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Bist du ganz sicher, dass du deinen letzten Abend in Freiheit so verbringen willst?“, fragte Sophia Carters Verlobte Dominica, während die Frauen am stillen Strand die Klappstühle aufstellten. Die Sonne war längst untergegangen und am Himmel funkelten Millionen Sterne.
„Es ist eine Ehre, zum ersten Mal beim Treffen der Sand Queens dabei zu sein“, entgegnete Dominica, und ihr ganz leichter Akzent ließ die Wortendungen etwas härter klingen.
„Es freut mich ja, dass du das Ende deiner Junggesellinnenzeit mit uns feiern willst, aber wir hätten dir auch gern einen echten zünftigen Junggesellinnenabschied mit Party organisiert“, erklärte Opal, betrachtete die schöne Kubanerin und fand, dass sie wie ein frischer Wind für Sunset Cove war.
Dominicas Familie und Freunde sollten erst in ein paar Tagen zur Hochzeit anreisen und dann ein paar Tage bleiben, und Opal hätte niemals zugelassen, dass sie den Abend allein verbrachte, während die Männer Junggesellenabschied feierten.
Dominica kicherte nervös und antwortete: „Danke, aber das hier entspricht mir viel mehr.“
Die Frauen ließen sich jetzt nieder und schauten hinaus auf das Meer. Opal liebte es, wie bei Mondschein die weißen Schaumkronen der Wellen in der Dunkelheit leuchteten. Bei jeder trägen Welle, die aufs Ufer traf, und dem unendlichen Wellenrauschen in der Ferne hätte sie ohne Weiteres die Augen schließen und einfach wegdösen können.
„Hat Carter dir schon verraten, wohin es in die Flitterwochen geht?“, fragte Sophia und durchbrach damit die allgemeine Trägheit, während sie Thermobecher mit ihrer selbst gemachten heißen Schokolade austeilte.
Dominica nahm einen und hielt ihn mit beiden Händen fest. „Wir sind schon genug in der Weltgeschichte herumgereist. Ich habe mir eher etwas Zurückgezogenes und Gemütliches gewünscht, und deshalb fahren wir in die Berge.“
„Wie süß von ihm“, sagte Josie und verteilte dicke Scheiben Kürbiskuchen.
„Wie romantisch“, schwärmte Opal noch ein bisschen weiter, bevor sie sich auf den Kuchen konzentrierte. Sie atmete tief den Duft der verschiedenen Gewürze ein und biss dann ab.
„Ist so eine Blockhütte in den Bergen nicht ein bisschen zu klischeehaft?“, fügte Sophia noch hinzu und verdrehte dabei dramatisch die Augen.
Opal schnaubte leise und bemerkte dann: „Sei doch nicht so zynisch. Nur weil Ty und du es gerade nicht so leicht miteinander habt, brauchst du doch Dominica nicht die Vorfreude auf ganz viel Romantik zu verderben.“
„Ja, Sophia. Das war wirklich nicht nett“, sagte Josie in ruhigem Tonfall.
Da legte Sophia ihre Hochnäsigkeit ab und sah kurz reumütig aus. „Tut mir leid, Dominica. Vergiss es einfach. Das einzige Klischee hier bin ich: Promipaar mit Ehekrise.“ Sie stöhnte auf über ihre eigene Situation und die Angst, die sie deshalb hatte, und sackte noch mehr auf ihrem Stuhl zusammen.
Sophia arbeitete in einer renommierten PR-Firma, die wiederum einige der berühmtesten Leute aus der Welt des Profisports betreute, unter anderem auch ihren Mann, den bekannten Footballstar. Die beiden konnten absolut nichts tun, ohne dass die Medien darüber berichteten und alles mit falschen Verdächtigungen und Beschuldigungen aufblähten.
„Kommt Ty eigentlich irgendwann demnächst in die Stadt? Wir haben uns ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen“, sagte Josie wieder mit ihrer leisen Stimme.
Sie überragte die anderen beiden um fast 25 Zentimeter und war geübt darin, sich selbst möglichst klein zu machen. Opal betete schon lange um mehr Selbstvertrauen für sie, denn in ihren Augen war sie eine in jeder Hinsicht attraktive Frau.
„Wahrscheinlich nicht. Die Mannschaft ist mitten in den Vorbereitungen für die Play-offs. Und um ihn in die Stadt zu bekommen, muss man ihn vermutlich k. o. schlagen und herschleifen – eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.“ Nach diesen Worten zog sich Sophia die Kapuze ihres Hoodies über den Kopf, auf dem sie bereits eine Kappe trug.
