sagen, wenn sie sprechen könnten? Wie fühlt sich der Ort im Körper an, von dem sie kommen, und welche Gedanken und Bilder sind mit diesen Gefühlen verbunden? Wir wollen beim Focusing Klarheit und Verstehen. Wir wertschätzen die Emotionen, aber das «Herauslassen der Gefühle» allein ist noch kein therapeutisches Ziel – es sei denn, um Raum zu schaffen.
Falls wir diese Tendenzen zum Forcieren der Gefühle oder zum Dramatisieren in uns haben, dann geht es wieder darum, diese Tendenzen liebevoll wahrzunehmen, aber sie nicht mehr unser Verhalten beeinflussen zu lassen, – auf jeden Fall dann, wenn wir fokussieren wollen.
Eine Haltung, die ebenfalls den Focusingprozeß verhindert und keine Änderung bewirkt, ist das bohrende und inquisitorische Eindringen in das eigene Erleben. «Jetzt will ich es aber genau rausbekommen!», «Nun komm schon – welche Bilder passen denn» oder «Wenn ich jetzt keine Klarheit bekomme, dann werde ich aber sauer!» Dieses ungeduldige und gewalttätige Eindringen in das innere Erleben wird dieses nur verschrecken. Wieder paßt das Beispiel von einem kleinen zarten Kind – vor unserer Ungeduld und Wut versteckt es sich. Vielleicht paßt auch folgendes Bild: Wenn wir unseren felt sense befragen, welche Worte und Bilder zu ihm passen, dann vollzieht sich der darauf folgende Explikationsprozeß so, wie eine Blume oder Pflanze wächst. Solch ein organischer Wachstumsprozeß braucht eine liebevolle und behutsame Atmosphäre. Herrschen draußen Kälte und Sturm, können keine neuen, zarten Triebe wachsen.
Jede Ungeduld und Gewalttätigkeit wird unser Innerstes erschrecken, und es wird nicht daran denken, sich zu zeigen oder zu entfalten. Schon der Versuch, stark einzudringen, um ganz tief zu kommen oder viel herauszubekommen, kann zur Folge haben, daß unser inneres Erleben sich zurückzieht.
Ungeduld und Gewalttätigkeit verhindern
eine Veränderung und Lösung
Auch diese Tendenzen in uns können wir wieder akzeptierend wahrnehmen. Es ist in Ordnung, daß sie da sind, – aber wir können uns dennoch frei entscheiden, aus einer liebevolleren Haltung heraus an unser inneres Erleben heranzugehen.
Nachdem wir nun die eine oder andere destruktive Art und Weise der inneren Wahrnehmung bewußt gemacht und akzeptiert haben, müssen wir uns im nächsten Schritt zu einer positiveren Grundhaltung entscheiden, aus der heraus wir an die Focusingarbeit herangehen, was bedeutet: Wir nehmen aus der richtigen Distanz unser Erleben auf eine nichtwertende, akzeptierende und neugierige Weise wahr: «Aha, das ist ja wieder interessant, was ich da sehe, – damit will ich mich einmal ausführlicher beschäftigen.»
Mit der «richtigen Distanz» ist hier gemeint, daß wir weder von unserem Erleben so weit entfernt sind, daß wir es gar nicht mehr richtig spüren – noch so in unserem Erleben versinken, daß wir ganz unser Erleben sind. Es gibt da unser Erleben, und es gibt da uns als die Erlebenden. Und wir stellen eine Beziehung her zwischen uns als den Erlebenden und unserem Erleben. Und wie bei Beziehungen zwischen zwei Menschen ist es auch hier: sind wir voneinander zu weit entfernt, ist die Distanz also zu groß, dann leidet die Beziehung. Sind wir auf der anderen Seite zu stark miteinander verschmolzen, ist die Distanz zu klein, dann leidet die Beziehung auch. Erst in der richtigen Distanz können wir mit unserem inneren Erleben fruchtbar umgehen.
