Später Regen

Inhaltsverzeichnis

Von dem Moment meiner Empfängnis in einer kühlen Mainacht wurde das Leben meiner Mutter noch komplizierter, verwirrender und unerträglicher, als es ohnehin schon war. Ich war darin noch das kleinste Übel, im wörtlichen Sinne, denn ich war zu diesem Zeitpunkt nicht größer als ein Nadelstich.

Mich hätte es nie geben sollen. Und wenn, dann wenigstens nicht als Mädchen. Mädchen hatte meine Mutter schon genug. Mehr, als sie ernähren und verkraften konnte.

Vor meiner Empfängnis hatten meine Schwestern einen Vater und eine Mutter und alles, was sie zum Leben brauchten: Fahrräder, Rollschuhe, Telefone, einen Rauchglastisch, zwei Fernseher, zwei Sofas, jede Menge Kleidung und Spielzeug, das in der ganzen Wohnung verstreut lag und von unserer Mutter regelmäßig schimpfend weggeräumt wurde.

Als der Vater meiner Mutter starb, verließ sie das verhasste graue Land, in dem sie ihrem Mann zuliebe mehr als zehn Jahre lang gelebt hatte, und flog mit meinen Schwestern zurück in ihre Heimat. Die Möbel nahm sie mit. Ihr Mann wollte nachkommen, sobald er alles geregelt hatte.

Meine Mutter tobte und schrie. Sie trank eine ganze Flasche Whiskey und warf sich in den Pool, um zu sterben. Der Vater meiner Schwestern fischte sie heraus, legte sie tropfnass in das ehemalige Ehebett, das um die halbe Erdkugel gereist war, und flog am nächsten Tag zu seiner Geliebten zurück.

Meine Mutter lag tagelang hinter geschlossenen Gardinen. Nora, die Älteste, musste sich um unsere Schwestern kümmern. Sie stand morgens auf, schmierte ihre Schulbrote und brachte sie in die Schule. Die Jüngste, Sam, war acht, Paula zehn und Carla zwölf.

Nora kaufte ein, kochte Essen, spülte ab, hielt das Haus in Ordnung und hasste ihre Mutter, der sie die Schuld für alles gab. Hätten sie England nie verlassen, wären sie immer noch eine Familie.

Meine Mutter rappelte sich langsam wieder auf. Fest entschlossen, das Beste aus ihrem Leben zu machen, ging sie fast jeden Abend aus, um sich zu betrinken und Männer kennenzulernen. Nora hasste sie dafür noch mehr, weil sie zu Hause bleiben musste, um auf ihre Schwestern aufzupassen.

In einer dieser Nächte lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Er war der einzige Mann, den sie ihren Töchtern vorstellte. Er war verheiratet, was er verheimlichte, er hatte eine Firma, die gerade zusammenbrach, eine Frau, die nicht mehr mit ihm schlief, und Kinder, die nichts von ihm wissen wollten. Unglück und Unglück ziehen sich bekanntlich an, und so zeugten sie mich.

Es war zu laut, um sich zu unterhalten, aber das störte sie nicht. Es gab ohnehin nicht viel zu sagen, und das, was zu sagen war, hatten sie bereits in endlosen Schleifen wiederholt.

Später stiegen sie betrunken in sein Auto und fuhren die kurvige Küstenstraße zurück. Am Morgen sahen meine Schwestern seinen weißen Pick-up vor der Tür stehen und wussten, dass er im Bett ihrer Mutter lag. Ihn selbst bekamen sie selten zu Gesicht.

Nora hasste ihn, weil er nicht ihr Vater war, und unsere Mutter noch mehr, weil sie sich so schnell mit einem anderen einließ.

Aus Trotz machte Nora das Gleiche. Sie stieg nachts aus dem Fenster, um sich mit Jungs zu treffen, auf der großen Wiese mit dem braunen stacheligen Gras, das auch im Winter nie grün wurde, wo sie unter dem Maulbeerbaum lagen und sich küssten, und Nora ließ sich angewidert abfummeln, um sich an ihrer Mutter zu rächen, die nicht einmal bemerkte, dass sie weg war.

Die hatte andere Sorgen, und der Maulbeerbaum war zu Beginn des Sommers fast kahl, weil die Kinder jeden Tag nach der Schule mit großem Geschrei die Blätter von

Nora wanderte nachts durch die leeren Straßen mit den einstöckigen Einfamilienhäusern, die hinter blühenden Hibiskusbüschen und sorgsam getrimmten Hecken lagen und einen Pool im Garten hatten und ein Trampolin, falls Kinder darin wohnten. Die Hunde bellten hinter hohen Mauern, und nie traf sie einen einzigen Menschen. Sie genoss ihre nächtlichen Spaziergänge, die Einsamkeit und die Stille und stellte sich vor, sie wäre die einzige Überlebende nach einem Atomkrieg. Diese Vorstellung fand sie überraschend tröstlich.

