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Wozu das alles?

Verdammt schmaler Grat, das ist mir klar. Ich bin der Typ mit der dunklen Vergangenheit. Der Fußballprofi, der fast vier Jahre im Knast saß. Das Mitglied der sogenannten Wuppertaler »Big Boy«-Bande, die 2011 innerhalb kurzer Zeit vier schwere Raubüberfälle beging. Ich war der Big Boy.

Als ich am 8. Oktober 2011 auf einer Kreuzung in Wuppertal-Barmen von der Polizei aus dem Auto gezogen und festgenommen wurde, war mein Leben im Grunde vorbei. Ein überwiegend gutes Leben bis dahin, eines mit einem großen Ziel: Fußballprofi zu werden. Über 20 Jahre hatte ich alles dafür getan, um die Liebe zum Fußball zu meinem Beruf zu machen. War mit sechs in einen Verein eingetreten, hatte Talent bewiesen, wurde gefördert und blieb auch auf langer Strecke in der Spur: Trainer, Freunde, meine Familie glaubten an mich. Ich schaffte es in Auswahlmannschaften und trainierte hart für meinen Traum, quälte meinen Körper, verzichtete auf vieles, was für gleichaltrige Freunde zum ganz normalen Leben gehörte. Ich rauchte nicht, ich trank keinen Alkohol, oft joggte ich schon um sechs Uhr morgens durch mein Viertel, noch vor der Schule. Ich spielte schon früh höherklassig, doch der erste spektakuläre Lohn für meinen Aufwand folgte mit 17 Jahren: Borussia Mönchengladbach verpflichtete mich für die U19. Krass. Mehr ging damals für mich nicht. Junioren-Bundesliga mit der Perspektive Profi-Vertrag. Erste Bundesliga. Ruhm. Geld. Ein Leben, eine Zukunft. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich war jetzt ein richtiger Fußballprofi, die Welt stand mir offen.

Dachte ich.

Okay.

Dieses Buch habe ich aus mehr als einem Grund geschrieben. Dass ich mich von meiner Schuld reinwaschen will, ist keiner dieser Gründe. Das kann ich nicht. Das will ich auch nicht. Niemand hat mich gezwungen, die Überfälle zu begehen, Menschen zu bedrohen, ihnen Todesangst zu bereiten. Das war ganz allein meine Verantwortung, ganz allein mein Fehler. Ich bereue alles, was innerhalb dieser 76 Tage im Herbst 2011 geschehen ist, und ich habe meine Strafe dafür verbüßt. Ich möchte in diesem Buch erzählen, wie es dazu kommen konnte, dass ich meine Mutter, meine Freunde und auch mich selbst und alles, was mir wichtig war, verraten habe. Ich will mein Verhalten nicht entschuldigen – aber ein paar Erklärungen möchte ich schon liefern. Zudem möchte und muss ich mich bei den Menschen entschuldigen, die ich durch mein Verhalten in eine traumatische Situation gebracht habe. In eine Situation, in der sie sich in großer Gefahr wähnten. Dass ich bei keinem unserer vier Überfälle die Absicht hatte, Gewalt anzuwenden, wusste ja nur ich selbst – keines unserer Opfer konnte das wissen. Ich betone das hier ausdrücklich noch einmal: Es tut mir sehr leid, dass ich mir zum damaligen Zeitpunkt keine Gedanken über die Konsequenzen meiner Taten gemacht habe. Ich habe mich inzwischen bei all meinen Opfern entschuldigt. Mehr kann ich heute leider nicht mehr tun.

Wem will ich meine Geschichte erzählen? Da wären all die Jugendlichen von damals in meinem Viertel, für die ich lange das hoffnungsvolle Talent war, das es rausgeschafft hatte aus

Aber ich will sie auch meinen jungen Fans von heute erzählen, die dem Ex-Knacki nach seinen Toren zujubeln. All den Jungs und Mädchen, auf die meine Geschichte offenbar sogar eine Faszination ausübt. Was kann ich ihnen vermitteln, damit sie nicht die gleichen Fehler machen wie ich? Vielleicht, dass man, wenn man schon tragische Fehler macht, dafür auch geradestehen muss – und niemand anderen als sich selbst für seine Taten verantwortlich machen darf.

