Fabienne Sita, Jahrgang 1986, ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Nach dem Fotodesign-Studium in München und einem Jahr im Ausland arbeitete sie als Art- director im ICF München. Obwohl Fotografie ihre erste große Leidenschaft ist, liebt sie alles, was mit Kreativität, Gestaltung und Kunst zu tun hat. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mittlerweile wohnt und arbeitet sie wieder in der Schweiz.

VON TIEFSTEM SCHMERZ, WAHRER SCHÖNHEIT
UND EINER BEGEGNUNG, DIE ALLES VERÄNDERT.

Fabienne Sita

meinen Mann und meine Töchter,
die ich über alles liebe.

INHALTS-
VERZEICHNIS

Vorwort

Neujahr

Alles neu

Die schwarze Festung

Sturmwarnung

Das Schlachtfeld

Der Frühling bricht an

Das erste Haus

Insel der Unbeschwertheit

Love & miss you

Ich halte dich

Das zweite Haus

Ein Stück Himmel auf Erden

Kontrollverlust

Das dritte Haus

Kontrolle loslassen

Spa-Day

Das vierte Haus

Die Panik

Ein Brief von Gott

Das letzte Haus

Eden

Nachwort

Vielen Dank

VORWORT

Noch bevor ich dieses Buch zu Ende geschrieben hatte, wurde ich öfter gefragt, was für eine Art von Buch ich denn schreibe. Nun, diese Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Ist es ein Roman, eine Biografie, eine märchenhafte Erzählung oder gar eine Vision von Gott? Also etwas Geistliches oder einfach nur Fantasie? Vielleicht nichts davon oder doch von allem etwas.

Was ich jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist: Es ist ein sehr persönliches Buch. Ein Buch über Asche und Eden – Schmerz und Schönheit. Vor allem aber geht es um eine Begegnung, die tiefsten Schmerz heilen und wahre Schönheit hervorbringen kann. Eine Schönheit, die das äußere Erscheinungsbild bei Weitem überschreitet und sehr viel mehr mit Wahrheit, Tiefe und Fülle zu tun hat.

Als Künstlerin liebe ich Gestaltung, Fotografie und Design, und so war es mir ein Anliegen, meine Leser und Leserinnen auch auf eine visuelle Reise mitzunehmen. Die Gestaltung ist deshalb gleichermaßen Teil der Erzählung, denn sie verstärkt das Geschriebene, zeigt Dinge auf, die Worte nicht zu beschreiben vermögen, und offenbart einen Hauch von der Schönheit, die ich selbst gefunden habe.

Die Andersartigkeit dieses Buches ist aber auch im Geschriebenen zu sehen. So besteht das Buch aus Texten, die mein reales Leben beschreiben, Gedichten und lyrischen Kurztexten, in denen ich Schweres und Schönes auf wenige, wirkungsvolle Worte heruntergebrochen habe, und dann sind da noch die Kapitel, die ich selbst als eine Art Tagtraum bezeichnen würde. Es sind Szenen oder vielmehr eine ganze Geschichte, die sich vor meinem inneren Auge abgespielt hat. Diese begleitete mich über mehrere Monate hinweg, in denen ich mich immer wieder auf diese innere Reise begab und so Neues sehen, erkennen und erfahren konnte.

Es ist für mich nicht von Bedeutung, festzulegen, ob es sich dabei tatsächlich um Visionen von Gott handelte oder ob sie ausschließlich meiner eigenen Fantasie entsprungen sind. Fest steht: Sie haben so viel Heilung, Veränderung und Schönheit in mein Leben gebracht, dass es für mich Grund genug ist, an den Einen zu glauben, der alles in seiner Hand hält – und der durchaus auch auf ungewöhnlichen Wegen zu uns sprechen und unser Herz berühren kann.

Schon in meinem ersten Buch „Die Treppe“ habe ich dreißig solcher „Tagträume“ niedergeschrieben. Doch während dieser „inneren Erlebnisse“ war ich nie allein. Da war einer, der mich stets begleitet hat, „der Mann in Weiß“. Er war auch nun wieder treu an meiner Seite und wird dir in diesem Buch noch einmal begegnen.

Mir ist bewusst, dass dieses Buch für manche etwas märchenhaft daherkommen mag oder dass sie es als anmaßend empfinden, eine Begegnung mit Gott auf diese Art zu beschreiben. Doch ich ermutige dich, dich auf die Geschichte einzulassen, ohne sie zwanghaft irgendwo einordnen zu wollen.

Ich persönlich wünsche mir jedenfalls zutiefst, dass dieses Buch dich tröstet, ermutigt, inspiriert und dein Herz berührt.

