Eiseskälte. Klarer Himmel. Es barst die Luft. Es müßte oben in zehn Kilometern Höhe noch viel schlimmer sein. Der Adler tauchte in die Wolkenschicht hinein und verschwand für immer. Keine Geräusche. Nur Pol. Polgeräusche. Am Nordpol gibt es ein einzigartiges Audio-Erlebnis. Man hört deutlich, wie das eigene Blut durch die Adern fließt und die Herzkranzgefäße umspielt. Dazu das Arbeiten der Klappen. Wenn man genau auf dem Pol steht, bemerkt man von der ungeheuren Geschwindigkeit, mit der die Erde sich dreht, nichts. Kein Zittern der Beine oder gar Wegdriften, wie bei einem Kinderkarussell. Einfach nichts. Die Sinne sind wie eingeschlafen. Weiß, weiß, weiß, wo das Auge hinblickt. Und das im Sommer. Ich war der einzige, der es bis dahin geschafft hatte. Die zerrissenen Seidenfetzen des geplatzten Heißluftballons lagen verstreut auf der Eisplatte, die sich bis zum Horizont erstreckte. Der Korb, in dem ich vor ein paar Minuten noch gestanden hatte und verzweifelt der Flamme Luft zugefächert hatte, stand schräg neben mir, einen halben Meter tief im Eis versenkt. Jetzt war ich am Ausgangspunkt meiner Reise angekommen. Hier sollte meine Reise um den Globus beginnen. 18 Monate hatte ich daran gearbeitet, Tag und Nacht, um zielgenau auf dem Pol zu landen. Der Rechenschieber war abgenutzt, meine Vorstellungskraft hatte mir in den letzten Tagen vor dem Abflug immer und immer wieder vorgegaukelt, wie es denn hier so aussieht. Ich bin eines Besseren belehrt. Hier sieht es auf keinen Fall so aus, wie man sich das als normaler Mensch vorstellt.
Ich dachte nach. Scott hatte angeblich den Pol erreicht. Amundson war verschollen, Nobile war ein Betrüger. Wer aber war ich? Jämmerlich kam ich mir vor, elend und einsam.
Ich schaute mich um. Der Horizont hatte eine leichte Rundung. Mein Gott, wie viele Kilometer konnte ich denn hier in die Ferne gucken! Leise kroch die ungemeine Kälte meine Beine hoch und sorgte für einen immer größer werdenden Eiszapfen unter meinem Schnäuzer. Ich leckte die Lippen und fror augenblicklich an meinem Bart fest. Schnell trank ich einen Schluck heißen Tee aus der kleinen Thermosflasche, die ich an der Seite meines Rucksacks baumeln hatte, nur um die Zunge wieder frei zu bekommen. Es wirkte, das sollte mir nicht noch einmal passieren. Die Sonne stand schräg mitten im Himmel, wenige Meter davon entfernt hatte sich der Mond ein Plätzchen gesucht, hier waren Sonne und Mond anscheinend nicht viel voneinander entfernt. Fast rosafarbene, neblige wolkenartige Wattebäusche, die sich im Wind verzogen, bildeten den Hintergrund für ein ungemeines Weiß. Weiß – wie ein Meer aus Weiß, Schnee war dagegen grau anzusehen, das ewige Eis ist weißer als Schnee. Ich hatte bisher nur im Fernsehen solche weiße Pracht gesehen. Hier in der freien Natur war es ein viel größeres Erlebnis. Mein Bein war steif gefroren, es ragte einfach etwas zur Seite. Ich wollte ein paar Schritte gehen, doch der Fuß riß nicht von der Scholle. Scholle, mit Kartoffeln und Salat, schoß es mir durch den Kopf. Ich hatte Hunger. Ich will mir einen Braten schießen, dachte ich bei mir. Ich schielte nach meinem Gewehr, das noch in der Zusatzausrüstung lag, die sich im Korb befand. Ich zog meinen Fuß aus dem angefrorenen Stiefel und robbte so zum Korb. Der Fuß schmerzte vor Kälte, ich warf mich in den Korb und holte das Gewehr zu mir heran, es steckte in seiner dafür vorgesehenen Schatulle aus Leder. Elchleder ist sehr weich, aber trotzdem strapazierfähig. Aber weil es durch die Kälte knallhart gefroren war, zerplatzte die Schatulle in tausend Stücke, als ich das Gewehr herauszog. Ich konnte es nicht glauben, aber mein Thermometer, das ich an der Uhr mit dem Kompaß befestigt hatte, zeigte minus 64 Grad an! Schnell! Der Stiefel! Ich mußte es schaffen! Ohne meinen Stiefel ginge jetzt alles seinen unabänderlichen Weg: Fuß friert ab, dann Bein, Eigenamputation mittels kleiner Heimwerkertrennscheibe – ein Glück, daß ich sie mithatte – und darauf folgendes völliges Abbinden des Stumpfes mit Tesakreppband, etwas anderes hatte ich dummerweise nicht mit. Diese Vorstellung verlieh mir Bärenkräfte, und ich schaffte es, meinen Stiefel von der Scholle zu trennen und ihn wieder anzuziehen. Genau eine Minute hatte das Ganze gedauert, aber diese Minute vergesse ich mein Lebtag nicht. Mein Atem stieß unaufhaltsam gegen die klare Luft, kochend weiß, ich hustete klar und zynisch das Treibgas aus meiner Lunge. Verdammter Seidenballon, zwar hatte er durchgehalten, aber nicht dicht. Immer wieder war Gas aus der Seide gesickert und setzte sich auf meinen Äolien fest. Ich hatte mich zum Glück nicht irgendeiner Gruppe von Expeditionären angeschlossen. Wenn mich jetzt einer sehen würde! Dieses miese Husten, ich gab eine denkbar schlechte Figur für einen Abenteurer ab. Kam mir vor wie ein Kindergartenkind, das seine Erkältung vor den Erzieherinnen aushusten muß, peinlich!