Nach einer Weile hatte sie genug von den triefenden Küssen und den gierigen Händen und legte sich allein auf das stachelige Gras unter den Maulbeerbaum, um in die Sterne zu schauen.

Von all dem bekam meine Mutter nichts mit. Wenn sie und Nora aufeinandertrafen, sprachen sie nicht miteinander, sondern schrien sich an.

Mutter wurde immer gereizter, kam morgens gar nicht mehr aus dem Bett. Als ihr auch noch ständig übel war, ahnte sie, was ihr bevorstand. Nach vier Schwangerschaften gab es keinen Zweifel. Sie hatte vier Mal in ihrem Leben einen Test gemacht, und der war immer positiv. Einen fünften brauchte sie nicht, das Geld konnte sie sich sparen.

Die Vermieterin war eine biestige, geldgierige Frau, die alleinerziehende Mütter nicht leiden konnte, weil sie die meiste Zeit ihres Lebens selbst eine gewesen war und jeden Moment davon gehasst hatte. Sie hatte hart gearbeitet und langsam, aber stetig mit Immobilien ein Vermögen gemacht. Jetzt lebte sie davon, dass sie ihre Häuser vermietete und die Mieter nach Laune wieder hinauswarf. Zum dritten Mal, seit wir dort wohnten, kündigte sie eine Mieterhöhung an. Jeden Monat einmal, pünktlich, zuverlässig und lästig, wie die Periode, die meine Mutter nun nicht mehr hatte.

Dieses Mal stellte die Vermieterin, die völlig unpassend den reizenden Namen Poppy trug, eine Renovierung in Aussicht, die dringend nötig wäre. Sie wollte das Haus instand setzen und teurer vermieten. Da ein paar Hundert Rand mehr Miete nicht der wahre Grund gewesen sein konnten für diesen monatlichen Terror, war anzunehmen, dass Poppy eine sadistische Freude an dieser Form der Machtausübung empfand.

Man sollte meinen, dass sie Mitgefühl mit meiner Mutter gehabt hätte, aber genau das Gegenteil war der Fall. Poppys Mann hatte sie mit drei Kindern für eine jüngere

Meine Mutter erinnerte sie an Zeiten, an die sie nicht erinnert werden wollte, und sie verabscheute deren Armut, wie sie ihre eigene Armut verabscheut hatte. Weil sie es aus eigener Kraft und mit harter Arbeit aus dem Sumpf herausgeschafft hatte und ihr niemand dabei geholfen hatte, sollte es meine Mutter auch nicht leichter haben als sie selbst.

Poppy war nicht nur böse, sondern auch hinterhältig. Sie versteckte ihre Bosheit hinter einem Lächeln und einer sanften Stimme. Jedes Mal, wenn sie kam, um ihre Hiobsbotschaft zu überbringen, hatte sie Kokosnusskekse für die Mädchen dabei. Immer die gleichen, wahrscheinlich kaufte sie Vorratspackungen für all die angehenden obdachlosen Kinder, die sie besuchte, um ihren Müttern mit süßer Stimme, in der Besorgnis und Verständnis mitschwang, den Rausschmiss anzukündigen, während sich die Kinder im Nebenzimmer um die Kekse stritten und das Sofa vollkrümelten.

Nach dem dritten Monat begriff meine Mutter, dass hinter dieser Panikmache eine Taktik stand, die sie zwar nicht verstand, aber immerhin vorhersehen konnte, und sie markierte den nächsten Besuch auf den Tag genau in einem Kalender im Flur, auf dem die Ferien und die Geburtstage meiner Schwestern und der restlichen Familie eingetragen waren. Meiner nicht, denn ich war ja noch nicht geboren.

Die Übelkeit meiner Mutter steigerte sich in einen Brechreiz, den sie vergeblich zu unterdrücken versuchte. Sie rannte auf die Toilette und riss den Architekten, der auf dem Boden hockte, um die Flurbretter abzuklopfen, fast um. Entschuldigen konnte sie sich nicht mehr, denn das Essen war bereits vom Magen aufgestiegen. Es gelang ihr immerhin, es im Mund zu halten und sich mit lautem Würgen in die Toilettenschüssel zu entleeren, was der Architekt gehört haben musste.

