Julie Peters

Der vergessene Strand

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Julie Peters

Julie Peters, Jahrgang 1979, war Buchhändlerin und studierte Geschichte, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin und Übersetzerin.

 

Weitere Veröffentlichungen

Die Neuseeland-Romane:

Das Lied der Sonnenfänger

Im Land des Feuerfalken

 

sowie

der Afrika-Roman:

Am Fuß des träumenden Berges

Über dieses Buch

Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft leben.

 

Es ist nur ein kleines, unscharfes Schwarzweiß-Foto, das all ihre Hoffnungen zerstört. Amelie kann ihrem Zukünftigen nicht verzeihen, dass er bei einem Seitensprung ein Kind gezeugt und ihr nichts davon gesagt hat. Überstürzt macht sie sich auf eine Reise, um Abstand zu gewinnen. In Pembroke, einem Küstenstädtchen in Wales, will sie sich mit den Recherchen für eine Biografie über eine Countess ablenken, die dort vor über hundert Jahren lebte. Pembroke ist Amelie gleich merkwürdig vertraut. Fast hat sie das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Aber die Einheimischen verhalten sich ihr gegenüber seltsam abweisend. Nur der junge Apotheker Dan ist ihr gleich sympathisch. Und bald erkennt sie, dass sie mehr mit Pembroke und der Geschichte der Countess verbindet, als sie ahnte …

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Katharina Naumann

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Abbildung: Ben Wood/Corbis; thinkstockphotos.de)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26664-5 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-50431-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50431-8

für meine Familie

Kapitel 1

Die Post kam immer sehr früh. Manchmal so früh, dass Amelie noch in Schlaf-T-Shirt und Bademantel in der Küche saß und den ersten Kaffee trank, wenn die Briefe durch den Briefschlitz rutschten und auf die Fußmatte darunter polterten.

Sie hatte Michael schon tausendmal gesagt, er solle endlich einen richtigen Briefkasten anbringen, draußen an der Fassade. Aber er hatte immer widersprochen, weil er den Charme der Altbauvilla nicht durch einen schnöden Briefkasten kaputt machen wollte. Eselsohren an Briefen oder zerknickte Zeitschriften waren für ihn kein Argument.

Es war nur einer von vielen kleinen Streitpunkten zwischen ihnen. Zärtliche, frotzelnde Sticheleien, die ihr immer wieder aufs Neue ein warmes Gefühl in den Bauch zauberten.

Zumindest war es bis vor vier Monaten so gewesen. Seitdem war alles anders. Nicht unbedingt schlechter, aber sie hatten die Leichtigkeit verloren.

Sie seufzte und ließ die Post auf der Fußmatte liegen.

Das Nächste, was sie hörte, waren polternde Schritte auf der Treppe. «Die Post ist schon da!», rief Michael.

«Ich weiß!», rief sie zurück.

Er trat mit dem Stapel in die Küche. Sie blickte auf und musterte ihn überrascht. Er trug einen hellgrauen Anzug, den er immer seinen «Bankanzug» nannte. Nur für Termine beim Scheidungsanwalt und bei der Hausbank holte er ihn aus dem Schrank.

«So schick heute?», fragte sie.

«Ja, da ist doch diese Institutssitzung heute Nachmittag. Wichtige Sache. Wird leider später. Komme so gegen acht, okay?» Zerstreut legte er die Briefe mitten in das Krümeldesaster, das er mit nur zwei Toasts angerichtet hatte, und küsste sie auf den Scheitel.

«Ich wollte ohnehin in die Bibliothek.»

«Ah ja. Kommst du voran?»

Die Frage hasste Amelie mehr als jede andere. «Du weißt, dass man das Vorankommen bei einem Buch nicht mit Seitenzahlen messen kann.»

«Natürlich nicht, entschuldige. Aber du wirst doch wissen, ob es vorangeht.»

Sie schwieg verbissen.

Er nahm ihre Kaffeetasse, trank und verzog angewidert das Gesicht. «Dass du ihn auch immer süßen musst …»

Sie stellte sich vor ihn und begann, ihm die Krawatte zu binden. «Ich mecker ja auch nicht über deinen Toast mit Salami, also lass du mir den süßen, starken Kaffee und mein Porridge.»

Er schnaubte ungehalten. «Porridge. Ehrlich, Am, du leidest unter Geschmacksverwirrung.»

«Und du hast in den 47 Jahren deines bisherigen Lebens noch immer nicht gelernt, eine Krawatte zu binden», schalt sie ihn zärtlich.

Irgendwie brachte er es immer fertig, dass sie ihm nicht böse war. Sobald er weg war, würde sie die Krümel vom Tisch fegen.

«Warum auch? Bisher hat das Ruth gemacht. Und jetzt habe ich ja dich.» Er legte die Arme um sie und küsste sie auf den Mund. «Wünsch mir Glück, dass ich meinen Etat bekomme.»

«Viel Erfolg. Du schaffst das!» Sie erwiderte den Kuss, und er zog sie noch einmal an sich. Amelie lachte leise. «Du kommst zu spät», flüsterte sie zwischen zwei Küssen.

«Mir doch egal», erwiderte er. Widerstrebend ließ er sie los. «Bis heute Abend!»

Die Haustür fiel ins Schloss, und sie war allein in dem großen Haus. Sie löffelte ihr Porridge, las die SZ auf dem iPad fertig, räumte dann ihr Geschirr – und Michaels, das er natürlich vergessen hatte – in die Spülmaschine und wischte die Krümel vom Tisch.

Dann ging sie ins Gartenzimmer an den Computer.