Opal schaute ihre Freundin an und sah, dass irgendetwas sie bedrückte, obwohl die Baseballkappe und die Kapuze den größten Teil ihres Gesichts verbargen. „Was ist denn passiert?“
Sophia zuckte nur mit den Achseln. „Ach, ich habe vorgeschlagen, dass wir wieder hierher zurückziehen und einen Neuanfang versuchen, aber Ty will nicht. Er hat gesagt, schon allein der Vorschlag sei total egoistisch von mir.“ Und nach einer kurzen Pause gestand sie dann: „Es ist einfach nicht mehr so wie früher …“
„Ach Süße, vielleicht glätten sich die Wogen ja wieder, wenn Ty die Play-offs hinter sich hat“, versuchte Opal Sophia zu trösten.
Sie nahm ihre Hand und hoffte, dass auch das für ihre Freundin ein bisschen tröstlich war. Sie kannte Sophia gut genug, um zu wissen, dass es um mehr ging als die Gründe, die sie gerade genannt hatte.
„Das hoffe ich sehr, besonders auch für Collin. Der Ärmste kommt mit dieser Ungewissheit überhaupt nicht gut zurecht und hat richtige Wut- und Trotzanfälle.“
„Collin ist noch ein Kleinkind, da sind Trotzanfälle doch ganz normal und auch wichtig“, sagte Opal, zwinkerte ihr zu, und die Frauen lachten.
„Das stimmt“, bestätigte Josie und trank einen Schluck von ihrer heißen Schokolade.
Das Lachen beendete die traurige Stimmung, und die Freundinnen konzentrierten sich wieder ganz auf Dominica und ihren großen Tag. Sie plauderte munter und glücklich über Details der Hochzeit, während sie alle drei den Kürbiskuchen genossen.
Nach etwa einer Stunde waren alle Snacks verzehrt und Josie nickte immer wieder ein.
„Boah! Wir sind einfach zu jung, um dermaßen langweilig zu sein!“, sagte Sophia und machte eine wegwerfende Geste.
Doch das wollte Opal nicht auf sich sitzen lassen. Sie warf ihren Freundinnen einen spitzbübischen Blick zu und sagte: „Wie wäre es denn mit etwas richtig Klischeehaftem?“
Im Laufe der nächsten Stunde setzten die drei Sand Queens und ihre Ehren-Queen das besagte Klischee in die Tat um, indem sie auf dem Parkplatz des Palmetto Kunstcamps herumschlichen, das sich gerade im Bau befand. Das Camp war an diesem Abend der Veranstaltungsort von Carters Junggesellenabschied, und Musik dröhnte aus dem Wald. Zum Glück waren sie weit draußen auf dem Land, wo es weit und breit keine Nachbarn gab, sodass sie sich wie Hooligans aufführen konnten, ohne jemanden zu stören.
Opal überreichte jeder der Frauen ein paar abwaschbare bunte Eddings und schlug dann vor, den Fahrzeugen der Jungs einen etwas feminineren Touch zu verpassen. Dann schaute sie an der Reihe der Autos entlang und entdeckte auch gleich Lincolns Jeep. Den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet, eilte sie hin und fing bei der Abdeckung des Ersatzreifens am Heck des Wagens an. Aus dem schwarzen Kreis machte sie ein neongrünes Peace-Zeichen mit knallpinkfarbenen Akzenten und setzte dann die künstlerische Aktion auf der Beifahrerseite fort.
Weil sie fand, dass Lincoln ein echter Hippie war und er an diese Tatsache erinnert werden musste, schmückte sie die Seite mit fluffigen Blumen und Herzen, bevor sie auf der Fahrerseite weitermachte. Den hinteren Teil bemalte sie mit einem großen Regenbogen, und als sie damit fertig war, rutschte sie weiter zur Fahrertür und beschloss, dort noch ein Peace-Zeichen zu malen mit dem Wort groovy darunter.
Hochzufrieden mit sich und ihrem Werk stand Opal auf und sah sich plötzlich einem angsteinflößenden Anblick gegenüber – wütend starrende Augen unter einer gerunzelten Stirn fixierten sie aus dem Innern des Fahrzeugs.