Er war ein attraktiver Mann, der meiner Mutter sicherlich gefallen hätte, wenn sie sich nicht in diesen unglücklichen Umständen befunden hätte. Deshalb sorgte sie sich auch nicht weiter, sondern spülte ihren Mund aus, wusch ihr Gesicht, bürstete ihre Haare und kehrte zum Küchentisch zurück, wo Poppy mit dem Anwalt sprach.

Sie verstummten, sobald meine Mutter sich näherte. Poppy sah sie besorgt an und strich ihr mit einer Hand,

Meine Mutter spürte ihre Übelkeit wieder aufsteigen. Sie ging ihnen voraus zur Haustür, bestaunt von den drei kleinen Mädchen, die immer noch kauend auf dem Sofa saßen, still und artig, der Größe nach aufgereiht wie russische Holzpüppchen. Mutter wartete, bis Poppy den Anwalt und den Architekten eingesammelt hatte und sich hinausbewegte. Sie schloss die Tür leise hinter ihnen und rannte aufs Klo, um sich erneut zu erbrechen. Währenddessen hatten die Mädchen ihre Ordnung aufgelöst und stritten um die verbliebenen Kekskrümel in der Packung, die sie sich gegenseitig aus den Händen rissen, bis der gesamte Inhalt auf dem Teppich landete.

Als meine Mutter zurück ins Wohnzimmer kam, waren meine Schwestern verschwunden. Sie fand Paula, die nicht schnell genug war, hinter dem Küchentresen, zog sie hervor und gab ihr eine Ohrfeige. Paula lief heulend davon. Für einen Moment dachte Mutter daran, sie zurückzurufen, aber ihr fehlte die Kraft für eine Auseinandersetzung. Den Dreck, dachte sie, sollte Nora wegmachen, sobald sie nach Hause kam, und schleppte sich wieder ins Bett.

Da die Mädchen ein schlechtes Gewissen hatten, ließen sie unsere Mutter den restlichen Tag über in Ruhe. Als der Hunger zu groß wurde, war Nora wieder zurück, die zwar maulte, dass sie noch Hausaufgaben machen müsste, aber schließlich wie immer tat, was man von ihr verlangte.

Meinem Vater erzählte Mutter nichts von mir. Sie erzählte niemandem etwas. Sie ging weiter trinken und schlief zweimal die Woche mit dem traurigen Ehemann, der von seinem Glück nichts wusste. Er hatte Angst, seine Frau zu verlieren, erzählte er ihr eines Abends, betrunkener als sonst. Er vertrug keinen Tequila, und ein Freund von ihm gab eine Runde nach der anderen aus. Sie setzte ihn vor die Tür, wo er eine Stunde lang randalierte, gegen die Tür trat, den Mülleimer auf die Straße schmiss und gegen das Auto meiner Mutter pisste, einen verrosteten hellblauen Käfer, dessen Fenster sich nicht mehr schließen ließen, und laut vor sich hin fluchte. Wie durch ein Wunder wachten meine Schwestern nicht davon auf. Dafür die Nachbarn, die die Polizei riefen, aber als sie kam, war er schon drei Ecken weitergezogen, auf die Wiese mit dem Maulbeerbaum, wo er zusammengerollt auf dem stacheligen braunen Gras seinen Rausch ausschlief.

Mein Vater war ein anständiger Mann, nur unglücklich und ängstlich. Deshalb entschuldigte er sich am nächsten Tag und reparierte die Eingangstür, von der er die Fußleiste abgetreten hatte. Und weil meine Mutter ahnte, dass er nicht mehr wiederkommen würde, ließ sie ihn

Da sie sich gehen ließ und nicht besonders auf sich achtete, fiel es niemandem auf, dass sie nur noch weite T-Shirts trug. Sie schlief in denselben Kleidern und wechselte sie nur selten, denn sie verbrachte immer noch die meiste Zeit im Bett oder vor dem Computer, wo sie unter dem Namen Candy in anonymen Chatrooms mit anderen sitzen gelassenen und frustrierten Müttern über die mistigen Männer herzog und sich selbst bemitleidete. Oder mit Männern flirtete, die wahrscheinlich genau wie sie mit dickem Bauch, arbeitslos, ungewaschen und verwahrlost, mit Kaffeeflecken auf einem labbrigen T-Shirt mit dem ausgewaschenen Aufdruck einer Biermarke oder Sportmannschaft, vor dem schmierigen Bildschirm ihres trostlosen PCs saßen und auf die mit Semmelbröseln und Marmelade verklebte Tastatur einhackten.

