Anja Eichbaum

Insellicht

Kriminalroman

Zum Buch

Schatzsuche Als eine junge Doktorandin Heinrich Heines literarischen Spuren nachgeht und sich zu Recherchezwecken im „Tea-Time-Hostel“ auf Norderney einmietet, gerät sie unbeabsichtigt in die Ermittlungen eines rätselhaften Mordfalls, der Inselpolizist Martin Ziegler zunehmend verzweifeln lässt: Ein Unbekannter am Kap, dem Seezeichen von Norderney, ist offenbar den Folgen eines Giftanschlags erlegen. Damit nicht genug. Bald ziehen auch noch »Sondengänger«, die ein Geheimnis zu hüten scheinen, die Aufmerksamkeit des Polizisten auf sich. Doch sämtliche Spuren führen ins Leere. Gerade jetzt könnte Ziegler Rat und Unterstützung gut gebrauchen, doch seine Vertraute, die Polizeipsychologin Ruth Keiser, stößt derweil auf die tragische Lebensgeschichte einer jungen Frau. Mehr und mehr taucht sie in die Geschehnisse ein und erlebt dabei eine ganz persönliche Katastrophe …

Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein „halbes“ Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gerne dort, wo sie am liebsten selber ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand. Nach Ermittlungen auf Norderney und an der Ostseeküste, agieren ihre Protagonisten erneut auf der ostfriesischen Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mauritius images / Hans Zaglitsch

ISBN 978-3-8392-7212-1

Personenregister der Protagonisten

Gert Schneyder, Mordkommission Aurich

Martin Ziegler, Dienststellenleiter Norderney, lebt mit Anne Wagner zusammen

Nicole Ennert, Olaf Maternus, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink, Polizisten

*

Ruth Keiser, Polizeipsychologin

Oskar Schirmeier, Journalist

*

Daniela Prinzen, geborene Rick

Frank Prinzen

Marthe Dirkens

Weitere Personen, alphabetisch

Adamietz, Patrik

Bothe, Doktor Rainer

Eske

Holgersen, Nils

Kahn Rebecca +

Judith

Matzdorf, Doktor

Robin

Schwarzbach, Andreas Richard, genannt Uriah

Trödel-Tammo

Wiesinger, Caroline

und andere

Prolog

Bonn

Das Papier knisterte. Er hielt den Atem an. Seine Hände zitterten. Er griff den Einband fester. Nicht auszudenken, das Exemplar würde herunterfallen. Für einen Moment schloss er die Augen. Dankbar. Erleichtert. Stolz. So hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt. Von Ehrfurcht erfasst, würde er es nennen, wenn es nicht fürchterlich abgedroschen klänge. Dabei war es wichtiger denn je, sich der gewählten Worte bewusst zu sein. Die Sprache zu formen. Exakt zu formulieren und keine Worthülsen zu produzieren. Das war sein Wunsch gewesen. Von Kind an. Und nun stand er an diesem Ort, der für ihn den gleichen Wert besaß, wie es der Altarraum für den Priester tat. Ein Heiligtum.

Der hölzerne Boden der Empore knarzte, als er das Gewicht verlagerte, während er an den Buchreihen vorbeiging. Er schwankte kurz, denn schwindelfrei war er nicht. Eine angeborene Sehschwäche, die lange übersehen worden war, hatte dazu geführt, dass er in seiner Kindheit motorisch recht unsicher gewesen war. Er lächelte. Was für ein Paradestück des Schicksals. Denn der mangelhafte Gleichgewichtssinn hatte ihn erst zu einem Büchernarren gemacht, und diese Bücherliebe hatte die Weichen für sein Leben gestellt.