Sie stieß einen Schreckenslaut aus und machte einen riesigen Satz nach hinten. „Was machst du denn da drinnen?“, keuchte Opal flüsternd und fasste sich ans Herz.
Eine der dichten Augenbrauen im Innenraum des Wagens ging nach oben, während der Rest des Gesichtes zur finsteren Miene erstarrt blieb. „Das hier ist mein Auto. Würdest du mir vielleicht mal sagen, was du hier gerade machst?“
Sie versteckte die Stifte hinter ihrem Rücken und zwang sich zu einem unsicheren Lächeln. „Es hübsch machen?“
„Steig ein!“, befahl Lincoln.
Mit einer Mischung aus Schuldgefühlen und Schock huschte sie auf die andere Seite des Wagens und stieg ein, aber noch bevor sie die Tür zugeschlagen hatte, blaffte er ihr schon den nächsten Befehl zu. „Die verbotenen Gegenstände lass gefälligst draußen.“
Daraufhin ließ Opal die Farbstifte fallen und schlug die Tür zu. Sie machte sich darauf gefasst, jetzt von ihm zusammengestaucht zu werden, aber nachdem ein paar Minuten Schweigen geherrscht hatte, wagte sie einen Blick in seine Richtung. Sein Kopf lag auf dem Lenkrad, und seine dicken Locken hingen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht und verbargen, was auch immer er gerade empfinden mochte.
„Linc … was … was …?“, setzte sie an, um zu fragen, was denn los sei, aber sie hatte in den vergangenen beiden Monaten das eine oder andere über den Umgang mit diesem schwer einzuschätzenden Mann gelernt. Also räusperte sie sich und fing noch einmal von vorn an. „Was ist denn falsch daran, dieses hässliche Biest zu bemalen?“
Da drehte er den Kopf gerade so weit, dass ein dunkles Auge unter der Masse seines braunen Haares hervorblitzte und sagte: „Bitte sag mir, dass die Farben abwaschbar sind.“
„Davon gehe ich aus“, antwortete sie kurz und knapp in der Hoffnung, dadurch auch das andere Auge hervorlocken zu können, und sie musste sich auf die Unterlippe beißen und sich ein Kichern verkneifen, als das tatsächlich funktionierte.
Er hob den Kopf und sagte: „Dann hoffe ich für dich, dass du künstlerisch was draufhast.“ Nach dieser trockenen Erwiderung begann er dann auch noch tatsächlich zu lachen.
„Ich glaub ja nicht, dass du dich hier draußen im Wagen versteckst und mich in flagranti ertappst. Das ist der offizielle Beweis dafür, dass ich eine Niete im Streichespielen bin.“
„Wer sagt denn, dass ich mich verstecke?“, fragte er, und seine Stimme war jetzt wieder schärfer und sein Blick zorniger.
„Ach, dann versteckst du dich also gar nicht?“, bemerkte sie und versuchte weiter, das Gespräch ganz vorsichtig zu lenken.
Da stieß Lincoln einen rauen Seufzer aus und legte den Kopf wieder auf das Lenkrad. Den Blick starr nach unten in den Fußraum gerichtet, murmelte er: „Die Jungs veranstalten einen Paintball-Kampf im Wald.“
Opals erster Gedanke war, dass es bestimmt eine Strategie dieses Spiels gab, bei der er irgendwo in einem Versteck kauern und auf diese Weise trotzdem mitmachen konnte, aber dann wurde ihr wieder bewusst, was ein Kriegsspiel für ihn wahrscheinlich bedeutete, und sie hätte sich am liebsten für diese blöde Idee geohrfeigt. Und das wiederum weckte den Wunsch in ihr, Carter einen Klaps auf den Hinterkopf zu geben, weil er nicht bedacht hatte, dass diese Aktion für einen von Kriegsverletzungen genesenden Soldaten nicht besonders geeignet, geschweige denn unterhaltsam war.
„Was glauben die Jungs denn, wo du gerade bist?“, fragte sie, nachdem im Wagen eine Weile Stille geherrscht hatte.
„Ich habe Carter gesagt, dass die Schmerzen im Bein schlimmer würden und ich mich verabschiede.“
„Tut es denn weh?“
„Es tut immer weh“, murmelte er, fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und startete den Wagen. Nachdem er in den Rückspiegel geschaut hatte, fuhr er rückwärts aus der Parklücke.