Seit sieben Monaten arbeitete sie nun am Buch. Seit sieben Monaten war der Weg vom Frühstückstisch zum Schreibtisch der weiteste, und seit sieben Monaten musste sie sich jeden Morgen dazu zwingen, ihn zu gehen. Jedes Mal, wenn sie die Bücherstapel sah, den Haufen Ausdrucke aus Zeitschriften links und rechts neben ihrem Stuhl verließ sie für einen Augenblick der Mut. Dann glaubte sie, es werde ihr nie gelingen, dieses Buch zu schreiben.

Beatrix Lambton war eine freie, unabhängige Adelige im 19. Jahrhundert gewesen, verheiratet mit einem Earl, gesegnet mit einer großen Kinderschar. Dennoch hatte sie ihr Betätigungsfeld nie allein auf Kinderzimmer, Küche und Kirche beschränkt. Ihre literarischen Salons waren legendär, und sie hatte sich sogar irgendwann von ihrem Mann emanzipiert, der ein notorischer Fremdgeher gewesen sein musste. Das war für die damalige Zeit und seinen Stand nicht ungewöhnlich, Beatrix beschwerte sich in keinem ihrer Briefe darüber. Sie ertrug es, obwohl sie ihren Mann liebte.

Wie viel Kraft das Beatrix gekostet haben musste, wusste Amelie selbst erst seit kurzem aus eigener Erfahrung.

Aber jetzt durfte sie nicht grübeln. Sie musste schreiben.

Ausgerechnet in diesem schwachen Moment, kurz bevor sie sich an die Arbeit für diesen Tag machte, fehlte ihr Michael. Er ermutigte sie immer, dieses Buch zu schreiben. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass ein Verlag daran Interesse gezeigt und ihr einen Buchvertrag angeboten hatte. Nur sein steter Zuspruch und die heftigen Debatten, die sie sich Tag für Tag lieferten, hielten sie bei der Stange.

Sie fuhr den Computer hoch und rief ihre E-Mails ab. Ihre Freundin Diana schrieb eine ellenlange E-Mail darüber, wie schön das Leben in Neuseeland sei, und die nächsten zehn Minuten ließ Amelie sich von ihren Anekdoten ablenken. Dann klickte sie auf «antworten» und wollte gerade zu einer ähnlich langatmigen Antwort ansetzen. Sie hielt inne.

Eigentlich gab es nicht viel Neues.

Während Diana am anderen Ende der Welt ein Jahr lang vom Wissenschaftsbetrieb ausspannte, ehe sie sich auf Jobsuche begeben wollte, hatte Amelie direkt nach ihrer Promotion mit dem Schreiben begonnen. Teils, weil sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihrem Abschluss als Historikerin anfangen sollte, aber teils auch deshalb, weil sie Spaß an dem hatte, was sie bisher getan hatte.

Und Michael hatte sie darin bestärkt. Er war der Meinung, dass sie irgendwann eine gute Autorin populärwissenschaftlicher Bücher werden würde. Wenn sie sich mit diesem ersten Projekt einen Namen machte, konnte sie später weitere Bücher schreiben und wäre von festen Arbeitszeiten unabhängig.

Später. Wenn sie verheiratet wären und Kinder hätten.

Die Hochzeit war für September geplant.

Die Kinder, wenn es nach Michael ging, so schnell wie möglich.

Sie schloss das Mailprogramm. An Diana konnte sie auch heute Abend schreiben, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war.

Was jedoch nicht bis heute Abend warten konnte, war die Zubereitung des Essens. Sie hatte Michael für heute Hühnerfrikassee versprochen, und wenn sie nicht bald alle Zutaten in den Crockpot gab, konnten sie nicht um acht essen, wenn er heimkam. Und dass das Essen pünktlich auf dem Tisch stand, war ihm sehr wichtig.

Seufzend und zugleich erleichtert, den Arbeitsbeginn noch ein wenig hinauszögern zu können, ging Amelie in die Küche. Sie suchte die Zutaten zusammen, schnippelte Hühnchen und Gemüse, gab alles in den Crockpot und schaltete ihn auf niedrigster Stufe ein. Das sollte reichen, wenn sie um acht essen wollten. Im Topf wurde das Frikassee schonend gegart, und am Abend musste sie nur noch Sahne hinzufügen, abschmecken und Reis kochen.

Wäre das auch erledigt.

Sie wollte gerade zurück in ihr Arbeitszimmer, als sie die Post auf dem Küchentisch bemerkte. Froh um eine neuerliche Ablenkung nahm sie sich noch eine Tasse Kaffee und ging die Post durch. Der Werbeprospekt eines Möbelhauses. Ein Mobilfunkanbieter warb für billige Auslandstarife. Das war nichts für Amelie. Sie reiste ungern, und ins Ausland schon mal gar nicht. Die Abrechnung der Stadtwerke – eine kleine Nachzahlung drohte. Das konnte sie auf Michaels Schreibtisch legen, er kümmerte sich immer um die finanziellen Angelegenheiten.

Der letzte Umschlag trug keinen Absender. Sie drehte ihn ratlos hin und her. Adressiert war er an «Amelie Franck, c/o Prof. Michael Thalbach».

Sie stand seit ihrem Einzug vor anderthalb Jahren auf dem Klingelschild, es gab also keinen Grund, einen solchen Vermerk auf den Umschlag zu schreiben.

Der Poststempel verriet ihr auch nichts über den Absender. Sie tastete nach dem Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. Dabei segelte ein Foto zu Boden.

Sie faltete den Brief auseinander, las ihn und runzelte verwirrt die Stirn. Sie las noch einmal, was da stand. Dann bückte sie sich, tastete unter dem Tisch nach dem Foto und stieß sich schmerzhaft den Kopf, als sie sich wieder aufrichten wollte.