NEUJAHR

Neue Hoffnung machte sich breit. Das neue Jahr hatte gerade begonnen und ich hoffte, dass es mir bessere Zeiten bringen würde als das letzte. Doch es war kein Neujahrsstart, wie ich ihn sonst erlebte.

Das Feuerwerk erinnerte mich schmerzlich daran, wie vergänglich und kurz unser Leben doch ist. Kaum strahlt es auf, verpufft es wieder und verschwindet in der dunklen Nacht … Gute Vorsätze und Wünsche, wie mehr Sport zu machen, sich gesünder zu ernähren oder mehr Zeit für das eine oder andere Hobby zu haben, erschienen mir geradezu lächerlich. Denn ich wünschte mir nur das Eine.

Es war mir mehr als bewusst, dass dieses Jahr nicht wie jedes andere werden würde. Das war unmöglich. Es gab nur Heilung oder Schmerz, Gottes Eingreifen oder sein Schweigen, Leben oder Tod. Kämpfen, Beten und Hoffen wurden deshalb meine einzigen Vorsätze für das neue Jahr, denn noch war der schwere Kampf weder gewonnen noch verloren.

Es war, als hätte Gott persönlich mir den Auftrag gegeben, Tag und Nacht für meine Schwägerin zu beten. Und was ich bisher nur als Redewendung kannte, wurde zu meinem Alltag. Ich war mir so sicher, dass es ein Wunder geben musste. Alles andere war inakzeptabel, nach allem, was wir schon erlebt hatten.

Aber was, wenn Gottes Plan für sie nicht ihre Heilung, sondern ihren Tod beinhaltete?

Ununterbrochen schickte ich meine Gebete in den Himmel. Schreiend und hoffend. Gab es doch so viele Geschichten in der Bibel, die mir die Realität von Heilungen und Wundern vor Augen malten. Und auch ich selbst hatte schon so viele innere Bilder und hoffnungsvolle Gedanken beim Beten bekommen, die ein bevorstehendes großes Wunder erahnen ließen.

Aber was, wenn ich mich auf die Art und Weise, wie und was ich glaubte und hoffte nun nicht mehr verlassen konnte? Was, wenn ich mich gerade jetzt, wo ihr Leben auf dem Spiel stand, doch täuschte?

Was, wenn nicht meine Schwägerin, sondern der Krebs gewinnen würde? Was, wenn gerade sie, eine der stärksten, schönsten und mutigsten Frauen, die ich kenne, deren Glauben an Gott schon so viele andere inspiriert hatte, so früh von uns gehen müsste?

Ich ertrug den Gedanken kaum, wollte weiter glauben und daran festhalten, dass Gott es gut mit uns meinte. Also hoffte ich weiter, betete noch mehr und kämpfte, als gäbe es kein Ende.

Doch dann kam das Ende.

Leer, betäubt und unfähig zu denken, packte ich die schwarzen Kleider in den Koffer.

Wie erstarrt vor Schmerz stand ich vor ihrem Zimmer, nahm noch mal alle Hoffnung zusammen. Ich wollte daran glauben, dass dem einen, der Himmel und Erde geschaffen hatte, alles möglich war und er sogar jetzt noch ein Wunder tun konnte. Doch das Zimmer, das ich zuletzt betreten hatte, als alle um ihr Bett herum versammelt gesessen und Gott angefleht und angebetet hatten, war – leer. Sie war nicht mehr da. Ich sah ihre körperliche Hülle, doch sie selbst war gegangen.

Ich zerbrach.

Mehrere Monate waren inzwischen seit dem Tod meiner Schwägerin vergangen, doch ich fühlte mich immer noch wie gelähmt. Das Leben hatte seinen Sinn verloren und von Freude und neuem Lebensmut war weit und breit keine Spur. Ich zerrte mich selbst durch ein düsteres Labyrinth, das keinen Ausgang zu haben schien.

ICH FÜHLTE MICH VERLOREN IM LEBEN UND GEFANGEN IN MEINEM SEIN.

An so vielen Tagen hoffte ich, einfach wie aus einem bösen Traum aufwachen zu können; hoffte, Krankheit, Angst und Tod einfach vergessen zu können. Doch noch bevor ich meine Augen öffnete, schossen die Bilder von der Intensivstation, dem letzten Besuch, der letzten Umarmung und dem Moment, in dem mir die am meisten gefürchtete Nachricht überbracht wurde, wie ein Kugelgewitter auf mich ein. Mir wurde übel, aber das kannte ich schon. Seit Monaten war mir übel vor innerem Schmerz über den furchtbaren Krankheitsverlauf bei meiner Schwägerin und aufgrund der Angst, dass mein schlimmster Albtraum in Erfüllung gehen und sie tatsächlich sterben könnte.