Ich möchte erzählen, wie hoffnungsvolle junge Menschen jahrelang unter großem Druck auf eine Karriere vorbereitet werden, die sie dann wahrscheinlich niemals haben werden, weil es im Profifußball viel weniger Plätze als Anwärter dafür gibt. Ein Rechercheteam der ARD hat herausgefunden, dass es von 5738 Talenten in den Nachwuchsleistungszentren aller Bundesligisten seit 2010/11 nur 3,5 Prozent in den Kader eines Profivereins geschafft haben. Die Mehrzahl bleibt auf der Strecke. Psychisch nicht so stark aufgestellte Persönlichkeiten können daran zerbrechen. Vor allem, wenn sie in kritischen Momenten kein intaktes Umfeld oder einen Plan B in der Tasche haben.

Ich möchte in Zukunft nur noch Schlagzeilen mit meinen fußballerischen Qualitäten und meinem sozialen Engagement machen. Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Es ist mir ein großes Anliegen, offen über meine Vergangenheit zu sprechen und Jugendliche davor zu bewahren, dasselbe Schicksal zu riskieren. Deshalb halte ich während meiner Freizeit Vorträge in Schulen oder Jugendzentren in sozialen Brennpunkten. Bei diesen Gelegenheiten möchte ich zeigen: Jeder hat eine zweite Chance verdient. Aber sie kommt nicht von allein, man muss sie ernsthaft wollen und auch eine Menge Arbeit und Disziplin darauf verwenden, sie wirklich zu nutzen. Wie sagt man bei uns im Rheinland immer: Von nix kött nix …

Um aber nicht nur im eigenen Saft zu schmoren und ausschließlich meine Sicht der Dinge zu erzählen, habe ich auch immer wieder Freunde, Familienmitglieder und Wegbegleiter gebeten, ihre Perspektive auf mich und bestimmte Phasen meines Lebens zu Papier zu bringen. Ehrlich und – wenn es sein muss – auch schonungslos. Vieles von dem, was ich dort gelesen habe, hat mich gefreut, manches aufgerührt und nachdenklich gestimmt. Für einiges habe ich mich geschämt. Zu Recht.

Aber da wär noch etwas. Ich möchte mit diesem Buch auch all denen ein paar Worte sagen, die sich ähnlich wie ich amtlich in die Sch… geritten haben. Menschen, die plötzlich in der Tiefgarage des Lebens angekommen sind und nirgendwo mehr ein Licht sehen. Meine Botschaft an euch: Gebt verdammt noch mal nicht auf. Nicht am tiefsten Tiefpunkt, nicht im dunkelsten Moment. Macht euch gerade. Haltet an euern Träumen fest. Vertraut auf euch selbst. Nur ohne Ziel und Perspektive seid ihr wirklich verloren. Möglicherweise denkt ihr jetzt, Alter, halt mal die Backen, was erzählst du? Wer bist du, dass du dich hier so aufbläst? Und es stimmt ja: Verdammt schmaler Grat, das ist mir klar.

Payback

Mein erstes Spiel in der Zweiten Liga. Zwei Tore. Und dieses unglaubliche Gefühl, auch mal was zurückzahlen zu können.

Möglicherweise gibt es wichtigere Termine für den deutschen Fußball. Für mich allerdings nicht: Am 4. August 2018 haben sich in Fürth bei schweineheißen 33 Grad im Sportpark Ronhof 8450 Zuschauer gegen das Freibad und für den Besuch eines Fußballspiels entschieden. Es geht um den Auftakt der Zweitligasaison, Spielvereinigung Greuther Fürth gegen den SV Sandhausen. Es gibt vermutlich unattraktivere Begegnungen im deutschen Profisport, allerdings fallen mir gerade keine ein. An diesem Tag aber spielt das keine Rolle. Glücklich und angespannt wie ein junges Rennpferd sitze ich in der Kabine und höre die letzten Anweisungen an die Mannschaft, die von Minute zu Minute lauter und aufgeregter klingen. Ich könnte tanzen vor Freude und genieße jede Sekunde. Die Informationen und Appelle unseres Trainers Damir Burić rauschen an mir vorbei. Ich bin im Tunnel, wie es so schön heißt. An diesem Tag werde ich mein erstes Spiel in der Zweiten Bundesliga machen. Ich schaue mich in der Kabine um, ein unglaubliches Durcheinander aus achtlos ausgezogenen Aufwärm-Trikots, Wasserflaschen und Massageliegen, Fußballschuhe klackern, Tapebänder reißen. Das ist deswegen so gut zu hören, weil die rund 20 Männer, die sich gerade in der Kabine befinden, überwiegend schweigen, die Köpfe gesenkt, die Augen geschlossen. Bis auf Damir Burić natürlich, der vor uns steht, sich so groß