„Immer langsam!“, rief Opal, während ihre Hand nach vorn schoss und ihn am Unterarm packte. „Ich bin mit Josie, Sophia und Dominica hier.“
Doch er ignorierte ihren Protest und fuhr weiter auf dem Parkplatz umher, bis er die anderen Scherzbolde aufgestöbert hatte, die gerade dabei waren, auf Carters Heckstoßstange ein Meer zu malen. Lincoln kurbelte sein Fenster herunter und sagte: „Ich habe Opal.“
Da riss Josie, die am nächsten stand, vor Schreck die Augen weit auf und schaute auf die Seite des Jeeps, wo Opals Kunstwerk unverkennbar zu sehen war. „Und was machst du jetzt mit ihr?“ Die Frage kam hoch und piepsig heraus und Josie war vor Angst ganz zappelig.
„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Lincoln. „Das hängt ganz davon ab, wie weit sie den Mund aufreißt.“ Und mit diesen Worten ließ er die Fensterscheibe wieder hochfahren und ließ Josie, die wie ein verängstigtes Kätzchen aussah, einfach stehen, während sich Sophia und Dominica hinter Carters Truck versteckten.
Opal schaute ihre Freundinnen so böse an, wie sie konnte, und formte mit den Lippen lautlos das Wort „Feiglinge“. Dann wandte sie ihren Blick wieder dem missmutigen Fahrer zu. „Hör mal, Linc, es tut mir leid, dass ich deinen Jeep verziert habe. Ich verspreche, dass ich morgen alles abwasche, sodass er wieder schön sauber ist.“
Ihre Hand ging zum Türgriff, und sie machte sich bereit, aus dem Wagen zu springen, sobald er bei der ersten roten Ampel halten musste.
„Nee, ich möchte lieber, dass du die Sache auf andere Art wiedergutmachst.“
Ganz kurz spielte ihr Bauch verrückt, als sie sich das Schlimmste vorstellte. „So eine bin ich nicht, Lincoln Cole. Lass mich auf der Stelle raus! Sofort!“
Doch er schnaubte nur über ihre Forderung und fuhr weiter. Und als sie beim nächsten Stoppschild ankamen, blieb er erst gar nicht vollständig stehen, sodass sie nicht entkommen konnte, es sei denn, sie hätte ihre Fähigkeit testen wollen, sich gekonnt abzurollen. Weil sie wusste, dass sie darin phänomenal scheitern würde, schnallte sie sich endlich an und schnaubte ebenfalls … allerdings aus Protest.
Lincoln schaute die ganze Zeit geradeaus auf die Straße und gab schließlich eine Erklärung ab. „Wenn ich zu Hause eine schlechte Nacht hatte, habe ich das Verdeck vom Jeep abgenommen und bin bei voll aufgedrehtem Radio verlassene, unbefestigte Nebenstraßen entlanggefahren. Kennst du hier ein paar gute verlassene, unbefestigte Nebenstraßen, Opal?“
Sie nahm die verschränkten Arme wieder auseinander und setzte sich ein bisschen aufrechter hin. „Wenn unbefestigte Nebenstraßen meine Verfehlungen wiedergutmachen können, dann leite ich dich durch das gesamte schöne County“, versprach sie.
„Abgemacht“, sagte er. „Ich fahre nur noch rasch bei der Feuerwache vorbei, um dort das Dach abzunehmen, dann kannst du mich lotsen.“
Da wurde sie noch ein bisschen munterer. „Kann ich nicht fahren?“
„Nein, du bist meine Co-Pilotin.“
Da sackten ihre Schultern ein bisschen nach unten, aber sie gab nach. Ihr gelang nur das wahrscheinlich kürzeste Schmollen aller Zeiten, bis sie vor der Feuerwache hielten. Sie fand die Vorstellung, eine Nacht mit Lincoln in der Gegend herumzufahren, angenehmer, als es wahrscheinlich hätte sein sollen, aber ihr flatternder Herzschlag und ihr Lächeln ließen sich einfach nicht unterbinden.
Als sie neben dem zweigeschossigen Backsteingebäude angehalten hatten, stiegen sie beide aus und bauten rasch das Verdeck ab.
„Scheint ja, als würdest du das nicht zum ersten Mal machen“, sagte Lincoln und sah sie an, während sie das Verdeck in den Schuppen trugen.“
„Bubba hat auch einen Jeep.“
„Dein Bruder Kane?“, fragte er, deutete mit dem Kopf auf den Zementboden und fing an, das sperrige Verdeck sinken zu lassen.