Er zog die Brille, die er beim Lesen auf die Stirn schob, zurück auf die Nase. Vorsichtig balancierte er das geöffnete Buch den schmalen Gang entlang zur Treppe, die in den Innenraum der Bibliothek und damit zu den Schreibtischen führte. Er hatte einen der begehrten Plätze am Fenster mit seiner Ledertasche blockiert. Nicht weil ihn der Anblick der herumgammelnden Kommilitonen draußen auf der Hofgartenwiese interessierte. Nicht im Geringsten zog es ihn dort hinaus und in ihre Gesellschaft. Wie er überhaupt wenig Wert auf die Gemeinschaft legte. Die Erstsemesterwoche war eine Qual und vergeudete Zeit gewesen. Wo er sich Wissensvermittlung versprach, war es um blödsinnige Trinkspiele und peinliche Rätselaufgaben gegangen.

Er war sich in seinem Anzug erwachsener vorgekommen als die Tutoren und war nur froh, dass das Studium nun begonnen hatte. Das Germanistische Seminar hatte seine Türen für ihn geöffnet. Wie froh war er, wenn er den kalten Marmorböden, den laut hallenden Fluren und dem verrauchten E-Raum im Hauptgebäude der Universität entfliehen konnte, indem er Stufe für Stufe in die heiligen Hallen des alten Schlosses hochstieg. Wenn er an der Aufsicht in ihrem gläsernen Kasten seinen Ausweis präsentierte, ließ er die banale Welt hinter sich. Schon jetzt, kaum 14 Tage nach Studienbeginn, in diesem Oktober 1980, wusste er: Hier lag seine Bestimmung. Hier lag sein Glück. Und das würde er sich von niemandem mehr nehmen lassen.

*

Berlin

Die Musik wummerte durch alle Räume, verfing sich in den Ecken, kroch unter den Türen hindurch in den letzten Winkel der Studentenwohnung. Mit jedem Bass stieg sein Hass. Sein Hass auf die Ungerechtigkeit, sein Hass auf das Leben. Ein Leben, in das er nicht zu passen schien. In dem sich alle anmaßten, ihn zu belächeln. In seiner Leidenschaft, seiner Zielstrebigkeit. Wie sie ihn dabei verkannten. Auf ihn he­rab­sahen, mitleidig und mit gequälten Zügen um den Mund. Als wenn sie im Besitz der Wahrheit und Weisheit wären und nicht vielmehr er selbst. Nicht nur die Kommilitonen, von denen es nicht anders zu erwarten war. Sondern auch die Dozenten an der Bonner Uni. Ja, er hatte eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bekommen. Weil er fleißig war. Weil er sich nicht ablenken ließ. So unverfroren hatte ihm sein Professor das ins Gesicht gesagt. Dabei stand er in den Startlöchern. Er würde es ihnen zeigen. Würde sich seinen Lebenstraum nicht zerstören lassen. Vielleicht musste er sich anders aufstellen. Sein Forschungsgebiet neu justieren. Sich auf etwas ausrichten, mit dem ihm ein fulminanter Durchbruch gelingen konnte. Nur, was konnte das sein?

Jemand drehte die Musik lauter. Wütend warf er seine Brille aufs Bett. So waren Lesen und Arbeiten unmöglich. Wo war er hineingeraten? Statt weiterzukommen, geriet der Berlin-Aufenthalt, von dem er sich viel versprochen hatte, zum Desaster. Das Zimmer, das er für die Semesterferien über einen Aushang am Schwarzen Brett in Bonn ergattert hatte, erschien ihm perfekt. »Germanist sucht Mitbewohner für zwei Monate.« In Berlin war er noch nie gewesen. Dieses Inselleben der alten Hauptstadt erzeugte klaustrophobische Gefühle. Andererseits: Es war wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Der Kleingeistigkeit seiner Universität zu entkommen. Auf neuen literarischen Stoff zugreifen zu können. Originalausgaben in den Händen zu halten. Möglicherweise war Berlin sein Schicksalsort. Viel mehr als dieser verstaubte Bonner Mikrokosmos, in dem er trotz aller Anstrengung kaum etwas galt.