Im Sommer 2018 bin ich von der Spielvereinigung Greuther Fürth verpflichtet worden, aus der Dritten Liga von Fortuna Köln. Ich bin die einzige Neuverpflichtung, die an diesem ersten Spieltag bei Greuther Fürth in der Startelf steht. Die letzte Saison verlief nicht gerade ideal für meinen neuen Verein, man konnte sich so gerade noch vor dem Abstieg retten. Die ganze Stadt fiebert dem Auftakt der neuen Saison entgegen, dieses Jahr soll es besser laufen, obwohl die Zweite Liga mit den abgestiegenen Traditionstruppen vom FC Köln und dem HSV so stark sein wird wie nie zuvor. Schon beim Aufwärmen habe ich die neugierigen Blicke des Publikums, meines Publikums, gespürt. Klar, die Leute wollen wissen, was der Neue draufhat: Daniel Keita-Ruel, die Nummer 10 auf dem Trikot, ein paar Jahre Gefängnis auf dem Buckel. Jeder hier im Stadion hat davon gehört, darüber gelesen – Profifußball ist ein gläsernes Geschäft.

Doch nicht nur das fränkische Publikum ist gekommen, um sich den Neuen anzuschauen. Auch meine besten Freunde und meine Familie sind nach Fürth gereist, um den vorläufigen Höhepunkt meines Comebacks als Fußballer live zu erleben. Nach all diesen Irrungen und Wirrungen in meinem Leben waren an diesem heißen Augusttag immer noch Menschen durchs halbe Land gereist, um mir beim Kicken zuzusehen. In den letzten Tagen vor dem Spiel schickten mir zudem viele Leute ermutigende SMS oder Nachrichten auf WhatsApp, schrieben mir, dass sie stolz auf mich sind und immer an mich geglaubt

Schließlich ist da noch meine Mutter, der ich so viel Kummer bereitet habe und die auch in schwierigen Zeiten immer bedingungslos zu mir gehalten hat. Am Abend vor dem Spiel haben mir ihre Blicke gezeigt, wie glücklich sie war. Höchste Zeit, ihr etwas zurückzugeben für all die Liebe, die sie mir gegeben hat, und die Kraft, die ich auf meinem Weg zurück in die Welt so dringend brauchte. Gerade heute will ich sie nicht enttäuschen, den wichtigsten Menschen in meinem Leben; ich will, dass sie stolz auf mich sein kann. Ich möchte auch meinen Freunden auf der Tribüne zeigen, was ich kann, will meine überwiegend jüngeren Mitspieler von mir überzeugen und dem Fürther Publikum beweisen, dass es sich in Zukunft auf mich und meine Tore verlassen kann. Das sind alles in allem eine Menge Menschen, die ich an diesem Tag glücklich machen möchte. Keine Überraschung also, dass jede Faser meines Körpers vibriert. Ich muss da jetzt raus und diese unbändige Motivation in mir in Bewegung umsetzen, bevor ich platze.