Bild – Brief. Bild – Brief.

Sie konnte es nicht glauben.

«Das ist doch ein dummer Scherz», murmelte sie.

Und zugleich wusste sie: Das war kein Scherz. Die Vergangenheit holte sie ein.

Michaels Vergangenheit.

 

Sie hatte Michael an der Uni kennengelernt. Sie war ein schüchternes Erstsemester, er der Dozent für den Grundkurs für Neuzeit, den sie belegt hatte. Sie saß in der ersten Reihe und himmelte ihn an. Er trug einen sehr breiten, sehr golden funkelnden Ehering, weshalb sie sich verbot, mehr zu tun, als ihn anzuhimmeln.

Während des Studiums begegneten sie sich immer wieder. Sie belegte Seminare bei ihm, ihr Schwerpunkt verschob sich. Hatte sie sich ursprünglich vor allem für das Mittelalter und die Antike interessiert, verbiss sie sich nun in neuzeitliche Themen. Er betreute ihre Bachelorarbeit, und als sie sich zum Masterstudiengang einschrieb, bot er ihr eine Stelle als studentische Hilfskraft an. Sie zögerte nicht, denn gegen ihre anfängliche Schwärmerei hatte sie erfolgreich angekämpft. Der ihr dabei geholfen hatte, hieß Tobias. Sie waren glücklich.

Zwei Jahre später vermittelte Michael ihr einen Betreuer für ihre Masterarbeit. Sie verbrachte ganze Nächte in der Unibibliothek, und er lief ihr immer wieder über den Weg. Angeblich musste er auch arbeiten. Sie tranken oft Kaffee zusammen und saßen in der Eingangshalle der Bibliothek. Sie genoss diese Nachtstunden. Und eines Nachts fiel ihr auf, dass der Ehering verschwunden war.

Da erwachte das Kribbeln wieder, das sie so lange ignoriert hatte. Sie schämte sich deswegen. Aber Michael war immer da, er erwies sich als der ideale Diskussionspartner für ihre Masterarbeit. Sie wollte das nicht aufgeben. Zugleich fürchtete sie sich ein wenig vor den Gefühlen, die sie entwickelte.

Dass sie nicht die Einzige war, für die Gefühle im Spiel waren, machte Michael ihr eines Abends sehr deutlich. Sie hatte gerade erst angefangen zu arbeiten, eine Flasche Wasser, ihr altersschwaches, lautstark surrendes Notebook und einen Stapel Bücher für die Nacht auf den Arbeitstisch gestellt. Gerade wollte sie mit einem Buch zum Kopierer gehen, weil sie dieses Exemplar nicht ausleihen durfte, als er kam. Er betrat die Bibliothek ganz leise, aber das Lächeln, das sein Gesicht erhellte, als er sie entdeckte, war so laut und überwältigend, dass sie das Buch fallen ließ.

«Ich habe uns was mitgebracht», verkündete er und stellte eine kleine Kühltasche auf den Tisch. «Für deinen Mitternachtshunger.»

Und er brachte ihr Sandwichs mit Pastrami oder Bagel mit Lachs und Frischkäse.

Aber das war es nicht, was alles veränderte. Es waren dieser Blick und sein Lächeln, als sie sich bückte und das Buch aufhob. «Du bist so schön», sagte er. «Wunderschön.»

Sie wollte sich dagegen wehren – Tobias! Tobias!, dachte sie die ganze Zeit –, aber Widerstand war zwecklos. Er trat ganz dicht an sie heran.

«Wenn ich dich jetzt küsse, was wirst du tun?»

«Dann schrei ich», flüsterte sie zurück.

Er lachte. «Du kennst doch die Regeln für die Bibliothek?» Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. «Pssst!», machte er.

Und dann küsste er sie. Einfach so, mitten in der Bibliothek, in der zu dieser Uhrzeit noch so viel los war, dass am nächsten Tag das ganze Institut Bescheid wusste.

Es war ihr egal. Michael betreute nicht ihre Masterarbeit, und ihr Vertrag als Hilfskraft lief im selben Monat aus. Er erzählte ihr erst danach von dem hässlichen Rosenkrieg mit seiner Frau Ruth. Dass er ihr alles geben würde, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ. Dass er sich nach Familie sehnte, sie aber nie auch nur ansatzweise den Wunsch verspürt hatte, Kinder zu bekommen, weil ihr die Arbeit bei einer Großbank ausreichte.

Es dauerte noch einmal drei Monate, ehe Amelie sich für ihn entschied. So hatte sie es nicht gewollt, und gerechnet hatte sie auch nicht damit. Immer hatte sie geglaubt, es werde eines Tages mit Tobias oder einem anderen Mann in ihrem Alter weitergehen. Dass der Mann, den sie nun liebte, fünfzehn Jahre älter war als sie, verwirrte sie. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie ihn ihrer Mutter vorstellte. Susel und Michael verstanden sich prächtig. So groß war der Altersunterschied zwischen ihnen ja auch nicht.

Nach ihrem erfolgreichen Abschluss schien es in seinen Augen für Amelie nur einen Weg zu geben: weiterhin an der Universität zu bleiben und ihre Promotion voranzutreiben. Sie ließ sich darauf ein. Drei Jahre blieb sie dem Unibetrieb treu, gab Kurse und schrieb an ihrer Doktorarbeit über die Außendarstellung von Augustus’ Frau Livia durch die zeitgenössischen Geschichtsschreiber – sie hatte zurückgefunden zur Antike. Als wollte sie sich von Michael emanzipieren, der inzwischen ihr ganzes Leben beherrschte. Als müsste sie sich in dieser Liebe einen Platz erkämpfen, der nur ihr gehörte.