Das zweite ist, daß wir unser Erleben auf eine nichtwertende, akzeptierende und neugierige Weise wahrnehmen sollten. Nur auf diese Weise kann sich in uns etwas entspannen, lösen, klarer werden, sich bewegen und verändern. Wenn wir alleine fokussieren, wird uns dabei der 1. Schritt, das «Raumschaffen», helfen, in diese Haltung zu finden. Wenn wir zu zweit arbeiten, wird uns der Partner oder der Therapeut helfen können, diese Haltung einzunehmen. Schon dadurch, daß eine andere Person nicht so wie wir betroffen ist, kann sie uns akzeptierender wahrnehmen als wir uns selber, und diese akzeptierende Wahrnehmung wird dann wieder unsere eigene Wahrnehmung beeinflussen. Wenn wir es selbst nicht schaffen, die Haltung des nichtwertenden und akzeptierenden Wahrnehmens einzunehmen, wird eben eine zweite Person für die Arbeit wichtig sein. Diese Veränderung unserer inneren Wahrnehmung ist der zentrale Punkt bei jeglicher Arbeit an der eigenen Person – unabhängig davon, welche Methode man benutzt. Denn hier wird das Wichtigste verändert: nicht die Wahrnehmungsobjekte, sondern der Wahrnehmer selbst. Das Auge, mit dem wir schauen, verändert sich – und dadurch kann sich alles, was wir anschauen, lösen und verwandeln.
Wir können ein Auge haben, unter dessen Blick sich alles schmerzhaft zusammenzieht und schrumpft, und wir können ein Auge haben, das alles wachsen und gedeihen läßt.
Um es mit einem anderen Bild zu sagen: durch das nichtwertende und akzeptierende Wahrnehmen verändern wir das Bewußtheitslicht, mit dem wir unser Inneres ausleuchten. Wir können dann eine der destruktiven Haltungen mit einem grellen, häßlichen Scheinwerferlicht vergleichen, das akzeptierende und liebevolle Wahrnehmen aber mit einem warmen und freundlichen Licht, das alles sanft hervorlockt und Raum läßt für Veränderungen. Kalte und kritische Bewußtheit nützt gar nichts, sie hemmt eher die Entwicklung. Nur warme und freundliche Bewußtheit hilft uns, zu wachsen und uns zu verändern.
Während wir beim Focusing zu diesem akzeptierenden Wahrnehmer werden, geschieht noch etwas anderes: wir identifizieren uns nicht mehr vollständig mit unseren Gedanken, Bildern, Körperempfindungen und Gefühlen, sondern identifizieren uns zusätzlich mit dem Teil von uns, der all diese Dinge wahrnimmt. Das ist der Wahrnehmer, der Beobachter oder der Zeuge. Roberto Assagioli, der Gründer der Psychosynthese, nennt das unser persönliches Zentrum, unser Zentrum der Wahrnehmung und des Willens. Da gibt es sozusagen einen Ort in uns, der bei aller Turbulenz unseres Lebens wie das innere Auge eines Hurricans still und unberührt bleibt – unberührt von all den Wahrnehmungsobjekten. Hier bist du das Zentrum deiner Wahrnehmung. Und von dort aus kannst du auch Entscheidungen fällen, aber aus einem anderen Willen heraus als dem, den wir in unserem Alltag als Gegensatz zu unserem Gefühl erleben.
Um ein deutlicheres Gefühl für dieses Zentrum der Wahrnehmung zu bekommen, schlage ich dir vor, hier einmal die Disidentifikationsübung von Assagioli auszuprobieren:
Setz dich bequem hin oder lege dich auf ein Bett und schließe die Augen. Schau einmal in deinen Körper und nimm einfach wahr, was für Körperempfindungen im Moment da sind. Nimm dir einige Augenblicke Zeit dafür und mache dir dann klar, daß es da etwas in dir gibt, was diese Körperempfindungen wahrnimmt, also nicht diese selbst sein kann. Sage dir dann: Ich habe meine Körperempfindungen, aber ich bin sie nicht.
Schau dann einmal, was für Gefühle in dir sind. Nimm dir ebenfalls dafür einige Augenblicke Zeit und sage dir dann: Ich habe meine Gefühle, aber ich bin sie nicht.
Und dann mache das gleiche mit deinen Gedanken und Bildern. Nimm sie wahr, schau sie dir an und sage dann: Ich habe meine Gedanken und Bilder, aber ich bin sie nicht.
Ich bin jetzt derjenige, der all die Dinge in mir wahrnimmt. Ich bin jetzt das Zentrum meiner Wahrnehmung.
Es geht bei dieser Übung nicht um das intellektuelle Verstehen, sondern darum, dieses Zentrum der Wahrnehmung einmal spüren zu können.