Der Trainer hat seine Ansprache inzwischen beendet, wir bleiben noch zwei, drei Minuten auf unseren Plätzen sitzen, jeder mit seinen eigenen Ritualen beschäftigt. Ich ziehe mir meine Kopfhörer über die Ohren und drehe auf, laut, sehr laut. Hip-Hop von meinem Freund Jigzaw, danach bin ich bereit: »Sie werfen mich ins kalte Wasser, kein Thema, denn ich kann schwimmen/ Aufgeben keine Option, bin da, nur um zu gewinnen.«

Allerdings einer, der noch nichts gewonnen hat, nicht mal einen erbärmlichen Zweikampf. Und bis zum Halbzeitpfiff wird sich daran wenig ändern. Wir kommen schwer ins Spiel, Sandhausen erweist sich als kompakte Truppe, ohne allzu viel zu riskieren. Wir kommen in den ersten 23 Minuten nicht mal richtig vor das Tor des Gegners, dann: Trinkpause. Aufgrund der heißen Temperaturen wird uns solch eine Pause zweimal im Spiel verordnet, damit wir nicht dehydrieren. Innerlich muss ich darüber grinsen: Auf den Bolzplätzen früher gab’s so was nicht – ich erinnere mich noch an meine erste Zeit im Verein in Wuppertal, da hielt man es noch für schädlich, überhaupt während eines Spiels Wasser zu trinken …

Ohne Tore auf beiden Seiten gehen wir in die Halbzeit. Damir Burić kommt zu mir, legt mir die Hand auf die Schulter: »Bleib locker. Deine Situationen werden noch kommen – mach auf dem Platz einfach genau das, was dir Spaß macht.« Ich nicke. Na hoffentlich.

Zehn Minuten nach der Pause kommen meine Chancen immer noch nicht, sondern erst mal nur der Sandhäuser Klingmann, und zwar in unseren Strafraum. Er nimmt eine verunglückte Abwehraktion meines Mitspielers Caligiuri auf und haut den Ball aus kurzer Entfernung ins Tor. 0:1. Unsere Unsicherheit ist jetzt mit den Händen zu greifen. Erstes Spiel in der Saison, gleich eine Heimniederlage? Gegen eine Mannschaft, die du eigentlich zu Hause schlagen musst. Burić reagiert: Mit Reese und Green gehen zwei Offensivkräfte raus, dafür

Zwölf Minuten vor dem Ende dann dieser Moment, auf den jeder Mittelstürmer wartet – und für den ich Fußball spiele. Mein Mitspieler Tobias Mohr setzt sich auf der linken Seite gegen zwei Gegenspieler durch und flankt den Ball hoch auf den zweiten Pfosten in den Strafraum. Ich sehe den Ball durch den Strafraum segeln und mache intuitiv ein paar Schritte weg von meinem Gegenspieler. Mit einem Spreizschritt springe ich in den Ball, berühre ihn leicht – und sehe, wie er am Torhüter vorbeifliegt, den Innenpfosten berührt und hinter die Linie fällt. Tor! Ausgleich! Erstes Spiel, erster Treffer. Ich schreie die Erleichterung und die Freude zu gleichen Teilen hinaus in die Welt, nackte Ekstase, für den Bruchteil einer Sekunde ist so ein Tor das reine Glück. Mir tut jeder leid, der noch nie Fußball gespielt hat und nicht nachvollziehen kann, was in einem Fußballer vorgeht, der gerade ein Tor erzielt hat. Meine Mannschaftskameraden stürmen auf mich zu und begraben mich unter sich, auch die Fans sind aus dem Häuschen. Es dauert ein paar Sekunden, bis wir uns alle wieder gesammelt haben und uns gegenseitig noch einmal pushen.

© spvgg-fuerth.com

Endlose Sekunden vergehen, bis der Schiedsrichter den Ball freigibt. Ich weiß genau, wohin ich schießen will. Unten links, hart und flach. Ich höre die Zuschauer nicht mehr, auch die aufmunternden Worte meiner Mitspieler erreichen mich nicht. Da ist er wieder, der Tunnel. Nur der Ball, das Tor, der Keeper, alles andere verschwimmt zur Kulisse. Bei meinem Anlauf beobachte ich den Torhüter, doch ich ändere meine Absicht nicht mehr, als ich im letzten Moment erkenne, dass auch er sich meine Ecke ausgesucht hat. Links unten, platziert in der unmittelbaren Nähe des Pfostens, schlägt der Ball ein. Der Torhüter liegt in der richtigen Ecke, der Ball im Tor: mein Doppelschlag. Wir führen! Der Jubel ist riesig, wieder hüpfen zehn Büffel plus Ersatzspieler auf mir herum – erstaunlich, dass bei solchen Szenen nicht häufiger Verletzungen passieren. Nachdem ich gefühlte Ewigkeiten später meine jubelnden

Bis zum Februar 2019 war der ehemalige kroatische Bundesligaspieler Damir Burić Trainer von Daniel Keita-Ruel bei Greuther Fürth in der Zweiten Bundesliga.