Und nun war sie seit acht Monaten nicht mehr an der Uni. Lange hatte sie darüber nachgedacht, was sie danach tun wollte. Dort bleiben? Unvorstellbar. Sie brauchte Freiräume, sie wollte etwas aus eigener Kraft schaffen. Michael fand das in Ordnung. Er fand auch, sie sollte keinen neuen Job anfangen, weil sie jetzt doch eine Familie gründen wollten.

Sie war 33. In diesem Alter dachte man nun mal darüber nach, eine Familie zu gründen. Und Michael hatte das immer gewollt. Ruth, die hatte das nie gewollt, und daran war seine Ehe letztlich auch gescheitert.

Aber jetzt hielt sie etwas in den Händen, das sie an seiner Version der Geschichte zweifeln ließ. Das sie in Gedanken zurückgehen ließ – ein Jahr, zwei Jahre, mehr als ein Jahrzehnt, bis zu jenem ersten Morgen im Hörsaal, als er vorn am Sprechpult stand und die neuen Studenten begrüßte. Und sie erfasste jedes seiner Worte, jeden Blick, jeden Kuss neu. Jede Beteuerung, jedes Wort, jegliche Umarmung verloren an Kraft, wenn sie auf den Brief schaute. Wenn sie die Worte las, wieder und wieder, dann wusste sie nicht, ob sie schreien oder weinen sollte.

Sie hatte gedacht, dieses Gespenst hätten sie gebannt. Keine Beziehung verlief geradlinig. Es gab immer Höhen und Tiefen, und vor vier Monaten hatten sie ein sehr tiefes Tal durchschreiten müssen. Sie hatte gedacht, das sei jetzt endlich vorbei.

War es aber nicht.

Warum konnte das Gespenst sie nicht einfach in Ruhe lassen?!

 

Michael kam nicht um acht heim, sondern erst um halb elf. Sie hatte Reis gekocht und ihn warmgehalten, das Frikassee hatte sie im Crockpot gelassen. Ihr war der Hunger vergangen, und das Essen war heillos verkocht.

Sie hatte auch Wäsche gewaschen an diesem Tag, der ihr elend lang vorgekommen war, hatte die Wäsche im Garten an der Wäschespinne getrocknet und danach sogar zusammengefaltet und weggeräumt. Sie hatte die Bücher rund um ihren Schreibtisch sortiert, die Unterlagen abgeheftet und eine E-Mail an ihre Lektorin beim Verlag geschickt, dass sie sich bei ihr melden würde. Wenn sie zurück wäre.

«Amelie?» Sie hörte ihn durch die Zimmer gehen. Wohnzimmer, Esszimmer, Bibliothek. Er klopfte an die Tür ihres Arbeitszimmers. «Hier bist du.»

«Das Essen ist schon fertig. Du bist etwas zu spät, ich hoffe, es schmeckt noch.»

Er zuckte mit den Schultern. «Du weißt ja, wie das ist.»

Nein, weiß ich nicht.

Sie stand auf und streckte sich. Michael trat zu ihr und küsste sie auf den Mund. «Hallo», sagte er leise.

«Hallo.» Sie drehte den Kopf weg. Sie schob sich an ihm vorbei und ging voran in die Küche. «Und? Erfolg gehabt?»

Er folgte ihr, lehnte entspannt in der Küchentür, während sie ihm das Essen auf einen Teller schaufelte, ein Glas Apfelschorle eingoss, den Tisch für ihn deckte.

«Was? Ja, doch. Mein Etat ist gesichert.» Dann, als fiele ihm gerade erst etwas ein: «Ich hab noch was für dich.»

Sie setzte sich neben seinen Platz und wartete. Das Frikassee dampfte, und jetzt hatte sie eigentlich doch Hunger. Aber sie hatte sich geschworen, keinen zu haben.

«Hier, schau mal.» Er legte zwei fast buchdicke Zeitschriften vor sie. Glückliche Bräute auf dem Cover, wunderschöne Kleider und Blumen. «Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.»

Er setzte sich und begann zu essen. Schweigend. Er hatte alles gesagt. Jetzt war keine Zeit zum Reden, jetzt wurde gegessen. Sie hatte all seine Schrullen bisher so liebenswert gefunden, doch jetzt zerrte alles nur an ihr, und es störte sie.

«Hast du schon gegessen?», fragte er mit Blick auf seinen Teller, und sie nickte abwesend, während sie flüchtig durch die Hochzeitsmagazine blätterte.

Heiraten. Ja, das hatten sie sich vorgenommen für diesen Herbst. Im September, wenn es nicht mehr so heiß war, so hatte es Michael vorgeschlagen. Auf Knien hatte er sie angefleht, ihn zu heiraten, und sie hatte in dem Moment alle unguten Gefühle beiseitegeschoben und Ja gesagt. Weil man eine Beziehung nicht einfach wegwarf.

Im September konnte man zwar Pech mit dem Wetter haben, aber das galt genauso für den Mai oder den Juni, hatte Michael argumentiert. Er trieb die Hochzeitsplanungen voran. Sie tat nichts, sie wartete nur ab, weil seit der Sache mit der anderen Frau in ihr etwas erstarrt war.

Und jetzt das hier.

«Warte mal.»

Er legte die Gabel beiseite, beugte sich zu ihr herüber und blätterte ein paar Seiten zurück. «Das ist doch hübsch, nicht?» Sein Finger tippte auf ein Bild.

Es war tatsächlich ein schönes Kleid. Luftig, zart, mit kleinen Puffärmeln und aus cremefarbener Seide. Ein weit ausgestellter Rock, ein paar hübsche Details auf dem Mieder. Es hätte ihr gefallen.