Eine Wiederholung oder Fortsetzung des Traumas, das ich schon als Jugendliche erlebt hatte: die Krebsdiagnose, die Besuche auf der Intensivstation, das angstvolle Warten auf die nächste Nachricht. Dann der letzte Blick, die letzte Umarmung – und der Tod meines Vaters. Derselbe Schmerz übermannte mich nun wieder. Ich wünschte, ich hätte – wie nach ein paar Gläsern zu viel – die Übelkeit durch Übergeben beenden und die Schmerzen durch eine Tablette Aspirin lindern können.

Doch es gab kein Heilmittel für den Verlust und die Leere. Die Übelkeit blieb und Traurigkeit legte sich jeden Tag aufs Neue wie ein schwarzer Schatten über meine Seele.

Jeden Morgen fiel es mir schwer, aufzustehen und schon die alltäglichen Dinge brachten mich an meine Grenzen. Am schlimmsten waren jedoch die langen, dunklen Nächte. An Schlaf war nicht zu denken und Angst, Hoffnungslosigkeit und Panik wurden meine ständigen Bettgenossen.

Ich wusste nicht, wie ich dieses tiefe Tal jemals wieder verlassen, geschweige denn wieder Freude, Schönheit und Sinn in meinem Leben finden sollte. Gebetet und um Gottes Eingreifen gefleht hatte ich mehr als genug.

Aber Gott schwieg.

Ich schwieg.

Die Stille dauerte Tage, Wochen, Monate. Ich wusste nicht, worauf ich überhaupt wartete, aber ich hatte weder Kraft noch Lust, auch nur ein einziges Gebet zu formulieren. Also schwieg ich weiter.

Als ich kaum noch mit Gott rechnete, erschien ein Satz immer und immer wieder in meinen Gedanken:

„SIEHE, ICH MACHE ALLES NEU.“

Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Schwägerin regte sich etwas in mir. Ich spürte eine Sehnsucht nach wahrer Veränderung. Die zarte Hoffnung auf einen Neuanfang.

Doch sie hielt nicht lange an und wurde immer wieder durch den Gedanken abgelöst: Aber was, wenn ich mich schon wieder täuschte? Und dieser Satz nicht von Gott kam?

Das Hoffen auf etwas Neues wechselte sich ab mit der Angst vor der nächsten Enttäuschung. Ich wusste nicht, wem ich überhaupt noch Glauben schenken konnte.

Nach ein paar Tagen googelte ich die Aussage „Siehe, ich mache alles neu“ und stieß dabei auf einen mir bekannten Bibelvers aus Jesaja. Er steht dort in dem Kontext, dass Gott neues Leben in der Wüste entstehen lässt. Das Bild und alles, was man damit in Verbindung bringen konnte, hätte gut zu meiner Lebenssituation gepasst. Doch ich hatte das Gefühl, dass es nicht der „richtige“ Vers war. Der Wortlaut, den ich im Kopf hatte, war anders. Also suchte ich weiter und stieß schließlich auf Offenbarung 21,5:

„Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!“

Die Worte sprachen mitten in mein Herz. Etwas in mir wurde angestoßen. Etwas, das ich lange nicht mehr gespürt hatte. Noch wusste ich nicht, was mich in der kommenden Zeit erwarten würde, aber meine Intuition sagte mir, dass der Vers von größerer Bedeutung war, als ich mich zu hoffen traute.

Der Vers wirkte noch lange nach, und je mehr ich ihn in mir bewegte, desto klarer wurde mir, dass er möglicherweise mein ganzes Leben verändern würde. Ich hatte das Gefühl, mich auf eine große OP „am offenen Herzen“ vorzubereiten, die für mich gleichermaßen schmerzhaft wie heilsam werden würde.

Es war ein gewöhnlicher Samstag. Mein Mann war mit den Kindern in den Zoo gefahren, um mir einmal eine Pause zum Durchatmen zu verschaffen. Ich hatte es mir mit meinem Kaffee auf dem Sofa gemütlich gemacht und für einen Moment mit geschlossenen Augen innegehalten, als sich vor meinem inneren Auge langsam Bilder formten und sich zu einer Art Film verwoben.

Der Tag war gekommen: Die Operation an meinem Herzen stand mir bevor. Ich hatte Angst. Ich hasste Krankenhäuser, und allein bei dem Gedanken an sterile Räume, Schläuche, piepende Maschinen und Ärzte mit Mundschutz bekam ich regelrecht Panik. Zu gut kannte ich Intensivstationen von innen. Schon als Kind wurde ich damit konfrontiert. Damals, als ich in das tränenüberströmte Gesicht meiner Mutter blickte, während sie uns von einer Operation meines Vaters im Krankenhaus erzählte, der nun auf der Intensivstation lag.