„Ja. Ihr beide habt ziemlich viel gemeinsam.“ Sie wischte sich die Hände an den Seiten ihrer Jeans ab und folgte ihm zurück zu seinem Wagen. „So etwas wie das hier haben wir auch in vielen schlaflosen Nächten gemacht.“
„Gut. So kannst du jedenfalls für dieses grellbunte Hippie-Graffiti Wiedergutmachung leisten“, sagte er und schaute demonstrativ auf die Fahrertür seines Wagens, bevor er sie öffnete und einstieg.
Die Tatsache, dass er das Thema ihres Kunstwerkes so schnell kapiert hatte, sorgte dafür, dass Opal kichern musste, bevor sie es unterdrücken konnte. Aber es gab gerade andere dringliche Angelegenheiten, um die sie sich kümmern musste, sodass sie sich ein richtiges Lachen verkniff und versuchte, eine ernste Miene hinzubekommen.
„Ich bin bereit, deine Co-Pilotin zu sein, allerdings nur unter zwei Bedingungen.“
Lincoln packte das Lenkrad mit beiden Händen und schaute grimmig drein.
„Und die wären?“
Sie nahm eines der Haargummis von ihrem Handgelenk und hielt es ihm hin. „Als Erstes musst du dir dein Haar zusammenbinden, damit ich dein Gesicht sehen kann.“
Er nahm das Haargummi, fragte aber: „Was hat denn mein Haar damit zu tun, ob wir auf Nebenstraßen cruisen?“
„Wenn du es unbedingt wissen willst – ich möchte dein schönes Gesicht sehen können.“
Lincoln drehte sich ein bisschen zu ihr hin und sah sie an, aber sein Haar verdeckte immer noch den größten Teil seines Gesichts, als er sagte: „Du siehst zu viel, wenn du mich ansiehst. Das mag ich nicht.“
Seine Ehrlichkeit löste eine Welle von Gefühlen bei ihr aus. „Es ist ja nicht meine Schuld, dass du durch deine Miene so viel preisgibst, aber ich verspreche, dass ich deine Geheimnisse nicht weitererzähle. Die bleiben absolut zwischen dir und mir.“
Er sah sehr müde aus, als er das Haargummi in der Faust verbarg. „Und was ist deine zweite Bedingung?“, fragte er.
„In diesem Teil des Landes ist es nur dann echtes Cruisen, wenn man eiskalte Cola und Erdnüsse dabeihat.“
Opals zweite Bedingung brachte den Mann zumindest dazu, sich in Rekordgeschwindigkeit die Haare zusammenzubinden. „Manchmal mag ich die Art, wie du denkst, Gilbert. Wo ist denn der nächste Laden?“
Die Schwere zog hinauf in den Nachthimmel über ihnen, und das Unbeschwerte seiner Bemerkung sorgte dafür, dass sie bis über beide Ohren grinste, während sie über die Schulter nach hinten zeigte.
„Ungefähr anderthalb Kilometer die Straße hinunter auf der rechten Seite. Und bis zur nächsten unbefestigten Straße sind es dann nur noch anderthalb Kilometer.“
Ohne weitere Diskussion fuhr Lincoln daraufhin in Richtung des Ladens los.
Sie kauften sich jeder zwei Flaschen Cola und eine Packung geröstete Erdnüsse, und während sie darauf warteten, die Sachen zu bezahlen, stieß jemand hinter ihnen einen langen Pfiff aus und sagte: „Ach, sieh mal einer an, wenn das nicht Opalchen ist.“
Opal zuckte zusammen, bevor sie sich umdrehte, und sah, dass sie einem Albtraum aus ihrer Vergangenheit gegenüberstand. „Opalchen? Dein Ernst, Ray? So nennt mich seit der Highschool kein Mensch mehr“, sagte sie und verdrehte die Augen in Richtung des coolen Typen, der keine Gelegenheit ausließ, sie zu verspotten und dadurch andere Blödmänner animierte, es auch zu tun.
Es war nicht einfach, Politikertochter zu sein und außerdem noch ein Freigeist, denn dadurch wurde man leicht zur Zielscheibe. Auch wenn niemand das als Mobbing bezeichnete, war es genau das, was sie aushalten musste, und das alles nur, weil sie nicht so aussah und sich nicht so benahm, wie es die Mehrheit zur Norm erklärt hatte. Aber weil sie nie den Wunsch verspürt hatte, dieser Norm zu entsprechen, bezahlte sie jetzt den Preis dafür, indem sie ständig angemacht, provoziert und mit allen möglichen Bezeichnungen tituliert wurde.