Heute Morgen noch hätte sie es sehr gemocht.

Entschieden klappte sie das Magazin zu. «Ich habe heute Post bekommen», sagte sie. «Von deiner Sabina.»

Seine Gabel verharrte in der Luft. Er legte sie auf den Teller, wollte ihre Hand nehmen. Amelie zog sie zurück.

Mein Gott, dachte sie müde. Wann nur ist unser Leben zu solch einem Klischee verkommen?

«Was ist das für ein Brief?»

Irgendwie schaffte sie es, ganz sanft zu sagen: «Das Ultraschallbild von dem Kind, das sie erwartet. Von dir. Fünfter Monat», fügte sie hinzu.

Er erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie hatte vorher noch einen schwachen Zweifel gehabt, weil sie hatte zweifeln wollen. Doch die Art, wie er jetzt knapp an ihr vorbeischaute … Sein Schweigen sagte mehr, als sie wissen wollte.

«Ich kann das erklären.»

Sie hatte genug davon. Sie wusste, wie das ausgehen würde: Sie würde sagen, das brauche er nicht zu erklären, sie verstünde schon ganz gut. Er würde ihr seine Liebe beteuern und dass es nur sie gebe für ihn, woraufhin sie aufspringen und ihn beschimpfen würde. Und immer so weiter, bis beide erschöpft waren von einem Streit, dessen Ergebnis im Grunde von vornherein feststand.

Sie konnte nicht länger bleiben. Keine Sekunde mehr.

«Ist schon gut», sagte sie traurig. Sie stand auf.

Sie hatte immer gedacht, wenn sie heirateten, würde ihr das Halt geben. Sicherheit. Dann würde er nicht mehr woanders nach etwas suchen, das sie ihm offenbar nicht geben konnte.

Als sie von der Affäre erfuhr, hatte sie geglaubt, sie würde das schon durchstehen, denn sie hatte nicht an seiner Liebe gezweifelt. Hatte sich darauf verlassen, dass sie für ihn die Eine war.

Aber die Andere bekam jetzt sein Kind.

Er hatte sich mit ihr eine Familie gewünscht. So lange warteten sie noch nicht darauf, und das Warten ließ sie noch nicht verzweifeln. Aber die Andere war schneller gewesen und schenkte ihm jetzt, was er wollte.

Die Geliebte. Die Frau, die Amelie vor vier Monaten fast in die Flucht geschlagen hatte. Auch damals hatte sie einen Brief gefunden, den jemand – vermutlich jene Sabina selbst – durch den Briefschlitz geworfen hatte. Darin Fotos, aus einem Passfotoautomaten, auf denen diese fremde Frau – jünger, hübscher, schlanker, einfach mehr Frau, als Amelie sich je fühlen würde – Michael küsste. Er hatte nicht mal versucht, es zu leugnen. Stattdessen war er vor ihr auf die Knie gegangen und hatte sie gebeten, seine Frau zu werden.

Und sie war so dumm gewesen, Ja zu sagen. Hatte sich einlullen lassen von seinen Beteuerungen, es sei ein schrecklicher Fehler gewesen und werde nie wieder passieren.

Ihre Sachen standen schon gepackt im Schlafzimmer. Sie wuchtete den Koffer die Treppe runter, stellte die Handtasche darauf und kontrollierte noch mal alles. Dann holte sie die Laptoptasche aus dem Arbeitszimmer, packte das Notebook und den USB-Stick mit den Daten ein.

Michael stand im Flur, mit hängenden Schultern und einem waidwunden Blick, der sie fast, aber nur fast, glauben ließ, es könne doch alles ganz anders sein. Es gebe eine andere Erklärung, oder er werde sie aufhalten.

«Du hast also davon gewusst?»

Hilfloses Schulterzucken.

Das war für sie schlimmer als alles andere.

Sie rollte den Koffer zum Auto und verstaute das Gepäck im Kofferraum. Eine Reisetasche stand schon darin, außerdem ein Karton mit ihren wichtigsten Büchern. Alles bereit für die Flucht.

Er stand in der Tür, und ein heller Lichtkeil fiel hinter seinem Rücken in die Einfahrt. Sein Gesicht war in Schatten getaucht, und sie glaubte kurz, sich nicht mehr daran zu erinnern, wie er aussah.

«Amelie …»

«Mach’s gut, Michael.»

Sie stieg ein und setzte zurück. Ihre Finger waren eiskalt, und sie zitterte. Erst als sie zwei Straßen weiter an den Bordstein fuhr und die Hände vors Gesicht schlug, konnte sie weinen.

So schnell war es vorbei. Alles vergebens, alles verschenkt.

 

 

Was Beatrix nicht für möglich gehalten hatte, war geschehen. Sie hatte sich schon bei der ersten Begegnung in Henry verliebt.

Es passierte auf einem Ball im Mai des Jahres 1888. Beatrix wusste, was von ihr erwartet wurde. Sie war siebzehn und trug ein hübsches, taubengraues Kleid mit üppiger Turnüre. Die Männer schauten sie an, weil ihre fast schwarzen Haare und die großen, dunklen Augen im Zusammenspiel mit ihrer blassen Haut «aufregend» waren. So hatte es ihre Mutter ausgedrückt. Männer schauten nach aufregenden Frauen, die in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren ihren Unterarm schmückten. Also in jener Zeit, die es brauchte, bis genug Kinder geboren waren. Bis die Frau nicht mehr hübsch genug war. Manche zeigten sich danach ohne jedes Schamgefühl mit einer Mätresse, vorzugsweise mit einer, die auch bald Kinder zur Welt brachte.

