»In meinem ganzen Leben bin ich niemandem begegnet, der so zum Glück begabt gewesen wäre wie ich – auch niemandem, der sich mit gleicher Hartnäckigkeit darauf versteift hätte.«

Simone de Beauvoir

Die Vorworte

Alice Schwarzer interviewt Jean-Paul Sartre 1970 in seiner Wohnung Boulevard Raspail.

Bruno Pietzsch, Paris

Vorwort

Das erste Mal traf ich sie im Mai 1970. Es war eine eher reservierte Begegnung. Ihrerseits. Und eine zufällige. Denn eigentlich war ich wegen Jean-Paul Sartre da. In dieser Zeit war ich freie Korrespondentin in Paris und zu einem Interview mit dem Philosophen zu der Frage der »revolutionären Gewalt« verabredet: Hat man das Recht zum Widerstand, und wenn ja, wie weit darf die »Gegengewalt« gehen?

Da saß ich nun in seiner Ein-Zimmer-Wohnung am Boulevard Raspail. Interviewzeit dreißig Minuten. Kurz vor Ende des Gesprächs dreht jemand den Schlüssel im Schloss und betritt die Wohnung: Simone de Beauvoir. Sie wirft einen kurzen, irritierten Blick auf mich (und meine halblangen blonden Haare plus Minikleid) und erinnert Sartre knapp, fast schroff daran, dass sie beide gleich eine Pressekonferenz hätten. Dann setzt sie sich an Sartres Schreibtisch im Hintergrund des Zimmers und arbeitet.

Ich spüre ihre Verärgerung über die Verzögerung und werde verlegen. Erstmals lerne ich Beauvoirs »tête de chameau« (wörtlich übersetzt: Kamelkopf) kennen, das heißt ihre berüchtigt abweisende Miene, wenn ihr Situationen oder Menschen nicht passen. Sie ist, das begreife ich später, ein sehr absoluter Mensch. Kehrseite der Medaille: Wen sie einmal ins Herz geschlossen hat, der ist da auch nur schwer wieder zu entfernen.

Noch heute spüre ich, wie aufgeregt ich damals war. Schon wegen Sartre, der ja in Frankreich zu der Zeit der Theoretiker Nr. 1 der 68er-Generation war, und in diesen Jahren mit seiner radikalen Solidarität mit der Jugendrevolte Furore machte. Und dann auch noch Beauvoir … Mit ihr hatte ich doch eigentlich noch viel, viel mehr zu tun als mit Sartre.

Ich gehöre zu der Generation, für die die ferne Existenz einer Simone de Beauvoir ab den frühen 60er-Jahren eine unerhörte Herausforderung war, und eine große Ermutigung. Da war nicht nur ihr Werk – die Romane, Memoiren, Essays –, da war auch ihr Leben: eine Intellektuelle, die sich widerständig, doch geachtet in die brisantesten politischen Debatten ihrer Zeit einmischte und leidenschaftlich Partei ergriff (zum Beispiel gegen den Algerienkrieg der französischen Kolonialherren); eine Frau, die mit ihrem Weggefährten unverheiratet, in getrennter Wohnung und in »freier Liebe« lebte; eine Schriftstellerin, die kreativ, erfolgreich – und begehrenswert war. Kurzum: eine ganz und gar unerhörte Erscheinung! Ein »role model«, wie man heute sagen würde, der allerersten Güte.

Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich ein Stück ihres Weges mit ihr gehen und diese Gespräche mit ihr führen würde, die Geschichte gemacht haben, ich hätte es wohl kaum geglaubt. Noch weniger aber hätte ich mir vorstellen können, dass Simone de Beauvoir, die in diesen Jahren, in denen ich die Interviews führte (zwischen 1972 und 1982), weltweit rezipiert und geschätzt wurde, nur wenige Jahre später missverstanden, ja missachtet oder gar vergessen sein könnte.