Wenigstens hat er eine nicht ganz so beleidigende Version meiner Spitznamen gewählt, musste sie denken.
„Ach komm schon, Opalchen. Du weißt ganz genau, dass du deinen Spinnerstatus absolut verdient hast, aber ich bin mutig genug, um mich auch mit den Freaks abzugeben. Wie wäre es denn, wenn ich dich auf einen Drink einlade. Aber bitte ohne Spinner-Outfit, ja?“, sagte Ray und lachte, als hätte er etwas Saukomisches von sich gegeben … bis der höchst beeindruckende Mann, der hinter Opal stand, ihr über die Schulter schaute. Rays höhnischer Blick erstarrte, als sich der große Schatten auf sie beide legte.
„Wer sind denn Sie?“, fragte Lincoln mit so viel Nachdruck, dass sogar Opal erschrak.
Sie wollte der Konfrontation ausweichen und machte Anstalten zu gehen, aber da legte sich ihr ein starker Arm um die Taille, und eine Art Muskelwand stärkte ihr den Rücken, sodass sie eine vereinte Front bildeten.
„Ich bin Ray Owens, ein alter Freund von Opal aus der Highschool“, stellte er sich vor und streckte Lincoln die Hand hin, die dieser jedoch ignorierte.
Als Ray den Hinweis verstanden hatte, zog er seine Hand wieder zurück, wischte sich damit über die Stirn und wirkte plötzlich nervös.
„Opal hat nie einen Freund namens Ray erwähnt und ganz sicher auch keinen Idioten, der so blöd ist, ihr einen dermaßen albernen Spitznamen zu geben.“
Daraufhin stieß Ray ein unsicheres, zittriges Lachen aus und sagte kleinlaut: „Jetzt kommen Sie schon, Mann, ich hab doch nur Spaß gemacht. Ich meine … sehen Sie sich doch selbst mal an, über wen wir reden.“ Sein Kopf deutete in Opals Richtung, und sie bekam ganz große Augen.
„Sie können unmöglich die Frau meinen, die gerade vor Ihnen steht, denn sie ist einer der kreativsten und freundlichsten Menschen, die ich kenne. Es wäre besser für Sie, sich das gut zu merken“, sagte er. „Und merken Sie sich außerdem, dass ich nicht zulasse, dass sich jemand ihr gegenüber respektlos benimmt.“
Und weil Lincoln sie sowieso schon festhielt, nutzte er diesen Umstand, indem er sie von Ray wegdrehte und sie aus der unangenehmen und verletzenden Situation befreite, in die der Typ sie gebracht hatte.
Opal war es gewohnt, dass Lincolns starke Persönlichkeit sich gegen sie richtete, und so war es jetzt sehr tröstlich zu erleben, dass er sich gerade als Schutzschild für sie eingesetzt hatte.
Während Lincoln noch ein paar Tüten Süßigkeiten zu den bereits ausgesuchten Sachen packte, und dann bezahlte, blieb Opal ganz still neben ihm stehen. Sie konzentrierte sich ganz und gar darauf, wie gut es sich anfühlte, endlich jemanden zu haben, der sich für sie einsetzte. Klar, sie hatte die Sand Queens und ihre Familie, aber auch Lincoln an ihrer Seite zu haben, war ein ganz neuer Gedanke. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, Kumpel oder fünftes Rad am Wagen zu sein, aber gerade eben hatte sie einen Komplizen gehabt, jemanden, auf den sie sich verlassen konnte, und zwar ohne Wenn und Aber.
Den Arm immer noch fest um ihre Taille gelegt, führte Lincoln sie wieder nach draußen, half ihr beim Einsteigen und schnallte sie sogar noch an. Dann kramte er eine Flasche Cola aus der großen braunen Papiertüte und gab sie ihr.