Spuren der Erosion im Polarkreis
Den Entschluß, allein in die Eiswüste zu gehen, hatte ich bereits vor einigen Jahren gefaßt, nachdem ich im Fernsehen eine Sendung mit Eisbären gesehen hatte. Genau diese Viecher wollte ich kennenlernen. Ob ich heute schon einem begegnen würde? Ich hatte daraufhin meinen Körper durch Übungen, die ich mir selbst ausgedacht hatte, auf den Polarkreis eingestellt. Ich kaufte mir damals als erstes eine große Gefriertruhe, wo ich selbst hineinpaßte. Ich stählte meine Muskeln mit Ziegelsteinen, die ich meterhoch auftürmte und freistehend auf der flachen Hand balancierte. So hatte ich an guten Tagen jeweils mit einer Hand bis zu zwanzig Ziegel aufgelegt. Einmal beschwerten sich sogar die Nachbarn, weil mir ein Stapel abgerutscht war und der Holzboden einbrach, ja sogar zwei Ziegel unten bei denen in der Küche auf dem Essenstisch landeten. Ich ernährte mich monatelang von Trockenpflaumen und Süßholz, ich goß mir Mirabellenschnaps über den Gaumen und schluckte nicht runter, nur um zu versuchen, Versuchungen zu widerstehen. Auch Schokolade lernte ich essen. Ich hatte ja schon als Kind keine Schokolade gemocht, aber in der Eiswüste oder aber auch an jedem wüstenähnlichen Punkt dieser Erde ist es wichtig, Glückshormone wie Schokolade aufzunehmen, denn die Psyche ist genauso wichtig für das Bestehen in diesen Breitengraden wie die Physe. Auch nahm ich Unterricht bei einem fernöstlichen Fechtlehrer, einem Mann aus Kyoto. Er erzählte mir viel über diese berauschende Stadt, so daß in mir der Wunsch erwachte, irgendwann einmal selbst in diese Stadt zu reisen. Ich hatte es nach einigen Monaten bis zur Weltelite geschafft, so kam es mir auf jeden Fall vor. Ich besiegte sogar einmal meinen Meister, aber der hat, glaube ich, nur so getan. Die größte Anforderung am lebenden Menschen aber ist die enorme Kälte. Ich sage deshalb am lebenden, weil ein toter fühlt sich in dieser unglaublichen Kälte sicherlich sehr wohl. Es gibt Mumien im ewigen Eis, die sind Millionen Jahre alt, so wie der Ötzi, aber im Polareis sind noch viel mehr von den Dingern. Stelle dir vor, du stirbst, und Millionen Jahre später finden Leute dich und sehen, was du für eine tolle Jeans anhattest. Die würden sich vermutlich in den Bauch beißen, nicht heute gelebt zu haben bei dieser mannigfaltigen Auswahl von duften Hosen. Im Eismeer nützt es wenig, die teuersten Klamotten zu tragen, Versace oder Calvin Klein kennt hier kein Schwanz. Also kleidete ich mich unauffällig, aber nützlich. Ich hatte bei Kaufhof eine Polarjacke heruntergesetzt kaufen können, nur einhundertundfünfundneunzig Euro! Und die war warm! Darunter trug ich einen Jerseypullover und ein kariertes Expeditionshemd von Mephisto. Ab und zu zog ich mir auch die Jacke aus und dafür den dicken Selbstgestrickten an, den grauen, zwei links zwei rechts, Raglan-Schnitt. Bei der Hose soll man nicht sparen. Dick muß sie sein, wie so 'n Kinderoverall für Babys, gesteppt oder wattiert, weiß nicht genau, wie das heißt, sie war teuer, Ski-Bedarf, bei Sport Keitel in Duisburg. Socken hatte ich noch, die Füße verändern sich ja im Laufe der Jahre nur wenig, während bei Hosen immer mal eine Nummer größer oder kleiner sein muß. Da fällt mir ein, in Bielefeld habe ich mir mal eine Cord-Hose gekauft und dazu eine passende Jacke von der gleichen Firma – die Jacke habe ich aber nie angehabt, man soll eben nicht so uniformiert rumlaufen. Vor allem in einem fremden Land fällt man in gewisser Weise in Uniform unangenehm auf. Hitler ist zum Beispiel ja auch niemals in Amerika gewesen.