Sie durchsuchte das Internet nach einem neuen Mann und beschrieb sich als aparte Mittdreißigerin, vom Leben enttäuscht, habe aber die Hoffnung auf die Liebe noch nicht aufgegeben. Sie schrieb, sie sei eine alleinerziehende Mutter, wobei sie die Anzahl ihrer Kinder verschwieg, liebe die Natur, das Meer, lange Spaziergänge und gute Gespräche bei einem Glas Wein.

Auf dem Foto, das sie zu ihrer Anzeige einstellte, war sie zehn Jahre jünger und gerade mit Paula, meiner zweitjüngsten Schwester, schwanger, was man noch nicht sehen konnte. Es zeigt sie in einem der wenigen fröhlichen Momente ihres Ehelebens im letzten gemeinsamen Urlaub ohne Kinder auf Korfu.

Allein das Foto anzusehen machte sie glücklich. Zu wissen, dass es einmal bessere Zeiten gegeben hatte – auch wenn es, alle glücklichen Stunden zusammengerechnet, nicht mehr als drei Wochen gewesen sein konnten – und dass es auch wieder glücklichere Zeiten geben würde.

Sie glaubte, dass sie immer noch die Frau auf dem Bild war, dass sie immer noch so aussehen könnte, wenn ein Mann sie endlich glücklich machen würde.

Ihre Haare waren inzwischen grau geworden, und sie färbte sie selbst rotbraun. Sie waren auch nicht mehr lang und lockig, sondern kurz und stufig geschnitten und standen vom vielen Liegen und Schlafen meist struppig vom Kopf ab. Auch hatte sie mindestens siebzehn Kilo zugelegt seit jenem Foto, das nach einer ihrer vielen Diäten aufgenommen worden war. Sie hatte nach den Schwangerschaften Schwierigkeiten, ihr Gewicht zu halten, und quälte sich durch immer neue Diäten. Nach Sams Geburt hatte sie sich damit abgefunden, dicker zu werden, und alle Diäten aufgegeben. Sie war nicht fett, sie war auch nicht unattraktiv und hätte durchaus etwas aus sich machen können. Aber so wie auf diesem Bild würde sie nie wieder aussehen.

 

Die Unterhaltszahlungen wurden von Monat zu Monat unregelmäßiger. Sie hatten sich geeinigt, dass ihr Mann sie

Es kam der Monat, in dem sie die Miete nicht mehr aufbringen konnte, und ausgerechnet dann brachten meine Schwestern einen Brief nach Hause, der sie ermahnte, die ausstehenden Schulgebühren zu bezahlen, sonst würden sie ihre Zeugnisse nicht ausgehändigt bekommen.

Um die Miete sorgte sich meine Mutter nicht, da wir ohnehin ausziehen mussten. Wie sie Poppy kannte, würde sie hundert Gründe finden, die Kaution einzubehalten, da blieb sie ihr einfach gleich die letzte Miete schuldig.

Meine Mutter war es nicht gewohnt, sich um Finanzdinge zu kümmern. Das hatte immer ihr Mann gemacht. In England hatte sie eine Bankkarte, mit der sie Geld abhob, wann immer sie es brauchte, und eine Kreditkarte, mit der sie bezahlte, was immer zu bezahlen war. Das Essen, die Kleidung für die Mädchen, all das, was sie zum Leben brauchten. Das ging nun nicht mehr, das Konto war leer.

Gut, wenn wir verhungern, dann ist es seine Schuld, dachte Mutter anfangs noch trotzig, bis sie begriff: Er würde nicht zahlen, und wenn sie verhungerten, dann kümmerte es ihn nicht. Sie waren keine Familie mehr. Es gab keinen Mann, der für sie sorgte. Das war von jetzt an ihre eigene Aufgabe.

Diese Einsicht traf sie mit solch einer Wucht, dass sie sich für drei Tage ins Bett legen musste. Sie stand nicht mehr auf, außer, um auf Toilette zu gehen und ein Glas Wasser zu trinken. Sie vergaß zu essen. Das ist die erste Schwangerschaft, dachte sie, bei der ich nicht dicker, sondern dünner werde. Die Zeiten ändern sich.

Sie quälte sich jeden Morgen aus dem Bett und machte meinen Schwestern Sandwiches für die Schule, die diese meist in den Mülleimer schmissen, weil sie viel zu dick mit Margarine beschmiert waren. Aber sie wagten es nicht, etwas zu sagen, weil sie Mutter nicht verärgern und entmutigen wollten. Gerade jetzt, wo sie endlich aufgestanden war und das Leben sich wieder halbwegs normal anfühlte.

Meine jüngeren Schwestern verstanden nicht viel, aber ihre Freundinnen hatten Eltern, die geschieden waren. Das schien etwas zu sein, das irgendwann passierte, und nun war es eben in ihrer Familie passiert.