Und nun lag es nicht mal zwei Jahre zurück, seit auch meine zweite Tochter viel zu früh zur Welt gekommen war und ich, wie schon bei meiner ersten Tochter, stundenlang neben dem kleinen Bettchen auf der Intensivstation wachte, dem Piepsen der Monitore lauschte und betete, dass diese nicht wieder Alarm schlugen und ich um das Leben meines kleinen Babys bangen musste. Diese Räume hatten in meinem Leben bisher nur Schmerz, Leid und Tod gebracht.

Gleichzeitig hatte ich es satt, innerlich einfach nicht heil zu werden – obwohl ich doch den größten Heiland kannte. Ich wollte endlich erleben, dass sein Friede mein Herz erfüllte – auch schon hier, auf dieser kaputten Erde.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Mann in Weiß auf mich zukommen sah. Ich kannte ihn schon. Er war mir vor langer Zeit zum ersten Mal begegnet. In einer inneren Vision auf der Treppe zum Thronsaal Gottes. Seitdem hatte er mich durch viele Krisen und tiefe Täler begleitet, aber er war mir auch an sonnigen Orten nicht von der Seite gewichen. Wir hatten zusammen gelacht und zusammen geweint. Er kannte meine Gedanken, meinen Schmerz, meine Höhen und meine Tiefen. Er war weise, freundlich und geduldig, und sein liebevoller Blick vermochte tiefe Wunden zu heilen. Er war mein Freund, mein treuer Begleiter und Ratgeber geworden, und ich war gern in seiner Gegenwart. Denn dort fühlte ich mich sicher und geliebt.

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihn sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Nach allem, was passiert war, hatte ich mein Herz vor ihm verschlossen und nicht mehr zugelassen, dass er in meine Nähe kam.

Ich wurde kreidebleich. Schweiß brach mir aus allen Poren und meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Der Mann in Weiß kam näher. Sein Blick ruhte auf mir und zeigte so viel Mitgefühl, wie es nur jemand aufbringen kann, der selbst durch die Hölle gegangen war. Er nahm meine Hand in seine und legte seinen Arm um mich – gerade noch rechtzeitig, bevor meine Knie aufgaben und ich in mich zusammensackte. Tränen liefen mir über die Wangen und ich ließ meine Augen fest zusammengekniffen, in der Hoffnung, dass alles schnell vorbeigehen würde.

Die Angst lähmte mich so sehr, dass ich mich ohnmächtig fühlte und nicht mehr aufstehen konnte. Also trug mich der Mann in Weiß und barg mich in seinen Armen. Anstatt des beißenden Geruchs von Desinfektionsmittel machte sich plötzlich der Duft von frischem Gras und Frühlingsblumen um mich herum breit. Eine warme Brise wehte und der zarte Duft umhüllte mich wie eine weiche Sommerdecke. Ich hielt die Augen immer noch geschlossen, doch ich spürte, wie sich mein Atem langsam beruhigte. Und je ruhiger ich wurde, desto tiefer konnte ich diese herrliche Frische einatmen.

Bisher hatte auch das grelle Licht meine Augen geschlossen gehalten. Es mussten die kalten Neonröhren über dem Operationstisch gewesen sein. Aber merkwürdigerweise trug der Mann in Weiß mich weg von dem grellen Licht und legte mich in den Schatten auf einen weichen Untergrund. Er fühlte sich wunderbar kühl und gleichzeitig wärmend an.

Plötzlich spürte ich sanfte Berührungen. Als wäre ein Schmetterling auf der Suche nach kostbarem Nektar auf mir gelandet, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen. Es musste tatsächlich ein Schmetterling sein. Ich spürte seinen sanften Flügelschlag, der wie ein Hauch des Himmels mein verletztes Herz das erste Mal seit Langem endlich einmal zur Ruhe kommen ließ.

Die sanften Bewegungen der Schmetterlingsflügel lösten, was in mir starr und hart geworden war, und fächerten mir eine zarte Hoffnung zu: Auf einmal spürte ich, dass Heilung möglich war. Meine verkrampften Hände lösten sich langsam und Entspannung machte sich in meinem ganzen Körper breit. Meine sonst so rastlosen Gedanken trauten sich, einen Moment zu verweilen, und meine Seele atmete auf.

Nachdem ich lange Zeit einfach nur so dagelegen hatte, schreckte ich plötzlich auf. Die Zeit in diesem offensichtlich sehr angenehm gestalteten Wartezimmer kam mir sehr lange vor, obwohl das ja eigentlich nichts Neues war. Außerdem wusste ich noch von meinen letzten Erlebnissen mit dem Mann in Weiß, dass ich in seiner Gegenwart ohnehin ein ganz anderes Zeitempfinden hatte, das nichts darüber aussagte, wie viel Zeit im realen Leben schon vergangen war. Aber bestimmt ging der Albtraum gleich los.