Die Kälte nagt an mir – Impressionen aus dem Schneesturm
Ich hatte, als ich wegfuhr, die glorreiche Idee gehabt, damit ich in der Eiswüste nicht so einsam wäre, mir eine Topfpflanze mitzunehmen. Sie hatte ihren Platz im oberen Teil meines Rucksacks zusammen mit den Mickymausheften, die ich leider, wie sich später herausstellte, alle schon durch hatte. Aber in der Wildnis vergißt man vollkommen zu lesen. Man ist dermaßen von der Natur überwältigt, daß man gar nicht an Bücher denkt. Höchstens an sein Scheck-Buch, denn so eine Reise ist echt teuer. Ich kann jedem, der so eine Reise machen will, total davon abraten. Es geht über jedes Konto hinaus. Am schlimmsten sind die Souvenirs, die man überall kaufen kann. Aber hier, wo ich jetzt in diesem Moment gerade war, gab es noch nicht einmal einen Kiosk.
Allein. Kein Geräusch. Wie gesagt, nur das eigene Blut. Und, wenn man sich genau darauf konzentriert, hört man tatsächlich, wie die Barthaare durch die Kälte hart werden, anscheinend halten die einzelnen Gefäße der Haare das Steifwerden nicht aus und platzen innerlich, so daß man lauter abgebrochene Haare in der Handfläche hat, wenn man sich mal unabsichtlich durch den Bart gegangen ist, ohne zufällig, wie es ja meistens passiert, mit der Hand festgefroren zu sein. Die innere Wärme allerdings ist viel wichtiger noch wie die äußere, die man sich natürlich mittels Anziehsachen herbeiführen kann. Die innere Wärme wird ausgelöst durch eine innere Ruhe, man muß in sich selbst ruhen, um diese so wichtige Wärme zu spüren. Sie zu spüren ist fast noch wichtiger, als wenn man sie nur hat, denn der psychologische Teil ist wichtig. Wenn man sich warm fühlt, ist es eine Leichtigkeit, warm zu sein. Die Polster der Haut blähen sich etwas auf, und das Blut fließt mit mehr Elan durch das Fleisch. Und wenn man dann noch denkt, es wäre Sommer, dann fühlt man sich so wie im Urlaub.