Wenn du es jetzt etwas spüren und schmecken konntest, dann stell dir weiter vor, daß dieses Zentrum jetzt in deinem Körper ist – im Bauch- und Brustraum. Dort unten ist jetzt unser wahrnehmendes Auge – es sieht nicht nur, sondern spürt und fühlt und atmet. Das ist dann unser Focusingbewußtsein.
Und die Sicht aus einem etwas anderen Blickwinkel soll uns noch weiter klar machen, auf welche Weise die akzeptierende Wahrnehmung uns verändern kann: Wenn wir gegen bestimmte Dinge in uns ankämpfen, sie zu unterdrücken versuchen, sie zensieren oder bewerten – dann identifizieren wir uns mit dem einen Teil von uns, der den anderen Teil unterdrücken will. Und das wird dazu führen, daß wir im nächsten Moment der andere Teil sind, der gegen den Unterdrücker kämpft, was sich indirekt durch psychosomatische Leiden ausdrücken kann. Wenn sich durch diese Zerrissenheit dann nichts verändert, denken wir, wir hätten eben noch nicht genug unterdrückt, gewaltsam verändert oder gekämpft; wir strengen uns noch mehr an – und alles wird nur schlimmer. Wenn wir jetzt wahrnehmen könnten, was all dies mit unserem Körper macht, dann würden wir erkennen, daß diese Nichtakzeptierung uns verdichtet, verkrampft und verspannt.
Sobald wir aber aus unserem System heraustreten, uns weder mit dem einen noch mit dem anderen Teil identifizieren, sondern nur mit dem Zentrum unserer Wahrnehmung, wenn wir uns also nur einmal kurz in Frieden lassen – dann beginnt sich unser ganzes System zu reorganisieren und zu verbessern. Unser Körperzustand wird bei diesem Heraustreten leichter und feiner. Liebevolles Wahrnehmen wird unseren Zustand in solch feine Schwingungen versetzen, daß sich alles, was in uns ist, transformiert. Aus jedem negativen und bekämpften Teil unseres Selbst kann etwas Schönes und Wertvolles werden.
Nur Liebe und Annehmen kann ungeliebte
Dinge sich verwandeln lassen. Haß und
Kampf machen sie nur häßlicher und starrer
Für unsere Focusingarbeit brauchen wir diesen Zustand der akzeptierenden Wahrnehmung. Zu Beginn unserer Arbeit sollten wir deshalb «Raumschaffen», d.h. durch die eine oder andere Methode in einen Zustand der Gelassenheit und Ruhe kommen. Wenn wir also in einem verspannten, ärgerlichen, selbstquälerischen oder selbstanklagenden Zustand sind, tun wir zunächst etwas, um diesen Zustand zu verändern und um Raum für den akzeptierenden Wahrnehmer in uns zu schaffen. Mit diesem Tun entscheiden wir uns zu dieser akzeptierenden Grundhaltung.
Ich will dir jetzt einen Focusingprozeß zeigen, wie er in der therapeutischen Situation ablaufen kann – also mit einem begleitenden Helfer. Ich werde den Prozeß so schematisiert darstellen, daß wir ihn später leicht in verschiedene Schritte einteilen können, die du dann allein ohne einen Helfer für dich ausprobieren kannst.
Stellen wir uns vor, ich bin jetzt mit einem Menschen im Gespräch, den wir Thomas nennen wollen. Wir beide sitzen in einem Raum, in dem wir über eine längere Zeit nicht gestört werden können, und Thomas berichtet mir von seinem Problem. Obwohl er sich sonst in seinem Leben ganz wohl fühlt und mit seinen langjährigen Freunden und Bekannten gut zurechtkommt, macht er in einer neuen Arbeitsgruppe recht neuartige Erfahrungen mit sich selbst. Er kennt die anderen Gruppenmitglieder noch nicht so richtig und fühlt sich in seinem Verhalten auf eine Art und Weise gehemmt und ängstlich, wie er das sonst nicht von sich kennt. Er fühlt sich zugeknöpft, kontrolliert und schüchtern. Er könnte dieses Thema auch einfach zur Seite schieben und abwarten, wie er sich in Zukunft in dieser Gruppe entwickeln würde, aber da er in der Schulzeit ähnliche Erfahrungen gemacht hat, nimmt Thomas diese Gefühle ernst und möchte einmal ausprobieren, ob er durch Focusing mehr Klarheit und Entspannung erreichen kann.