Ich spürte, wie sich mein ganzer Körper innerhalb kürzester Zeit wieder verkrampfte und sich die Angst in mein Herz zurückschlich. Da hörte ich seine vertraute Stimme: „Liebes, schau mich an!“

Ich öffnete ganz langsam meine Augen und blickte zum ersten Mal in die seinen. Alles, was ich darin sah, war unendliche Liebe, sein bewegtes Mitgefühl und übernatürlicher Frieden. Ich verlor mich in der Tiefe seines Blickes. Er war beruhigend, ehrlich und auf außergewöhnliche Art und Weise wunderschön. Alles Schöne und Edle dieser Welt schien sich in seinen Augen zu vereinen und zu spiegeln.

Allein dieser Blick in die Augen des Mannes in Weiß hätte mir genügt, um mich wieder zu beruhigen, doch dann sagte er noch in seiner ruhigen, liebevollen Art: „Schau dich um, vertrau mir.“

Ich war definitiv nicht auf einer Intensivstation gelandet. Ich befand mich nicht einmal mehr in einem Gebäude, geschweige denn auf einem Operationstisch. Stattdessen lag ich im Schatten einer großen Trauerweide auf einer bettgroßen Fläche, die mit weichem, tiefgrünem Moos überwachsen war. Einzelne kleine, weiße Blumen unterbrachen das satte Grün. Der Wind wehte sanft durch die herabhängenden Äste, und das Rauschen der tanzenden Blätter und das leise Zwitschern der Vögel wirkten beruhigender als jedes Spa-Erlebnis.

Diese herrliche Trauerweide, ein Baum, dessen Name Trauer und Schmerz in sich barg und der gleichzeitig so viel Schutz und Schönheit bot, barg nun mich. Die Trauerweide hatte eine melancholische Wirkung auf mich; es wirkte beinahe so, als würde sie mein tiefstes Leid verstehen und mich umarmen wollen.

EINE WEIDE, UM ZU TRAUERN.

Der Anblick des Baumes berührte mich zutiefst, denn ich spürte, hier war Raum und Zeit für meine Trauer. Die Sonne stand mittlerweile schon sehr tief und ihre letzten, goldenen Strahlen glitzerten wie kleine Funken auf den Blättern. Erst als sie schließlich ganz unterging, sah ich, dass in den Ästen der Trauerweide überall kleine Lichter und Girlanden aufgehängt worden waren. Das zarte Lichtermeer, verwoben in den tanzenden Blättern, wirkte magisch. Das alles erinnerte mich mehr an eine wundervolle Geburtstagsfeier als an eine OP.

„Du hast recht“, unterbrach der Mann in Weiß meine Gedanken. Und so, wie ich es schon oft erlebt hatte, schien er auch diesmal genau zu wissen, was mich beschäftigte. „Die Zeit auszuhalten, bis etwas Neues ausgetragen ist, kann sich genauso anfühlen wie eine Geburt – oft ist es ein langer und schmerzhafter Prozess. Aber wenn man sich auf ihn einlässt und sich dem Schmerz stellt, wird neues Leben möglich. Der Weg dorthin scheint manchmal unmöglich und unendlich, aber wenn man es durch den Schmerz hindurchgeschafft hat, beginnt eine neue Ära, entsteht Raum für Erneuerung.“

Es fühlte sich tatsächlich ähnlich an wie die Geburten meiner beiden Töchter. Der Weg dorthin war anstrengend und schwer gewesen und die Schmerzen während der Geburt kaum aushaltbar, doch sobald sie das Licht der Welt erblickt hatten, war jeglicher Schmerz wie weggeblasen und die großartigsten und wundervollsten Geschenke des Himmels lagen in meinen Armen. Sie waren jeden Schmerz wert.

Und genau wie im Kreißsaal, trafen sich auch hier, unter dieser Trauerweide, Schmerz und Verletzlichkeit mit einer tiefen Ehrfurcht und Freude über etwas Neues, das ich weder in Worte fassen konnte noch richtig kennengelernt hatte.

Ich konnte mir nach wie vor nicht vorstellen, wie wahre Heilung und Veränderung in meinem Inneren möglich sein sollte, doch ich spürte ganz deutlich: Etwas Neues hatte begonnen.

DIE SCHWARZE FESTUNG

Sosehr ich mir wünschte, dass „alles neu“ werden würde, so gut wusste ich auch, dass dies kein Prozess war, den man von heute auf morgen würde abschließen können, sondern dass ich für wahre Veränderung erst einmal in die Tiefe gehen musste.