Hühner können nicht fliegen, dachte ich, als ich den Horizont absuchte nach etwaigen Besuchern aus anderen Planquadraten. Einen Eisbären vom Eis zu unterscheiden, ist schwer. Diese Tiere sind mega-gefährlich, sie riechen dich auf dreißig Kilometer Entfernung, du selbst siehst sie aber erst auf ungefähr zehn Kilometer, wenn klare Sicht ist. Dann hat der Bär auch dich entdeckt, optisch wie mit Nase. Plus Gehör. Diese Tiere sind zwar keine Beethoven, aber sie hören etwas schlechter als der Mensch. Hühner flattern nur so, wie als würden sie sich erschrecken, dann hüpfen sie flatternd über den Hof, dachte ich. Und ich mußte auch an den Geruch eines leckeren Hähnchenballens denken, mit Paprika, Honig, Pfeffer, Senf und Salz, hmm, lecker. Ich hatte Hunger. Ich nahm von der Astronautennahrung etwas aus der Dose, nahm den Wasserbecher, in dem ich ein Stück Eis erwärmen wollte zur Verlängerung der Astronautennahrung. Pfifferlinge mit Klößen. Natürlich als Würfel, der zu Brei gemacht werden konnte. Beim Kochen froren mir die Finger fast ab, obwohl der Blechnapf heiß wurde, als ich mein Benzinfeuerzeug darunter hielt. Zum Glück hatte ich Handwärmer dabei, ich zerbrach direkt zwei davon und legte sie mir in die Handschuhe. Motorradhandschuhe, wasserdicht. Eine Idee von mir selbst. Stand in keinem Überlebensbuch. Nach dem Essen ging ich los. Mein Ziel war der nächstgelegene Eisberg, ungefähre Entfernung: circa hundert Kilometer. Die Richtung war laut Eintragung in meinem Buch, das ich zwecks Himmelsrichtungen vorab angelegt hatte, Süd-Südost. Ich mußte einen leichten Schlenker machen, sonst käme ich gegen die Erddrehung zu viel Richtung Amerika, und da wollte ich noch nicht hin. Mein Ziel war als nächstes Land erst mal die Sowjetunion mit ihren vielen vielen Quadratkilometern Wildnis. Auch im hohen Norden. Die Barentssee grenzt an Rußland. Nördliches Eismeer. Je mehr ich in Richtung Landsohle wanderte, um so kälter kam mir die Luft vor. Aber das war sicherlich nur mein Gefühl. Trotzdem guckte ich auf das Thermometer. Tatsächlich minus 74 Grad! Rekord! Mir schwanden die Sinne. Doch ich mußte weiter. Jetzt wurde es Abend, dachte ich, doch hier war Sommer, das heißt, dunkel wurde es nicht. Auch nicht noch kälter zum Glück. Ich fühlte mich plötzlich so allein. Dachte an eine schöne Tasse Latte Macciato, selbst gemacht, den Kaffee selbst gemahlen mit der kleinen Kaffeemühle, die per Hand gedreht wird. Ach ja, die hatte ich ja mit! schoß es mir durch den Kopf. Eine kleine Pause konnte ich sicherlich vertragen, am besten sollte ich dann auch mal ein Feuer machen, damit ich mich etwas aufwärmen konnte, stehen zu bleiben bei der Kälte bedeutete ansonsten den sicheren Tod. Wie gerufen steckte im Eis der Rest eines alten Rettungsbootes, kann sein von Amundsen persönlich. Egal, ich hackte mit der Falt-Axt ein paar Bretter da raus und häufte sie zusammen zu einem Türmchen auf. Dann entzündete ich das Feuer mit meinem Benzinfeuerzeug und wärmte mir die Finger, die Handschuhe zog ich aus. über das Feuer hängte ich meine Kanne aus Blech, da wird das Wasser schnell heiß. In der Zeit, die das Wasser brauchte, um zu kochen, ging ich schnell pinkeln. Aber was mußte ich erschreckt feststellen: Bei dem Versuch, zu pinkeln, gefror mein Pipi in Windeseile und steckte im Eis fest, so daß, weil ich ja noch mehr mußte, ich selbst von meiner eigenen Pipistange, wie ich das jetzt hier nennen will, hoch angehoben wurde, und zwar genauso hoch, wieviel ich Pipi machte. Ein ausgesprochen »erhebendes« Gefühl! Als ich zurückkam, war ich nicht mehr allein. Ein Polarfuchs hatte sich über meinen Rucksack hergemacht und zog mit seinen triefenden Lefzen an meinem Ersatzpullover, riß ihn aus dem Sack und haute, als er mich erblickte, damit ab. Verflucht! Ich stolperte mehr, als daß ich rannte, hinter dem Viehzeug her. Erwischte ihn an den Hinterläufen und warf ihn zur Seite. Er heulte auf und versuchte, sich aus meinem stahlharten Griff zu entwinden. Ich drückte feste zu, und der Kerl jammerte um seine Beine, mir konnte er nichts vormachen, er war eine Heulsuse. Lächerlicher Eisfuchs. Ich hatte ganz vergessen, daß ich nicht gegen Tollwut geimpft war. Zum Glück biß das Vieh mich nicht, und er behielt auch seinen Speichel für sich. Trotzdem, mit so einem wütenden Eisfuchs ist nicht zu spaßen. Er kämpfte sich letztendlich doch frei, weil ich den Griff etwas lockerte. Ich kann einfach nicht mit ansehen, wie ein Schwächerer besiegt wird. Ich ließ ihn in dem Glauben, er wäre aus eigener Kraft freigekommen, und ließ ihn sich seinen Weg suchen – den Weg aufs Festland, schien mir seine Richtung anzudeuten. Der Polarfuchs ist kein ausgesprochener Eisbewohner, er braucht Verstecke wie zum Beispiel Büsche, und außerdem braucht er im Gegensatz zum Eisbären zur Aufzucht seiner Kleinen echte Höhlen, keine Eishöhlen