Wir haben Daniel schon beobachtet, als er noch in der 3. Liga bei Fortuna Köln spielte, da war er einfach herausragend. Aber ich wollte ihn natürlich auch als Persönlichkeit kennenlernen und wissen, was für ein Typ er ist. Dafür habe ich sogar meinen Urlaub unterbrochen, als sich die Möglichkeit zu einem Gespräch mit ihm ergab, ich glaube, das war am Flughafen in Frankfurt. Unser erster Kontakt war … was soll ich sagen: Schon die Art, wie er dich anschaut, wie er redet, da merkt man gleich: Das ist ein toller Junge. Egal, ob’s in seiner Vergangenheit ein paar Sachen gab, die nicht gepasst haben – jetzt stand da ein Mann vor mir, der mir glaubwürdig vermittelt hat, dass er brennt und alles geben will für die Chance, eine Klasse höher zu spielen und im Fußball nach vorn zu kommen. Ich erinnere mich noch an seinen Satz bei unserem ersten Treffen: »Ich werde 150 Prozent geben!« Und das hat er tatsächlich getan.

Wenn Keita einen Trainer hat, der zu ihm steht und sich mit ihm beschäftigt, wird er das als Spieler immer zurückzahlen, er ist da sehr loyal und verlässlich. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, aber das ist es nicht. Im Fußball gibt es eine Menge Spieler, die viel erzählen, aber dahinter steht nichts. Oder wenig.

Ich glaube, dass Keita die Qualität hat, auf hohem Niveau zu spielen. Und dass man mit ihm im Kader auch gleichzeitig Probleme verpflichtet, ist ohnehin nur ein Vorurteil aufgrund seiner Vergangenheit. Man muss da Vertrauen haben. Man kann sicher sein, dass er die Qualitäten, die er nun einmal hat, in wirklich jedem Spiel auf den Platz bringt. Er ist keiner, der alle drei Monate mal ein gutes Spiel macht und dann wieder abtaucht: Auf ihn ist immer Verlass.

Immer in Bewegung

Das Leben auf der Nevigeser Straße. Oder: immer nur dem Ball hinterher, dann stimmt die Richtung.

Es heißt ja, dass es in Deutschland keine Straßenfußballer mehr gibt. Für Wuppertal-Elberfeld gilt das nicht. Jedenfalls nicht, als ich dort aufwuchs. Die ersten Erinnerungen aus meiner Kindheit sind Bilder vom Sportplatz an der Nevigeser Straße. An den kann ich mich besser erinnern als an meine Grundschule oder mein erstes eigenes Zimmer in unserer Wohnung, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Platzes lag. Das hängt wohl damit zusammen, dass ich dort deutlich mehr Zeit verbracht habe. Ich sehe mich da noch als kleinen Jungen vor mir, fünf Jahre alt vielleicht, wie ich mit meinen Freunden hinter dem Ball herjage. Erst nur auf einem kleinen fiesen Aschenplatz, der einem ständig offene Schürfwunden am Knie oder am Oberschenkel verpasste. Davon hatte man immer länger was, weil an den nässenden Wunden noch tagelang die Jeans festklebte. Später aber durften wir auch immer häufiger auf den Kunstrasen, auf dem damals noch der SV Borussia Wuppertal spielte. So ein Kunstrasen ist ja heutzutage längst Standard, aber die Anlage an der Nevigeser Straße war in der gesamten Umgebung eine der ersten mit solch einem Juwel. Wir haben ihn geliebt.