In meinem Innersten hatte sich über die Jahre hinweg so etwas wie eine schwarze Festung gebildet, die verhinderte, dass ich mich meinem größten Schmerz und meinen tiefsten Verletzungen stellen musste. Ich versuchte, alles, was mir zu viel, zu schwer und zu schmerzhaft war, dorthin zu verbannen – aus Angst, daran zu zerbrechen. Diese Festung schien zunehmend die einzige Option zu sein, um mein Leben zu leben, ohne an dem Leid darin kaputtzugehen. Deshalb war sie auch so gut bewacht.

Vor ihren Toren hatte sich eine Löwin niedergelassen – bereit, den Zugang zu meiner verletzten Seele zu verteidigen, als wäre es ihr schutzloses Jungtier. Je mehr Schmerz die Festung in sich einschloss, desto wild entschlossener wurde die Löwin, sie bis zum bitteren Ende zu verteidigen. Die Löwin stand für mich für eine Emotion, die ich früher nicht zu meinen Eigenschaften gezählt hätte: Wut.

Ich war sensibel – ja, vielleicht sogar mit einem Hang zum Dramatischen veranlagt, aber wütend gehörte nicht zu den Beschreibungen meiner Persönlichkeit. Doch völlig überfordert vom Leben und dem Schmerz, schien es, als wäre Wut die einzige Emotion, die stark genug war, um mein Innerstes zu bewachen und mir die Kraft zu geben, irgendwie weiterzumachen. Und so brüllte und fauchte die Löwin in mir wütend auf, sobald ihr jemand zu nahekam oder noch mehr dazu kam.

Beruhigte sich mein Leben wieder, legten sich auch die heftigen Emotionen, und ich vergaß, dass sie etwas in meinem Innersten verteidigten, das ich schon lange gekonnt zu ignorieren vermochte. Nach außen hin konnte ich meine Wut lange Zeit gut verbergen und wirkte nach wie vor eher ruhig und zurückhaltend. Doch in den letzten Jahren hatte die schwarze Festung in mir immer mehr Raum eingenommen.

Für eine lange Zeit hatte das gut funktioniert und meine Seele war trotz dem einen oder anderen Sturm um mich herum ruhig geblieben. Doch nun hatte sich der Wind gedreht und die Wut platzte immer häufiger aus mir heraus. Nach und nach wurde meine Stimme lauter als gewollt, meine Belastbarkeit geringer als zuvor, und immer öfter musste ich alle Kraft zusammennehmen, um die Wut auf mich selbst, das Leben und Gott zurückzuhalten.

Doch der Wind nahm weiter an Stärke zu, bis ich den Sturm nicht mehr in den Griff bekam. Plötzlich fühlte es sich so an, als würde das Leben von allen Seiten auf mich einschlagen. Das Weinen der Kinder, das vernichtende Feedback zu meiner Arbeit, das ich in meinem vermeintlichen Traumjob bekam, die ständige Erschöpfung, der erneute Krebsfall in meiner Familie, die depressiven Gedanken, das Versagen als Mutter, Ehefrau und Freundin, das Gefühl, einfach nicht mehr ich selbst zu sein – das Fass war voll.

So oft wünschte ich mir, man könnte die Wut wie ein paar alte Porzellanteller an die Wand schmettern und die Scherben danach einfach zusammenkehren, in den Müll schmeißen und wieder bei null anfangen. Doch so einfach war es nicht. Ich wusste nicht mehr weiter, nur eines: dass der Weg der Heilung unausweichlich an der Wut vorbei und mitten in die Festung führen musste.

Doch wie sollte ich das Tor zu dem ganzen Schmerz öffnen, ohne daran zu zerbrechen? Wie konnte ich meiner verletzten Seele Gehör verschaffen, ohne dass es mir selbst zu viel werden würde? Was, wenn etwas das Fass zum Überlaufen brachte?

Und dann … kam der Tod meiner Schwägerin. Und es war, als würde ich zuschauen, wie der letzte große Tropfen in Zeitlupe fiel.

Es ist Februar 2020. Draußen tobt der Sturm. „Orkan Sabine“ nennen sie ihn, und die höchste Warnstufe wurde ausgerufen. So etwas hatte es in der Schweiz noch nie gegeben.

Wie geht man mit einem Sturm dieser Stärke um?

Es werden Maßnahmen ergriffen, Straßen gesperrt und Ersatzbusse eingesetzt. Müll wirbelt durch die Straßen, der Regen wechselt sich mit Hagelkörnern ab. Sie prasseln gnadenlos auf jeden herab, der sich nicht schnell genug in Sicherheit bringt. Dann plötzlich Stille. Ist es vorbei? Nein, nur eine kurze Verschnaufpause, bevor der Sturm mit neuer Kraft weiter über das Land fegt. Er wütet ohne Rücksicht auf Verluste. Seine Kraft ist gigantisch, nicht zu bändigen. Sie macht Angst.