Die Männer ihres Stands vermehrten sich gerne.

Beatrix wusste also, was von ihr erwartet wurde.

Schließlich war es viel leichter als gedacht. Henry Trisk stand vor ihr und bat sie um den nächsten Tanz. Als sie halb durch den Walzer waren, wusste Beatrix, dass sie ihn mochte. So sehr mochte, dass sie mit keinem anderen tanzen wollte.

Er war fast doppelt so alt wie sie, hochgewachsen und blond. Die sturmgrauen Augen strahlten hell im Glanz der Kerzen. «Ist Ihnen zu warm?», fragte er, als sie erhitzt und atemlos am Rand der Tanzfläche stehenblieb. Der Tanz hatte sie berauscht. Sie wollte nicht zurück zu ihrer Mutter, die mit den anderen Matronen in einer Ecke hockte und hinter Fächern versteckt die jungen Mädchen beurteilte wie Fohlen auf der jährlichen Auktion in Newmarket.

Darum nickte sie stumm.

«Wir könnten einen Moment an die frische Luft gehen.»

«Sehr gerne.» Strahlend blickte sie zu ihm auf. Er geleitete sie sicher zu den hohen Fenstertüren, und als sie in die kühle Spätfrühlingsnacht hinaustraten, wisperte ein feiner Nieselregen auf den großen Garten, in dem einige Pärchen flanierten. Beatrix hielt sich an seinem Arm fest. Sie achtete darauf, in Sichtweite der Türen zu bleiben, falls ihre Mutter ihnen folgte. Sie hatte Beatrix ermahnt, sich auf keinen Fall darauf einzulassen, falls ein Gentleman sich Freiheiten herausnehmen wollte.

Nun, dieser Gentleman war sogar ein Earl. Ob die Ermahnungen der Mutter dann noch immer zählten? Immerhin wäre Henry Trisk, der Earl of Hartford, eine ausgesprochen gute Partie. Reich, von Stand und noch dazu bei Hofe bekannt, wenn Beatrix recht informiert war. Sie liebte die Klatschspalten der Zeitung und war darin schon häufiger auf seinen Namen gestoßen.

Sie hatte ja nicht gewusst, dass sich hinter dem «Earl of H-, der wieder mit einer neuen Begleiterin erschien» ein so gut aussehender Kerl verbarg.

«Besser?»

«Viel besser.» Sie atmete tief durch. Das Korsett wurde ihr zu eng, aber sie wusste, dass es ihre schmale Taille hervorragend zur Geltung brachte.

«Warten Sie, da ist …» Er beugte sich vor und pflückte konzentriert ein Federchen aus ihrem Haar. «Hier. Sind Sie etwa ein verwunschener Schwan?»

Sie nahm die weiße Daunenfeder aus seiner Hand, und dabei berührten sich ihre Finger. Kein Zufall, bestimmt nicht. Er überließ sicher nichts dem Zufall.

«Mein Federkleid wäre eher schwarz.»

«Ah, kein Trauerschwan, nein. Obwohl ich sie schöner finde als ihre weißen Verwandten.»

«Es gibt schwarze Schwäne?» Das erstaunte sie, denn sie hatte davon noch nie gehört.

«Sie kommen vom anderen Ende der Welt. Aus Australien, Tasmanien. Im Londoner Zoo gibt es welche. Waren Sie noch nie dort?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Ich begleite Sie gern dorthin.»

«Das wäre … nett.»

War das etwa eine Art Werbung? Beatrix konnte es kaum glauben. Henry Trisk, Lebemann und Dauergast in den Klatschkolumnen, würde sicher niemals um sie werben, um ein armes, kleines Mädchen, das im Grunde doch keine Ahnung hatte vom Leben.

«Bee!»

Schuldbewusst fuhr sie herum. Ihre Mutter stand in der Terrassentür. Musik brandete aus dem Saal, und die Tanzenden wogten wie das Meer hinter ihr.

«Ich komme, Maman!»

Henry hielt ihre Hand fest, ehe sie verschwinden konnte.

«Ich will Sie wiedersehen.»

«Beim nächsten Ball.»

Er schüttelte den Kopf, und dann flüsterte er etwas, von dem sie nicht sicher war, ob sie es richtig verstanden hatte.

Dann lächelte er.

Sie lief leichtfüßig davon und folgte ihrer Mutter. Diese wollte sie unbedingt einem jungen Mann vorstellen, Absolvent in Eton und Cambridge, zweiter Sohn eines Baronets. Doch Beatrix war mit dem Herzen nicht dabei. Ihr Lächeln war kühl, beim Tanzen geriet sie aus dem Takt und trat ihm auf den Fuß.

Weil sie sich immer nach Henry umschauen musste.

 

Der Ball dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Auf dem Heimweg schwiegen alle erschöpft. Beatrix’ Mutter gähnte hinter dem Fächer, ihr Vater starrte aus dem Fenster. Beatrix taten die Füße weh.

Daheim taumelte sie die Treppe hinauf. Ihr erster Ball, und schon beim ersten Tanz hatte sie sich unsterblich in den Mann verliebt, von dem sie wusste, dass er von allen am wenigsten geeignet war für sie!

Statt in ihr eigenes Schlafzimmer schlich sie in das ihrer Schwester Anne. Sie schlief schon. Beatrix streifte achtlos ihr Ballkleid ab und ließ es zu Boden fallen. Erleichtert seufzte sie, als sie das Korsett endlich lockern konnte, und kroch zu Bumble unter die Bettdecke.

«Bee», murmelte ihre kleine Schwester im Schlaf.