Ihr Vater war in England, er rief einmal die Woche an, sagte, er liebe sie und bald würden sie alle kommen, ihn besuchen. Sie hatten ein großes Trampolin und einen Pool, das Wetter war immer warm, sie konnten den ganzen Tag schwimmen. In England hatten sie in einem engen Apartment gelebt, und draußen war es meistens kalt und nass. Das war hier viel besser. Keine ihrer Freundinnen, überhaupt niemand, den sie in England kannten, hatte einen Pool und ein Trampolin. Ihre Mutter hatte immer schon scheußliche Brote geschmiert, und außerdem hatten sie sich gegenseitig und Nora, unsere große Schwester, die für sie sorgte.

Sie behielt ihren englischen Akzent, während unsere Schwestern sich schnell angepasst hatten. Sie übertrieb ihn sogar noch, um sich von den anderen abzusetzen. Sie hasste, wie die Menschen hier das E in die Länge zogen und das A wie ein Oh aussprachen. Es war lächerlich.

Jeden Tag nach der Schule ging sie in die Bibliothek, weil es der einzige Ort war, wo sie in Ruhe ihre Hausaufgaben machen konnte. Sie lernte wie verrückt. Ihr Plan war es, ein oder zwei Klassen zu überspringen, die Schule so schnell wie möglich zu beenden und zurück nach England zu gehen. Sie war gerade sechzehn geworden und in der zehnten Klasse. Ihre Mutter würde sie nicht gehen lassen, bevor sie achtzehn war. Das waren noch zwei endlose Jahre ohne ihren Vater in diesem verhassten Land. Wenn sie ihren Abschluss schon früher machen würde, dann müsste Mutter sie gehen lassen, um zu studieren, denn sie wäre nicht in der Lage, Studiengebühren für sie zu bezahlen. Das war der Plan.

Da Nora keine Freunde hatte, verbrachte sie jede freie Minute, in der sie nicht einkaufen, kochen oder putzen musste, über ihren Büchern. Wenn sie nicht lernte, las sie. Und wenn sie nicht las, dann schrieb sie. Sie schrieb jeden Tag mehrere Seiten in ihr Tagebuch, das sie im Garten hinter den Hecken unter einem großen Stein versteckte, denn sie traute ihrer Mutter nicht und unseren

Meine große Schwester lachte nie. Sie achtete darauf, nicht zu lachen, nie froh zu erscheinen. Jede Form von Leichtsinn und Glück schien ihr ein Verrat an sich selbst, an ihren Idealen, an ihrem Leben. Sich mit der Situation abzufinden, ihr am Ende sogar etwas Gutes abzugewinnen, Frieden mit ihrer Mutter zu schließen, das alles war Verrat und deshalb undenkbar. Wenn sie jemals aus diesem Elend herauskommen wollte, dann würde jede Annäherung einen Schritt zurück bedeuten und unweigerlich zum Scheitern führen. Unerbittlich nach vorn blicken und keine Kompromisse machen war der einzige Weg zum Ziel.

So dachte meine Schwester damals, und sie war so streng und unerbittlich, wie man als Sechzehnjährige nur sein kann.

Trotzdem erlaubte sie sich ein wenig Glück, wenn niemand es sah. Es war in Ordnung, wenn sie es mit niemandem teilte. Ihr Glück bestand darin, Tagebuch zu schreiben, und in den Nächten, wenn alle schliefen, begann ihr Leben.

Tagsüber hielt sie sich nur draußen auf, wenn es nötig war, auch weil ihre helle Haut die Sonne nicht vertrug. Nora ist die rothaarigste und hellhäutigste von meinen Schwestern. In der Geschwisterfolge wird die Haut

Wie ich aussehen werde, ist zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss. Ich bin erst vierundzwanzig Wochen alt. Man könnte erkennen, dass ich ein Mädchen bin, aber da meine Mutter nicht zum Arzt ging, dafür auch gar kein Geld hatte und auch weiter nichts von mir wissen wollte, spielte ich noch keine Rolle. Bisher wusste nur meine Mutter von meiner Existenz, und um sie an mich zu erinnern, trat ich in den Nächten, wenn sie voller Sorgen und Verzweiflung wach lag, mit meinen kleinen Füßen und Fäusten sanft von innen gegen ihren Bauch, und dann spürte ich, wie meine Mutter ihre Hand auf ihre Bauchdecke legte, gegen meine Ferse oder Knie, und mich streichelte. Dann wusste ich, dass sie mich liebte, weil sie gar nicht anders konnte, auch wenn sie mich nicht haben wollte.