Meine Tochter fragt mich, woher der Sturm kommt und wann er wieder geht. Ich sag ihr, dass er bald vorbei sein soll.

Aber was, wenn der Sturm draußen nur ein Bruchteil von der Wucht des Sturms ist, der in mir drin tobt? Was ist mit dem Sturm, der keinen Namen trägt und in meinem Innern wütet?

Ich sage mir, dass der Sturm bald vorbei ist.

Es war inzwischen beinahe ein Jahr her, seit meine Schwägerin verstorben war, doch noch immer war ich so wütend auf Gott und das Leben und fühlte mich verloren. Ich wusste nicht, wie ich diese starken negativen Emotionen loslassen und weitermachen sollte, also holte ich mir Hilfe von einer ausgebildeten Seelsorgerin.

Ich saß auf einem für mein Empfinden viel zu pinken Sofa, mir gegenüber die Seelsorgerin. All meine Erwartungen und Hoffnung sowie meine Angst vor einer Enttäuschung hingen spürbar über uns im Raum. Dann bat sie mich, die Augen zu schließen, und fragte mich, was ich vor meinem inneren Auge sah. Eine beängstigende Szenerie tat sich vor mir auf:

Ich befand mich auf einem Schlachtfeld, auf dem ein schrecklicher Krieg stattgefunden haben musste. Ich selbst war verwundet und dreckig. Meine Kleider waren zerrissen und hingen nur noch in Fetzen an meinem Körper herab. Das Feld war verwüstet und verlassen. Es sah furchtbar aus. Und ich, ich war mutterseelenallein.

Ständig erschien das Wort „Safety Place“ (zu Deutsch: sicherer Ort) in meinem Kopf. Eine Sirene heulte und das Wort erschien erneut. Ich sah mich um und suchte nach diesem sicheren Ort, sehnte mich nach der verheißenen Geborgenheit, denn ich fühlte mich ausgeliefert und schutzlos.

Ich drehte mich um und entdeckte einen Bunker, über dem ein Schild mir „Safety Place“ auswies. Er war aus grauem Beton, kahl, trist, ungemütlich und verlassen. Ein Bunker eben. Da wollte ich ganz sicher nicht rein. Aber wo sonst sollte ich hin, um mich sicher zu fühlen?

Eine durchsichtige Kuppel umgab das gesamte Schlachtfeld. Sie schien aus Glas zu sein. Ich fühlte mich wie in einer riesigen billigen Schneekugel gefangen, der jedoch jeder schöne Kitsch fehlte. Statt umgeben von einem zauberhaften Schneetreiben zu sein, fühlte ich mich in dieser öden Landschaft wie auf dem Präsentierteller an fremde Blicke ausgeliefert.

Ich schaute mich um, doch es war niemand zu sehen. Außerhalb der Kuppel konnte ich nun den Mann in Weiß erkennen. Er feierte gemeinsam mit anderen offensichtlich einen Sieg. Mir war jedoch nicht zum Feiern zumute, denn wer das Schlachtfeld gesehen hatte, konnte erahnen, wie schlimm der Kampf gewesen sein musste.

Ich wollte nicht zu den anderen und auch nicht, dass der Mann in Weiß zu mir kam. Ich war unendlich wütend auf ihn. Er hatte das alles zugelassen. Er hatte nichts unternommen, um das Schreckliche zu stoppen. Offensichtlich kannte er mich doch nicht. Sonst hätte er gewusst, dass diese Last zu schwer für mich war. Ich wollte nichts mehr von ihm wissen. Er sollte bloß da stehen bleiben, wo er war. Weit weg von mir. Getrennt durch eine unsichtbare Wand.

Plötzlich hatte ich ein Stahlseil mit einer Eisenkugel in meiner Hand. Ich schwang es um mich herum. Ich war so wütend. Ich wollte irgendwas zerstören, aber es gab weit und breit nichts mehr auf dem Schlachtfeld, das ich noch hätte treffen und woran sich meine Wut hätte entladen können. Also drehte ich mich einfach immer weiter – in der Hoffnung, die Eisenkugel möge doch noch auf irgendetwas treffen.

Auf einmal sah ich meine Familie auf dem Schlachtfeld. Wo kamen die denn plötzlich her? Ich wusste: Sobald sie sich in meine Richtung bewegen würden, würde die Kugel sie treffen und verletzen. Ich versuchte, das Schwingen der Kugel zu unterbrechen. Aber es hatte bereits zu viel Wucht und war nicht mehr zu stoppen.