«Ich bin ja da, Bumble.»

«Hat dich heute ein Prinz geküsst?»

«Beinahe. Aber es war nur ein Earl.»

«Das ist gut …»

Schon war Anne wieder eingeschlafen, und auch Beatrix sank in einen zutiefst erschöpften Schlaf, in dem sie sich im schwindelerregenden Walzertakt mit Trisk drehte und lachte.

Kapitel 2

Sie wusste nicht, wohin mit sich, und weil ihr nichts Besseres einfiel, fuhr sie zu ihrer Mutter.

Sie rief von unterwegs an. Manchmal hatte ihre Mutter Besuch, dem Amelie nicht unbedingt abends halbnackt im Flur oder morgens im Badezimmer begegnen wollte. Außerdem wollte sie fragen, ob das Gästezimmer frei war.

Ihre Mutter hatte viele Freunde in allen Winkeln Deutschlands und in vielen Winkeln der Welt, und all diese Freunde reisten gerne. Sie quartierten sich vorzugsweise bei Amelies Mutter ein und blieben auch gerne mal für ein paar Wochen. Legendär war der Großonkel aus Sizilien – zumindest behauptete er, der Großonkel ihrer Mutter zu sein –, der ein halbes Jahr blieb. In der Zeit ließ er sich die Zähne komplett sanieren und fuhr drei Autos zu Schrott. Von den zwei Kanistern Olivenöl, die er als Gastgeschenk mitbrachte, zehrten sie danach noch jahrelang.

Damals war Amelie fünfzehn, und sie hatte es schrecklich amüsant gefunden, wie Giglio ihre Mutter ständig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte.

«Mama? Mama, kann ich zu dir kommen?» Ihre Stimme kiekste.

«Kind, was ist passiert?»

Amelie wollte darauf nicht antworten. Nicht am Telefon, nicht, während sie ihren Kleinwagen durch die nächtliche Großstadt lenkte. «Darf ich? Ist das Gästezimmer frei?»

«Natürlich, komm nur her. Aber du erzählst mir, was passiert ist, ja?» Und nach kurzer Pause: «Ist was mit Michael? Habt ihr wieder gestritten? Ist es wegen dieser blöden Sabina?»

«Mama, bitte. Ich erzähl dir alles, wenn ich da bin.»

«Hast du einen anderen? Ist er dir draufgekommen? Kind, du weißt doch …»

Amelie legte auf. Sie hatte keine Lust auf die Moralpredigten einer Frau, die ihre Männer so schnell wechselte wie ihre Launen.

Berlin war groß, und ihre Mutter wohnte am anderen Ende der Stadt. Amelie brauchte eine halbe Stunde, ehe sie den Wagen vor dem Mehrfamilienhaus parken und mit Reisetasche und Messengerbag (in der ihr wichtigster Besitz war: das Notebook) die Treppe zum dritten Stock hochwanken konnte.

Inzwischen war es kurz vor Mitternacht. Die Tür zur Wohnung ihrer Mutter war angelehnt, irgendwer hatte den Summer gedrückt, nachdem Amelie geklingelt hatte. Das Flurlicht ging auf halbem Weg aus, und sie stolperte im Dunkeln nach oben.

Im Wohnungsflur war niemand. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Lachen, dann Stimmen, die wild aufeinander einredeten.

Jetzt fiel es Amelie wieder ein. Heute war Donnerstag. Donnerstags traf sich immer der Buchclub bei ihrer Mutter.

Sie stellte die Taschen ins Gästezimmer und ging nach unten, um den Koffer zu holen. Den Bücherkarton konnte sie über Nacht im Auto lassen, den klaute in dieser Gegend niemand.

Nachdem sie auch den Koffer ins Gästezimmer gebracht hatte, ging sie weiter ins Wohnzimmer.

«Und dann muss man ja immer auch bedenken, wie wenig Rücksicht Major Crampas nimmt», hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Acht Frauen saßen auf dem Sessel und auf den beiden Sofas um den niedrigen Couchtisch herum, Frauen unterschiedlichen Alters, die allesamt eine Fischer-Klassik-Ausgabe von Effi Briest in den Händen hielten und aufgeregt darin blätterten, während Amelies Mutter ihnen erklärte, wie unverschämt sie es von den Männern fand, wenn diese sich ihrer Verantwortung entzogen.

Amelie verbiss sich einen Kommentar. Sie lehnte in der Tür und wartete, bis ihre Mutter fertig war.

«Und darum ist der wahre Bösewicht für mich der Major!», schloss sie und blickte endlich auf. Ihr Gesicht war von der hitzigen Diskussion gerötet. «Liebes!», rief sie, sprang auf und eilte auf Amelie zu. Sie schloss ihre Tochter in die Arme, drückte sie fest an sich und schob sie dann auf Armeslänge von sich. «Möchtest du dich zu uns setzen? Wir besprechen gerade Effi Briest.»

Wenn Amelie erst anfing, sich an der Diskussion zu beteiligen, würde es schon bald zu einem hässlichen Streit mit ihrer Mutter kommen, die schlicht und einfach immer bei der Analyse der Romane vergaß, sie im Kontext zu sehen. Zum Beispiel berücksichtigte sie nie, dass eine Effi Briest und ein Major Crampas in einer ganz anderen Zeit gelebt hatten – ebenso wie der Autor. Amelie hingegen war diese Herangehensweise als Historikerin in Fleisch und Blut übergegangen.

«Danke, nein. Ich will eigentlich nur schlafen. Aber ich wünsch euch noch viel Spaß.»

Irgendwie schaffte sie es, unverbindlich zu lächeln. «Schönen Abend noch», sagte sie.

