I. Die Babyboomer und die Revolution von 1989

Katrin Göring-Eckardt: Herr Schirrmacher, worüber regen Sie sich auf?

Frank Schirrmacher: Das ist die erste Frage? Überraschend.

Göring-Eckardt: Das war der Plan.

Schirrmacher: Es gibt vieles, worüber ich mich aufrege. Über Konformismus zum Beispiel.

Göring-Eckardt: Und Herr di Lorenzo, bitte wenigstens einen positiven Satz über die 68er!

Di Lorenzo: Da habe ich sogar aus persönlichen Gründen ein Gefühl der Dankbarkeit: Ich glaube, dass zumindest mein beruflicher Weg gar nicht denkbar gewesen wäre, wenn es die Generation der 68er nicht gegeben hätte. Bis in die achtziger Jahre hinein hätte es jemand mit meinem Namen vermutlich viel schwerer gehabt, in Deutschland eine Zeitung zu leiten. Aber warum fragen Sie das?

Göring-Eckardt: Weil sich gerade Ihre Generation bislang so oft an den 68ern abgearbeitet hat. Im Februar dieses Jahres aber hat Frank Schirrmacher in einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung das politische Versagen der Babyboomer-Generation angeprangert. Aber was verbindet diese Generation eigentlich, welche Ereignisse haben sie besonders geprägt?

Schirrmacher: Zu den Babyboomern zähle ich recht großzügig die Geburtsjahrgänge von 1955 bis 1970. Sie gehören also auch dazu, Frau Göring-Eckardt, obwohl Sie viel jünger sind als Herr di Lorenzo und ich. Diese Kohorte bildet seit der Jahrhundertwende die meinungsbildende Mehrheit in Deutschland. Die prägenden Erlebnisse dieser Generation unterscheiden sich natürlich, je nachdem, ob man im Osten oder im Westen sozialisiert worden ist. Aber es gibt eine Glücksphase, die wir alle gemeinsam erlebt haben, als wir zwischen zwanzig und Mitte dreißig waren: das Jahr 1989.

Göring-Eckardt: Was hat dieses Jahr mit Ihnen gemacht, Herr di Lorenzo?

Di Lorenzo: 1989 markiert für mich den Zusammenbruch der politischen Ideologien, das habe ich als sehr prägend empfunden. Das Jahr war für unsere Generation eine Art Vexierspiegel, weil wir gemerkt haben, wie sehr auch unsere eigenen Gedanken, Überzeugungen, Koordinatensysteme von historischen Gegebenheiten und Denkmoden geprägt sind. Die daraus erwachsene Skepsis gegenüber Ideologien, also dogmatischen Weltanschauungen, ist im Prinzip sympathisch und hilfreich. Das Problem der Babyboomer ist allerdings, dass sich dahinter inzwischen ein genereller Mangel an Ideen verbirgt.

Schirrmacher: Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Unter der Dominanz der Babyboomer sind die Ideen zu Bruch gegangen. Viele Angehörige unserer Generation haben geglaubt, dass Märkte auch schon Ideen sind. Das war ein Fehler. Ich habe die Wendezeit sehr bewusst erlebt. Ich war damals 30 und bei der FAZ gerade Literaturchef geworden. Im Juni 1989 waren die großen Feiern der Französischen Revolution, und Menschen überlegten, ob die Mauer noch 50 oder 100 Jahre stehen würde. Was dann passierte, war, aus der Westperspektive betrachtet, ein simulativer Vorgang. Wir hatten plötzlich das Gefühl, in gewisser Weise wiederholt sich 1945. Wir waren ja nicht beteiligt, aber wir analysierten die Vergangenheit. Am Morgen nach dem Fall der Mauer haben wir in der Redaktion alle möglichen Leute, von Sacharow bis Grass, angerufen. Martin Walser zum Beispiel wusste es noch gar nicht und fing an zu weinen. Günter Grass hat sofort gewarnt. 24 bis 48 Stunden später kamen Nachrichten wie die, dass im Westen die Karl-Marx-Buchhandlung ihren Namen ändern will oder halbkommunistische Plattformen sich auflösen – was man eigentlich nicht so verstand, weil man dachte: Moment, dass die DDR nicht das ist, was ihr euch vorstellt, war doch eh klar. Es war ein völlig bizarrer Vorgang, den man nicht als handelnde Person, sondern als Beobachter wahrnahm. Das alles impfte einem, wegen der Schnelligkeit, mit der Ideologien abgeworfen wurden, ein großes Misstrauen gegenüber Ideologien ein.

Göring-Eckardt: Die friedliche Revolution war ein prägendes Erlebnis, das unsere Eltern und Großeltern nicht hatten. Worin bestand denn für Sie, Herr di Lorenzo, das Glücksgefühl, von dem Herr Schirrmacher eben sprach? Das würde mich als Ostdeutsche interessieren.

Di Lorenzo: Ich habe sehr schöne Erinnerungen an diese Zeit. In dem Jahr bis zur Volkskammerwahl 1990 war ich immer wieder als Reporter in der DDR. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich eine solche Offenheit bei den Menschen erlebt. Sie haben sich auf alle Fragen eingelassen und erzählt, wie es gewesen ist; es gab auch viele Zeichen der Zuwendung. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit gereist zu sein.

Göring-Eckardt: Wegen der Faltenröcke?

Di Lorenzo: Wegen allem. Wie Politik gemacht wurde, wie die Städte aussahen, wie unzersiedelte Landschaften wirkten – man hatte manchmal den Eindruck, das geht zurück bis in die zwanziger Jahre. Das ist etwas, das ich nie vergessen werde.

Schirrmacher: Eine Generation, die in der Volksschule gehört hat »Die Welt ist auf ewig geteilt«, erlebt eine Revolution – dieser hoch belastete Begriff! –, die sie nicht verursacht hat und an der sie auch nicht mitwirkt. Revolution als Zuschauersport, das ist für mich ein ganz wichtiges Element der Sozialisation unserer Generation.

Göring-Eckardt: Und das war positiv?

Schirrmacher: Ja, zumindest am Anfang. Ich weiß noch, dass alle Autofahrer, die mir am Morgen nach dem MauDDR

… Richard Schröder, Ulrike Poppe! – Aber Sie sagten, diese Revolution sei für die westdeutschen Babyboomer nur am Anfang mit einem guten Gefühl verbunden gewesen. Wann kam der Umschwung? Als allen klar wurde, dass die Vereinigung etwas kostet? Als es eine andere Form der Bedrohung gab?

Es lag ja ein Heilsversprechen in der Vereinigung, von den »blühenden Landschaften« über »das Ende der Ideologien« bis hin zu der Vorstellung, dass es jetzt einen Siegeszug von Demokratie und Kapitalismus geben werde. Diese Hoffnung hat sich verselbstständigt und ist zu neuen utopischen Vorstellungen geronnen. Das hat dann auch Widerspruch und Ablehnung hervorgerufen.

Und Enttäuschung.

Ja, der Elan an revolutionärer Energie nahm im Westen von 1990 an rapide ab, das hatte natürlich auch mit Kohl zu tun. Aber wir waren damals noch relativ jung; ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist. Es ist ein großer Unterschied, ob Sie eine solche Revolution mit 30 Jahren oder mit 50 Jahren erleben. Wenn Sie die mit 30 Jahren erleben – das war das Durchschnittsalter der Deutschen bei allen großen Umbrüchen und Krisen –, haben Sie noch das Gefühl, man kann reparieren, man kann in Ordnung bringen. Das ist etwas, was ich noch ganz stark mit 1989 verbinde.