Doch der sehr rasche und sehr harte Backlash gegen den Feminismus – nicht zuletzt aus den eigenen Reihen – machte das Undenkbare möglich: Die bedeutendste feministische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts ist Anfang des 21. Jahrhunderts fast vergessen. Höchste Zeit, sie wiederzuentdecken! Denn Simone de Beauvoir gibt Antworten auf genau die Fragen, die wir uns heute wieder stellen.

Ins Abseits gedrängt wurde die umfassendste und tief greifendste feministische Analyse des 20. Jahrhunderts, »Das andere Geschlecht«, und das radikale Denken von Simone de Beauvoir durch pseudo- und postfeministische Moden, die den Kern des Feminismus aufgeweicht, ja umgestülpt haben. Doch was ist eigentlich der Kern des Feminismus? In zwei Sätzen gesagt: Es sind die uneingeschränkt gleichen Chancen, Rechte und Pflichten für Frauen wie Männer; sowie die Infragestellung des herrschenden männlichen Prinzips – zugunsten einer menschlichen Utopie. Das und nichts anderes waren die bei Aufbruch der Frauenbewegung Anfang der 70er deklarierten Ziele.

Die Konterrevolte folgte auf dem Fuße. Schon Mitte der 70er wurde die »neue Weiblichkeit« und »neue Mütterlichkeit« propagiert, außerhalb wie innerhalb der Frauenbewegung. Gleichzeitig kam eine erneute Mystifizierung der »Weiblichkeit« in Mode, im Namen von Natur oder Kultur, auf jeden Fall irreversibel. »Differenzialismus« hieß diese heute schon wieder vergessene Denkmode.

Sie wurde Ende der 80er abgelöst von den Gendertheorien, die das exakte Gegenteil postulierten. Nun hieß es: Es gibt weder Sex noch Gender, weder eine Festlegung durch die soziale Rolle noch durch das biologische Geschlecht. Es gibt nur Menschen – und die können nach Belieben switchen zwischen den Rollen. Was als theoretisches Konzept hochinteressant ist, die Niederungen der Realitäten jedoch schlicht ignoriert. Oder, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen: »Die Begriffe vom Ewigweiblichen, von der schwarzen Seele, vom jüdischen Charakter abzulehnen, bedeutet ja nicht zu verneinen, dass es heute Juden, Schwarze, Frauen gibt: Diese Verneinung wäre für die Betroffenen keine Befreiung, sondern eine Flucht ins Unauthentische. Selbstverständlich kann keine Frau, ohne unaufrichtig zu sein, behaupten, sie stünde jenseits ihres Geschlechts.« (1949 in »Das andere Geschlecht«)

Es ist darum ahistorisch, nicht zu sehen, dass der Gedanke von der »Konstruktion« des Geschlechts alles andere als neu ist. »Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht« – diesem Schlüsselsatz von Simone de Beauvoir in »Das andere Geschlecht« können auch die Gendertheorien eigentlich nur uneingeschränkt zustimmen, mehr noch: Sie hätten darauf aufbauen müssen, statt ihn zu ignorieren und das Rad neu zu er finden.

Doch in den glücklich-unschuldigen Zeiten des Aufbruchs der Neuen Frauenbewegung ahnten wir weder etwas vom herannahenden Differenzialismus noch von der darauf folgenden Gendermanie. Damals, wenige Monate nach meiner allerersten Begegnung mit Beauvoir, meldeten sich Feministinnen nach langem Schweigen erstmals wieder öffentlich zu Wort; ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der ersten Frauenbewegung. Und noch waren sich alle einig. Im September 1970 stieß ich zu dem Häuflein Pionierinnen. Und schon im Frühling galten wir als Bewegung und hatten auch schon einen Namen: »Mouvement de Libération des Femmes«, kurz MLF genannt. Wir lancierten eine spektakuläre Kampagne nach der anderen, unter anderem die gegen das Abtreibungsverbot. 343 Frauen, darunter etliche bekannte, erklärten öffentlich: »Ich habe abgetrieben, und ich fordere dieses Recht für jede Frau!« Simone de Beauvoir war eine von ihnen. (Und ich exportierte die Idee von Frankreich nach Deutschland.)