Wie hatte er sich getäuscht. Der Germanist entpuppte sich als Popper, der sich in seiner Bundfaltenhose über seinen Anzug lustig machte. Als Partygänger mit einer blonden Haartolle und türkisfarbenen Augen. Als Frauenheld, der in der Bewunderung, die ihm seine Mitmenschen entgegenbrachten, aufblühte. Der sich als Genius fühlte, ohne es zu sein, weil seine sprachliche Eloquenz über die fehlende Tiefe seiner wissenschaftlichen Arbeit hinwegtäuschte. Dem trotzdem eine Karriere in der Germanistik bevorstand. Dem Blender. Nicht ihm, dem Könner.

Er setzte die Brille auf und öffnete die Tür. Rauchschwaden zogen durch die Wohnung. Auf dem Boden und sämtlichen Möbeln standen herrenlose Bierflaschen. Teller mit Essensresten stapelten sich auf den Tischen. Die Musik ließ seinen Magen vibrieren.

Seltsamerweise hatten sich alle in der Küche um den Fernseher versammelt. Der Ton war abgestellt. Kein Wunder bei all den Experten, die alkoholisiert das Spiel kommentierten und sich in ihren Formulierungen zu übertreffen suchten. Was für eine Betätigung für den Akademiker von heute.

Er sah zu der Zimmertür seines Gastgebers. Sie stand einen Spalt auf. Obwohl sie beide das Studienfach teilten, gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Eine Erkenntnis, die sich innerhalb von Minuten eingestellt hatte, in diesem Sommer 1986. Aber was machte das schon bei einem Arrangement auf Zeit.

Er schob sich in das Zimmer. Immerhin keine knutschenden Paare wie sonst auf den wenigen Partys, zu denen er jemals gegangen war. Schnell näherte er sich dem Schreibtisch. Schaute auf den Blätterstapel neben der Schreibmaschine, in die eine Seite eingespannt war.

Er nahm die obersten Papiere an sich und ließ seinen Blick darüber schweifen. »Heine«, stieß er aus und hörte, wie verächtlich es klang. Um Heine hatte er bisher einen großen Bogen gemacht. Er überflog die Einleitung. Um Heines Abkehr vom Judentum ging es in der Seminararbeit, die größtenteils fertig zu sein schien. Er griff zu den handschriftlichen Blättern mit Quellenangaben und Verweisen. Wie aus dem Nichts explodierte ein Gedanke in ihm: Das, was er las, war – genial. Es hätte aus seiner Feder stammen können. Es war aus seiner Feder. Oder etwa nicht? Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte es gewusst: Die Fahrt nach Berlin war nicht vergeblich.

Dass er die Wohnung verließ, zum Bahnhof fuhr und eine halbe Stunde später zurückkehrte, blieb unbemerkt. Die Aufregung am nächsten Tag tangierte ihn nicht. Was interessierte ihn ein verschwundener Blätterstapel? Selbst schuld, wenn man dem Partyvolk Tür und Tor zum Diebstahl öffnete. Was hatte er damit zu tun?

*

Bonn

Nein, er feierte nicht, an diesem denkwürdigen Tag, als er die Promotionsurkunde in den Händen hielt. Es war das »summa cum laude«, das höchste Lob. Der Türöffner zu weiteren akademischen Weihen. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Glückwünsche seines Doktorvaters waren ehrlich gewesen. Anerkennung für seinen Fleiß, für die neuen Erkenntnisse und den sprachlichen Stil, mit dem er sie alle überrascht hatte. »Willkommen an Bord«, hatte es geheißen, »einen Heine-Kenner in den Reihen zu haben, wird unserer Universität gut zu Gesicht stehen. Was in Ihnen steckt, haben Sie viel zu lange verborgen. Nun, glücklicherweise nicht zu lange.« Es war ein dröhnendes Lachen. »Solang man im rechten Augenblick das Beste aus sich herausholt. Glückwunsch dazu.«

Er hatte gelächelt. Ein Etappenziel. Und das ausgerechnet mit Heine. Dem alten Juden.