Zunächst spricht Thomas über die verschiedensten Situationen, in denen er sich ähnlich gefühlt hat. Er versucht, die richtigen Erklärungen für sein Verhalten zu finden, und er spricht über fruchtlose Versuche, diese ängstlichen Gefühle zu verändern. Bei allem Bemühen und Suchen findet er jedoch beim Sprechen keine Erleichterung oder Lösung. Wie er es auch dreht und wendet – sein Problem bleibt unverändert.
Ich frage ihn jetzt, ob dies beschriebene Problem jetzt das Thema sein sollte, an dem wir einmal Focusing ausprobieren können. Er nickt, und ich schlage ihm vor, erst einmal etwas zu tun, um sich Raum zu schaffen. Er könnte die Augen schließen, einmal nach innen spüren und schauen, was ihn da alles so belastet, und das erst einmal zur Seite stellen, um Raum für sich als Erlebenden zu bekommen.
Er könnte sich auch auf die Matratze legen und erst einmal durch das Hineinspüren in seinen Körper Raum schaffen oder aber mich um eine Atemmassage bitten, um erst einmal entspannt da sein und seinen Körper und Atem deutlicher spüren zu können. All diese Methoden werde ich später unter «Raumschaffen» ab Seite 33 beschreiben.
Jetzt bitte ich Thomas, sich einmal vorzustellen, all das, was er mir da über sein Problem erzählt hat und vielleicht noch das, was er mir noch darüber erzählen könnte, in einen Sack zu stecken und dann zu schauen, wie sich das alles zusammen als eine Gesamtheit in seinem Bauch- und Brustraum anfühlt. Ich erkläre ihm dabei, daß ich keine konkreten Körperempfindungen meine, wie einen Stich, einen Druck oder eine Zuckung – später werden wir auch mit diesen Empfindungen arbeiten –, sondern daß wir auf der Suche sind nach einem ganz vagen und undeutlichen Gefühl im ganzen Rumpfraum.
Es ist nämlich so, daß zu jedem Problem, zu jeder vorgestellten Person oder Situation sich solch eine vage innere Aura im Rumpfraum bilden kann – eine körperliche Resonanz zu dem Problem sozusagen – oder in unserer Fachsprache: Wir bilden den felt sense. Und Thomas und ich machen uns nun auf die Suche nach diesem vagen, undeutlichen Gefühl im Bauch- und Brustraum, das all das, was mit seinem Problem der Gehemmtheit zusammenhängt, als eine Gesamtheit widerspiegelt. In diesem vagen Gefühl finden sich noch keine Worte und Bilder; dieses Gefühl zeichnet sich sogar dadurch aus und ist dadurch definiert, daß es noch undeutlich und ungeformt ist.
Auf der Suche nach dieser körperlichen Resonanz sollte sich Thomas Zeit lassen und in einer absichtslosen und entspannten Haltung nach innen lauschen, weil alles Wollen und Sichanstrengen verhindern könnte, in Kontakt mit diesem zarten und undeutlichen Etwas zu kommen. Der felt sense, so könnte ich ihm noch erklären, ist so etwas Ähnliches wie das unbestimmte Gefühl vor einer Wortmeldung in einer Gruppe. Du weißt genau, was du sagen willst, wartest ganz ungeduldig darauf, daß du drankommst – und dennoch sind in deinem Gefühl noch keine Worte vorhanden. Du weißt genau, was du sagen willst und hast dennoch keine Worte dafür. Erst wenn du dann dran bist, redest du einfach darauflos und läßt die Worte und Sätze sich selbst formen.
Thomas nimmt sich jetzt Zeit, spürt in sich hinein und schließt die Augen. Er sagt nach einiger Zeit, daß er so etwas Unklares zwar in seinem Körper spürt, daß er aber nicht weiß, ob das das richtige ist und wie er das nennen soll. Jetzt weiß ich, daß er in Kontakt mit seinem felt sense ist, denn wäre es für ihn deutlicher und könnte mit Worten beschrieben werden, dann wäre es schon nicht mehr der felt sense.
Ich bitte Thomas, einfach noch eine gewisse Zeit bei seinem felt sense zu bleiben. Nichts mit ihm tun, nichts herausbekommen wollen – einfach nur in Gegenwart des felt sense sein. Er kann dabei auf seinen Atem achten und auf diese Weise den felt sense im Ein- und im Ausatmen wahrnehmen. Oder anders ausgedrückt: Er kann sachte seinen Atem in sein Erleben hineinfließen lassen.