Gerade im letzten Jahr ist mein alter Sportplatz an der Nevigeser Straße abgerissen worden – da kommt nun eine Schulsporthalle hin und eine Lidl-Filiale. Obwohl ich längst nicht mehr in Wuppertal lebe, hat mich das traurig gemacht. Das war

Dabei hatte sie es ohnehin nicht leicht als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Meine Eltern trennten sich, da war ich vielleicht viereinhalb, fünf Jahre alt. Mein Vater Chérif Keita, ein musikalischer, kräftiger Mann, stammte ursprünglich aus Ziguinchor, einer Stadt in der Casamance, dem südlichen Teil Senegals. Meine Mutter Françoise Ruel ist Französin. Sie ist zwar in St. Étienne geboren, doch große Teile ihrer Familie stammen aus Korsika. Meinen Vater hat sie erst in Deutschland kennengelernt.

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Dass es sie überhaupt hierher verschlagen hatte, war ein kurioser Zufall: St. Étienne ist eine der acht Partnerstädte von Wuppertal und liegt in der französischen Rhône-Alpen-Region, 70 Kilometer südwestlich von Lyon. St. Étienne ist mit rund 180000 Einwohnern nur halb so groß wie Wuppertal, hat aber ebenfalls eine große Universität. An dieser Uni in St.

Als sie dann 1987 meinen Vater kennenlernte, steckte sie gerade in einer schwierigen Situation, da sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Meinen Vater traf sie in Düsseldorf, wo er in der dortigen Tanzwerkstatt einen Workshop für afrikanische Musik anbot. Er lebte eigentlich in Paris, wohnte aber zu der Zeit gerade bei einem Freund, der mit einer senegalesischen Ballett-Truppe für ein Gastspiel nach Deutschland gekommen war. Mein Vater pendelte damals zwischen Deutschland, Frankreich und Senegal, je nachdem, wo er seine Workshops abhielt. Für meine Mutter war das keine einfache Situation, vor allem, als zwei Jahre nach mir auch noch meine Schwester Myriam auf die Welt kam. Später arbeitete er dann in Wuppertal in einer Fabrik, doch zu dem Zeitpunkt hatte sich meine Mutter bereits von ihm getrennt. Ich war noch zu klein, um das alles so richtig zu verstehen, doch es war klar, dass die Trennung von meinem Vater und die Scheidung weder für uns Kinder noch für meine Mutter einfach waren. Sie hatte inzwischen über eine Maßnahme für alleinerziehende Mütter eine Ausbildung als Erzieherin machen können und arbeitete in einem Kindergarten. Mein Vater, mit dem ich nach ein paar unruhigen Jahren langsam wieder regelmäßigen Kontakt aufnahm, heiratete

Mit meiner Schwester Myriam

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Apropos Erziehung. Ich bin nicht sicher, ob meine Lehrer so froh waren, mich in ihrer Klasse zu haben. Ich war kein Kind, das sich gern ruhig für ein paar Stunden hinter ein Pult klemmte und konzentriert dem Unterricht folgte. Mein Bewegungsdrang, ich erwähnte ihn ja schon. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich die knapp anderthalb Kilometer von zu Hause bis zu meiner Grundschule in der Hainstraße in den ersten Jahren meiner Schulzeit ungern gegangen wäre. Ich war gut in Mathe und Religion (kein Plan, wieso …) und in Sport sowieso. Bis zur vierten Klasse kam ich mit den meisten Lehrern gut klar. Dementsprechend erhielt ich nach der vierten Klasse auch eine Realschul-Empfehlung – zudem eine, die meinen sportlichen Fähigkeiten entgegenkam. Bei der Friedrich-Bayer-Realschule handelt es sich um eine sogenannte NRW-Sportschule, in der Schüler von der fünften bis zur achten Klasse in der Woche sechs Stunden leistungsorientierten Sportunterricht erhalten, danach wird es etwas weniger. Die Teilnahme am Schulmannschaftstraining und an Projekten wie

Für die Mutter von Daniel Keita-Ruel gibt es eindeutige Indizien dafür, dass ihr Sohn im Gefängnis erwachsen geworden ist.