Dann sah ich, wie der Mann in Weiß auf einmal ebenfalls innerhalb der Kugel war und zu meinen Kindern und meinem Mann kam und sie in Sicherheit brachte – in den Bunker. Durch ein kleines Fenster blickten sie zu mir herüber. Ich spürte, dass sie eigentlich wieder nach draußen, in meine Nähe, wollten. Aber der Mann in Weiß hielt sie zurück und schien sie zu beruhigen.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Würde ich die Kugel einfach loslassen, würde sie die Glaskuppel über mir zerstören und mich unter einem Regen aus Scherben begraben. Wenn ich das Stahlseil allerdings weiterhin nicht loslassen würde, würde ich früher oder später alles zerstören, was mir in die Quere kam.

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Mein Herz blieb beinahe stehen, als ich sah, dass der Mann in Weiß den Bunker verlassen hatte und jetzt auf mich zukam.

Ich schrie ihn an, dass er bloß nicht näherkommen solle. Ich war so wütend auf ihn! Aber schlagartig wurde mir bewusst, was meine Wut und das Seil mit der schweren Eisenkugel gleich anrichten würden … In der ersten Drehung streifte die Kugel ihn nur, aber er blutete im Gesicht. Trotzdem ging er weiter. Die Kugel drehte eine weitere Runde und traf ihn diesmal mit voller Wucht.

Ich war erstarrt vor Schreck. Die Kugel kam auf dem Boden zu liegen. Ich hielt immer noch das Seil in der Hand. Ich konnte kaum aufschauen. Doch der Mann in Weiß stand nur still da. Alles war still geworden. Merkwürdigerweise war es jedoch keine unheimliche Stille, einfach nur Stille. Dann wagte ich es und blickte zu ihm auf. Er schaute mich einfach nur an. Er forderte nichts, er ertrug einfach. Er musste unglaubliche Schmerzen erlitten haben, doch in seinen liebevollen Augen war kein Schmerz, kein Funke von Wut, Enttäuschung oder Abneigung mir gegenüber zu finden. Im Gegenteil: Sie strahlten unendliche Liebe aus.

Ich ging rückwärts an den Rand der Kuppel, erschöpft und leer. Zum ersten Mal seit Langem empfand ich nichts – keine Wut, keine Überforderung, keinen Schmerz, keine Trauer. Nichts.

Plötzlich brach ein helles Licht durch die Decke der Kuppel. Es war, als würde Gott höchstpersönlich, der Schöpfer der Welt, die Sonne wieder neu aufgehen lassen – so, als wäre nichts passiert, so, als wäre alles vergessen, was ich gerade getan hatte. Ein neuer Tag hatte begonnen.

Die Oberfläche der Kuppel schimmerte, als die Sonne sie wärmte, und begann langsam zu schmelzen. Offensichtlich war sie nicht aus Glas, sondern aus Eis gewesen. Nun floss ihr Tauwasser über meinen Körper und wusch den ganzen Dreck ab.

Noch immer wollte ich nicht, dass der Mann in Weiß oder meine Familie mir näherkamen. Doch langsam spürte ich, wie die warmen Strahlen der durchgebrochenen Sonne mich wie ein weiches frisches Handtuch trockneten.

Nach einer Weile stand ich auf, behielt den Kopf jedoch immer noch gesenkt. Da spürte ich eine behutsame Berührung, als wehte ein zarter Wind durch mein Haar. Ich wusste sofort, wer das war. Ihre Sanftheit und ihr tiefes Mitgefühl berührten mein Herz, ohne dass ich sie ansah: Ruach.

Sie war wie eine Tänzerin, so anmutig, feinfühlig und zart, dass sie die Einzige war, die mir in diesem Zustand so nahekommen konnte. Sie legte einen leichten, weißen Mantel um mich. Er war kaum zu spüren und beinahe durchsichtig, und doch bedeckte er mich vollständig und ein Gefühl von neuer Würde kleidete mich.

UND ZUM ERSTEN MAL SEIT LANGEM ATMETE ICH TIEF EIN UND WAR EINFACH.

Auch wenn ich ein Mensch bin, dem starke Emotionen grundsätzlich wenig Angst machen, beschäftigte mich das heftige Bild aus der Seelsorgesitzung noch eine ganze Weile. Die tiefen Abgründe meiner verletzten Seele so bildlich vor mir zu sehen, war für mich hart und äußerst unangenehm.

Doch je länger ich darüber nachdachte und je mehr ich mit anderen darüber sprach, desto größer wurde mein Bewusstsein für die unendliche Liebe und Kraft Gottes, die in diesem Bild steckte. Der Mann in Weiß hatte mich – im Gegensatz zu mir selbst – nicht im Geringsten verurteilt für all die negativen Gedanken und Gefühle, die aus mir herausgebrochen waren.