Von da an hat Beauvoir mit den Feministinnen, denen sie politisch wie emotional vertraute, zusammengearbeitet. Sie hat uns nie etwas abgeschlagen. So wie Sartre für einen Teil der neuen Linken zum »compagnon de route« geworden war, so wurde nun Beauvoir für eine bestimmte Strömung der Frauenbewegung – für die Antibiologistinnen bzw. Universalistinnen, die gegen eine »natürliche Rolle der Frau« und damit des Menschen überhaupt und für die Gleichheit aller Menschen eintreten – zur Wegbegleiterin.

Zu unseren Terminen, egal, ob es um politische Aktionen oder ein privates Essen ging, erschien Simone de Beauvoir immer sehr pünktlich. Wenig hasste sie so sehr wie Unpünktlichkeit. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, war in den Diskussionen von schneidender Klarheit und mitreißendem Anarchismus: Nichts war ihr zu radikal. Doch in ihrem Auftritt war sie oft überraschend wohlerzogen – die Art, wie sie ihre Handtasche auf den Knien umklammert halten konnte …

Es war eine Zeit des Aufbruchs, alles schien möglich, die politische Arbeit war wie ein Rausch, der unser ganzes Leben erfasste. Abende, ausgefüllt mit Treffen, Gesprächen, Essen, Aktionen. »Les bouffes avec Simone« wurden bald zur lieben Gewohnheit. Alle paar Wochen wurde reihum gekocht, allerdings nie bei ihr: Sie hasste es zu kochen. Meist bei mir: Ich liebe es zu kochen. Sechs bis acht Frauen waren wir, gevöllert wurde, getrunken und gelacht – und Pläne wurden geschmiedet.

Bei einem dieser »bouffes« entstand die Idee meines ersten Interviews mit Beauvoir. Ich fand es wichtig, dass die »Bekehrung« der einst distanzierten Theoretikerin zum aktiven Feminismus öffentlich gemacht wurde. Denn mit dem Erscheinen ihres Buches »Das andere Geschlecht« 1949 hatte ja ausgerechnet die von nun an bedeutendste feministische Theoretikerin des Jahrhunderts sich von der Notwendigkeit der Existenz einer Frauenbewegung distanziert. Sie hatte immer wieder erklärt, sie glaube an »eine automatische Lösung der Frauenfrage innerhalb des Sozialismus«. Doch der »reale Sozialismus« sollte in der Folgezeit nicht nur Beauvoir und Sartre dank Stalinismus und Poststalinismus desillusionieren.

Unser erstes Interview machte auch wegen dieser politischen Wende Geschichte. Es erschien Anfang 1972, also zu einer Zeit, in der die beginnenden Frauenbewegungen in allen westlichen Ländern in einem zäh-legitimatorischen Clinch mit den Linken lagen, aus deren Reihen sie zum Teil kamen. »Ich bin Feministin!«, erklärte die Gefährtin von Jean-Paul Sartre, der ja mit der radikalen Linken verbandelt war, nun öffentlich. Sie bekannte sich zu der Notwendigkeit einer autonomen, von der Linken unabhängigen Frauenbewegung und kritisierte die »Genossen« in den kapitalistischen wie in den sozialistischen Ländern. Unser Gespräch wurde weltweit übersetzt, bis ins Japanische, und kursierte in zahllosen Frauengruppen als Raubdruck.

Ein Jahr später machte ich ein Fernsehporträt über Beauvoir für den NDR. Das Gespräch, in dem Beauvoir und Sartre auf Fragen nach ihrer Beziehung antworten, ist diesem Filmporträt entnommen. Es wurde im September 1972 in Rom geführt und ist, soweit ich weiß, das einzige Interview überhaupt, in dem beide gleichzeitig auf Fragen nach den Spielregeln ihrer Beziehung Rede und Antwort stehen – diese Beziehung, die für Generationen das Modell einer »freien Liebe« war.