„Ich hoffe wirklich, dass nichts, was ich jemals zu dir gesagt habe, dich so erniedrigt hat wie das, was dieser Idiot da gerade von sich gegeben hat“, sagte er und atmete einmal tief durch, bevor sich ihre Blicke wieder trafen. „Ich bin wütend auf mich selbst, nicht auf dich. Aber ich glaube, seitdem wir uns kennen, habe ich meine Wut schon recht häufig an dir ausgelassen …“
Und dann beugte sich Lincoln zu ihr herüber und flüsterte ein Geständnis. „Ich bin hierhergezogen, um mich selbst zu finden, aber bis jetzt habe ich mich nur noch mehr verloren.“
Da strich ihm Opal mit der Hand über die Wange, dachte über sein Geständnis nach und als er sich in ihre Berührung hineinlehnte, wusste sie genau, was er brauchte. Es war genau das Gleiche, was sie auch selbst gerade brauchte. „Vielleicht sollten wir ein paar Kilometer Richtung Süden fahren und uns noch ein wenig mehr verlieren. Was hältst du davon?“
Im selben Moment ließen Bedauern und Ängstlichkeit in seinem Blick nach, und ein trauriges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ja, das würde mir gefallen.“
Daraufhin spielte sie großes Erstaunen und sagte: „Endlich! Ich habe etwas gefunden, was Lincoln Cole gefällt!“, und dann stieß sie einen Jubelruf aus und trampelte mit den Füßen auf den Boden.
Darüber schüttelte Lincoln nur den Kopf, aber sein kaum wahrnehmbares Lächeln blieb.
„Mir gefällt auch dieser Duft nach Honig“, gestand er, und Opal hatte das Gefühl, dass dieses einfache Geständnis sehr viel mehr bedeutete als nur diese Worte.
Deshalb sagte sie: „Es ist okay, wenn du mich magst, Lincoln. Ich mag dich auch.“
Die dunkelbraunen Augen schauten sie einen Moment lang an, und es sah aus, als fände in den Blicken, die sie wechselten, gerade ein ausgewachsener Krieg statt. Dann blinzelten sie ein paarmal, bis es ihnen gelang, sich ganz kurz anzulächeln.
Kurz darauf fuhren sie mit voll aufgedrehtem Radio, in dem Countrymusic lief, durch die Gegend. Die Playlist dieser träge dahinziehenden Nacht enthielt den nasalen Gesang von Florida Georgia Line, Lee Brice, Sam Hunt und vielen anderen. Lincoln fuhr niemals schneller als 30 km/h, so als wollte er, dass diese Fahrt nie endete.
Während der Wagen auf einer unbefestigten Nebenstraße langsam dahinholperte, sang Opal einen Lady Antebellum-Song mit, und füllte dabei Erdnüsse in ihre zweite Colaflasche. Mitten im Refrain hörte sie auf zu singen und bemerkte: „Cola sollte eigentlich nur in Glasflaschen abgefüllt werden. Dosen und Plastikflaschen sind ein Verbrechen am Geschmack, findest du nicht auch?“
„Auf jeden Fall!“, bestätigte Lincoln und nickte weiter im Takt des Songs, während er ihr seine Flasche hinhielt. „Könntest du mir auch welche einfüllen?“
„Klar“, sagte Opal, stellte ihre eigene Flasche zwischen ihren Beinen ab und platzierte dann seine auf ihrem Oberschenkel, um Erdnüsse einzufüllen. Als sie sie ihm zurückgab, überraschte Lincoln sie mit einem „Danke“.
„Ganz toll, Linc“, neckte sie ihn. „Das sind doch nur ein paar Erdnüsse, für die du dich bedankst. Und nächste Woche meckerst du dann wieder, wenn du welche unter dem Sitz findest. Ich habe nämlich mehrmals welche verschüttet.“
„Nein, wer hier meckert, wirst du sein, weil du nämlich nächste Woche meinen Jeep einer GR unterziehen wirst.“
„Einer was?“
„Du hast das Chaos angerichtet, innen wie außen, du beseitigst es wieder. Das ist nur gerecht.“
Opal nahm an, dass es sich bei der Bezeichnung wieder einmal um irgendeinen militärischen Begriff handelte, der so viel wie Putzdienst bedeutete. Aber sie schüttelte den Gedanken einfach ab und fragte: „Und wofür bedankst du dich dann bei mir?“
Lincoln trank einen großen Schluck, kaute eine Weile auf den Erdnüssen und antwortete dann: „Für das hier“, antwortete er und deutete mit der Flasche auf die Straße, wo die Scheinwerfer nichts als Bäume und unbefestigtes Gelände anstrahlten.