Die Tage in Rom waren der Beginn unserer Freundschaft, über die politische und journalistische Zusammenarbeit hinaus. Ich erinnere mich vor allem an die langen Abende auf den Terrassen, an denen Beauvoir, Sartre und ich Gott und die Welt durch den Kakao zogen: Uns drei verband unter anderem die Lust am Tratsch, der ja erhellender sein kann als so mancher philosophischer Diskurs.

Schon Mitte der 70er-Jahre warnte Simone de Beauvoir dann in unserem dritten Gespräch vor den sich – bereits jetzt! – abzeichnenden Tendenzen einer Renaissance des Glaubens an die »Natur der Frau« (und damit auch des Mannes). Sie spottete: »Da man den Frauen nicht die Schönheit des Geschirrspülens preisen kann, preist man ihnen die Schönheit der Mutterschaft.«

Allem voran Beauvoirs Aussagen zur Frage der Mutterschaft lösten wahre Proteststürme aus. (Ganz wie beim Erscheinen von »Das andere Geschlecht«, wo die Kapitel über Liebe, Homosexualität und Mutterschaft tumultartige Reaktionen hervorgerufen hatten.) Bis an ihre Pariser Privatadresse schrieben ihr die Frauen aus aller Welt: Sie haben etwas gegen Mütter! Sie sind wohl frustriert! Schütten Sie das Kind doch nicht mit dem Bade aus! Und bis heute beharren alle, die die mangelnde Bereitschaft zum (Selbst-)Betrug im Denken von Simone de Beauvoir nicht aushalten, darauf, sie misszuverstehen.

Wie oft eigentlich hat Beauvoir in ihrem Leben auf die Frage antworten müssen, ob ihr als Nicht-Mutter nicht doch etwas Entscheidendes fehle …? Hat man jemals Sartre gefragt, ob er sich trotz seiner fehlenden Vaterschaft als vollständiger Mensch fühle? Bei einigen ihrer Statements zum Thema Mutterschaft scheint darum eine gewisse Gereiztheit durch, aber auch der heilige Zorn über die Tendenz zum Selbstbetrug der Frauen, zur »mauvaise foi«.

Was also sagt Simone de Beauvoir wirklich zur Mutterschaft? Dass im Namen der Mütterlichkeit vor allem die Frauen für das Versorgen der Kinder verantwortlich gemacht würden, jedoch Mütterlichkeit keineswegs angeboren, sondern anerzogen sei. Dass sich aus der Fähigkeit zur biologischen Mutterschaft (zum Gebären) nicht zwangsläufig die Verpflichtung zur sozialen Mutterschaft (zum Aufziehen) ergebe. Dass die Mutterschaft an sich kein kreativer Akt, sondern eine biologische Gegebenheit sei. Dass die Mutterschaft keine Lebensaufgabe für eine Frau sei. Dass die Mutterschaft Frauen unter den heutigen Bedingungen oft zu wahren Sklavinnen mache und sie ans Haus binde. Und dass es darum um die Aufkündigung dieser Art von Mutterschaft gehen müsse, das heißt der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern. Etwas anderes sagt heute die CDU-Familienministerin auch nicht. Allerdings: Sie sagt es dreißig Jahre später.

In unserem 1976 geführten Gespräch hielten wir es beide für wichtig, auch und gerade den Weiblichkeitswahn im Namen des Feminismus zu thematisieren. Simone de Beauvoir attackiert in aller Schärfe jeden Glauben an ein »Anders-« und ein »Besser-Sein« von Frauen: »Das wäre finsterer Biologismus und steht in krassem Gegensatz zu allem, was ich denke. Wenn man uns sagt: Immer schön Frau bleiben, überlasst uns nur all diese lästigen Sachen wie Macht, Ehre, Karrieren, seid zufrieden, dass ihr so seid: erdverbunden, befasst mit den menschlichen Aufgaben … Wenn man uns das sagt, sollten wir auf der Hut sein!« Und auch im letzten Gespräch in diesem Band, geführt im September 1982, geht es noch einmal um die Gefahr des Beharrens auf dieser – real ja aufgrund unterschiedlicher Prägungen und Lebensrealität in der Tat existierenden – »Differenz« – statt des Strebens nach Gleichheit.