Normalerweise sagte sie in solchen Situationen etwas Neckendes oder Provozierendes, aber er war endlich aufrichtig und offen mit ihr, und sie schuldete ihm das Gleiche. „Ich weiß, dass ich anders bin als viele Leute, und die meisten Menschen glauben, dafür sorgen zu müssen, dass ich mich deshalb schlecht fühle. Ich weiß wirklich zu schätzen, dass du heute mich und meine Verrücktheit verteidigt hast.“
Er warf ihr einen Seitenblick zu und schüttelte den Kopf. „Du bist nicht verrückt, also hör auf, dich zu benehmen, als wärst du es.“ Dann trank er einen weiteren Schluck, lachte leise und fuhr fort: „Ich bin mir sicher, dass der hübsche Junge da hinten sich beinah in die Hose gemacht hat?“
Dann legte Lincoln den Kopf in den Nacken und lachte über sich selbst, und der Klang seines Lachens wärmte sie durch und durch.
Jetzt war er derjenige, der neckte, und das gefiel Opal ausgesprochen gut. Aber noch bevor sie ihn zurücknecken konnte, wurde er wieder ernst und hielt mitten auf der unbefestigten Straße an.
Seine dunklen Augen zeigten bereits, bevor er es aussprach, dass jetzt etwas Beinhartes kommen würde: „Wenn noch einmal jemand so mit dir spricht, werde ich ganz bestimmt nicht mehr so nett sein wie heute Abend zu dem Typen. Er ist vergleichsweise gut davongekommen.“
Daraufhin nickte Opal nur und beschloss, sich zurückzulehnen und die Situation zu genießen, weil ihr in diesem Augenblick klar wurde, dass Lincoln mehr war als nur ein Freund. Mehr als ein Komplize. Der Mann wurde zu einem Teil ihrer Seele.
Als im Radio Danielle Bradbery anfing „Sway“ zu singen, löste Lincoln die Bremse wieder und fuhr auf der holprigen Straße weiter. Das Auto schaukelte genauso langsam wie die Melodie des Songs, und Opals Nerven beruhigten sich. Sie summte mit und sah, wie eine Sternschnuppe ihre strahlende Bahn über den dunkelvioletten Himmel zog.
„Du hast dir etwas gewünscht, oder?“, neckte Lincoln sie und beendete damit die vielsagende Pause in ihrem Gespräch.
Opal lächelte und schaute weiter in den Nachthimmel. „Na klar.“
Lincoln fragte sie nicht weiter nach ihrem Wunsch, und dafür war sie ihm sehr dankbar. Es hätte ihm nämlich sicher nicht gefallen, dass sie sich mehr solcher Nächte wünschte, die er mit ihr auf unbefestigten Straßen verbrachte und derweil Snacks und Gedanken mit ihr teilte. Und er wollte sicher nicht wissen, dass sich das alles für sie so richtig und gut anfühlte.
Sie fuhren umher, bis die ersten Anzeichen des Sonnenaufgangs den Himmel wärmten. Als Lincoln vor ihrem Haus hielt, schien er zu zögern, gleich weiterzufahren, also saßen sie einfach schweigend da und schauten zu, wie die Sonne über dem Meer aufging. Als sie vollständig zu sehen war, griff Opal in ihre Tasche und holte einen Sanddollar heraus, den sie gefunden hatte, als sie mit den Sand Queens über den Strand geschlendert war.
Sie gab ihn Lincoln und sagte leise: „Einen unbeschädigten Sanddollar zu finden, ist mittlerweile so gut wie unmöglich, aber schau mal, was ich gestern Abend gefunden habe.“
Sie strich mit der Fingerspitze über die durch die Natur entstandenen Rillen auf der schneeweißen Muschelschale in ihrer Hand. „Ich wünsche dir, dass, wo immer deine Suche nach dir selbst endet, du auch so heil bleibst. Du bist ein ebenso seltener Fund, Lincoln Cole, und zwar genauso, wie du bist.“
Als er darauf nichts sagte, beließ sie es dabei und ging ins Haus. Sie spähte noch einmal zwischen den Lamellen ihrer Schlafzimmerjalousie hindurch nach draußen und sah, wie er dort noch lange saß und die Muschel in seiner Hand betrachtete. Allem Anschein nach bot ihm dieses winzige Symbol viel Stoff zum Nachdenken. Ihr aber wurden die Augen schwer, sodass sie sich in ihr Bett kuschelte, ohne sich auch nur einen Schlafanzug anzuziehen, und zum Klang von Countrymusic und dem neuen Geräusch von Lincolns Lachen, das sie immer noch im Kopf hatte, einschlief.