«Kind, hast du was gegessen?», rief ihre Mutter. «In der Küche steht Mitternachtssuppe.»

Eigentlich wollte sie nichts essen. Aber die Vernunft siegte, daher ging Amelie in die Küche, füllte Suppe in eine Schüssel und nahm sich ein Stück frischduftendes, krosses Brot. Sie zog sich ins Gästezimmer zurück und schloss die Tür.

Endlich Ruhe. Das Lachen und Diskutieren der acht Frauen drang nur noch wie ein Flüstern zu ihr, und sie konnte fast vergessen, dass sie wieder in der Wohnung ihrer Mutter war, im Gästezimmer auch noch, weil ihr altes Kinderzimmer inzwischen einer Bibliothek hatte weichen müssen.

Sie löffelte die Suppe und aß das Brot. Alles schmeckte pappig, und sie verbrannte sich jämmerlich die Zunge.

Die Sachen konnte sie morgen auspacken. Nach dem Essen brachte sie das Geschirr in die Küche, ging mit dem Kulturbeutel ins Bad und anschließend zurück in ihr Zimmer. Sie zog sich aus, kroch unter die kalte Bettdecke, die nach fremden Menschen roch, und schloss erschöpft die Augen.

Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie wenigstens die Welt da draußen ausblenden.

Das Lachen wurde lauter, die Freundinnen ihrer Mutter brachen auf. Flüstern, Kichern, «Grüß sie schön von uns» und «Sie sah wirklich schlecht aus». Jemand trat versehentlich gegen die Tür, und Amelie fuhr aus dem Halbschlaf auf, in den sie sich mit Mühe versenkt hatte. Dann war alles still.

«Du bist also weggelaufen.»

Ihre Mutter stand in der Tür. Verschlafen fuhr Amelie hoch. Es war hell im Zimmer, irgendwann musste sie wohl doch eingeschlafen sein, ohne zu wissen, wann und wie und warum.

«Mama. Ist schon Morgen?»

«Halb acht bald. Kaffee? Ich mach uns Frühstück.»

Schon war sie weg, und Amelie lag einen Moment lang auf dem Rücken und lauschte den Geräuschen in der Wohnung. Dem Klappern in der Küche, dem Zischen und Gurgeln des Boilers. Dann rappelte sie sich auf und schlurfte ins Badezimmer. Ihr taten alle Knochen weh.

Nach einer Dusche fühlte sie sich nicht unbedingt besser, aber immerhin sah sie sich in der Lage, ihrer Mutter entgegenzutreten. Der Frühstückstisch war üppig gedeckt: frische Brötchen und Croissants vom Bäcker, frischgepresster Orangensaft, Aufschnitt und Käse und selbstgemachte Marmelade. Dazu für jeden ein Ei und eine Schale Obstsalat.

Amelie hätte lieber Porridge gehabt.

«Und nun erzähl.»

Ihre Mutter schenkte Kaffee ein. Amelie zog die Zuckerdose zu sich und schaufelte den Zucker löffelweise in ihren Kaffee.

«Ich mag nicht erzählen.»

«Bitte, musst du nicht. Ich kann mir schon denken, was passiert ist.»

«Ja, wirklich. Kannst du das.»

«Ach, du bist eben wie deine Mutter. Früher oder später brichst du aus.» Amelies Mutter strahlte. Sie langte über den Tisch und tätschelte Amelies Arm. «Ist doch nicht schlimm. Er war ein netter Kerl, aber ich fand ihn immer schon zu brav für dich.»

Dabei war sie immer Michaels größter Fan gewesen. Amelie verbiss sich einen giftigen Kommentar.

Erstaunlich, sie hatte gedacht, nach dem gestrigen Tag und der Mitternachtssuppe könnte sie nie wieder was essen. Aber sie spürte Hunger und griff ordentlich zu.

«Und was machst du jetzt? Du wirst dir wohl eine eigene Wohnung suchen müssen. Hierbleiben kannst du nicht auf Dauer.»

«Das hatte ich auch gar nicht vor, Mama.»

«Ich sag’s nur. Ist nicht bös gemeint.» Ihre Mutter angelte eine Zigarette aus der Schachtel. «Was genau hat er denn diesmal angestellt, dass du mitten in der Nacht die Koffer packst? Oder hat er dich vor dir Tür gesetzt?», fragte sie, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und das Feuerzeug in der Hand. «Es ist doch nicht immer noch wegen der alten Geschichte mit dieser … wie hieß sie gleich wieder? Simone?»

«Sabina. Wenn du das sagst, klingt’s gerade so, als wäre das schon Jahre her.»

«Ach, Liebes. Irgendwann ist ja auch mal gut. Du hast ihm verziehen, und dann musst du auch bleiben.»

Amelie atmete tief durch. «Ich bin gegangen. Er hat … du hast recht, es ist wegen Sabina. Sie ist schwanger. Fünfter Monat.»

«Oh.» Ihre Mutter ließ die Hände sinken. «Das tut mir leid, Amelie.»

Sie wirkte tatsächlich betroffen. Natürlich hatte Amelie ihr vor vier Monaten alles erzählt, von den Fotos, von ihrem Streit mit Michael und seinem Heiratsantrag. Ihre Mutter war wegen der ganzen Sache sehr aufgebracht gewesen. Gar nicht mal sosehr wegen Michaels Fehltritt. So was passierte eben irgendwann in einer langen Beziehung, und als Frau sollte man am besten über solche Dinge hinwegsehen. Nein, sie fand, er hätte besser aufpassen müssen. Wenn er schon fremdging, hätte er die Sache schnell beenden müssen und dann doch bitte dafür sorgen sollen, dass sich die Geliebte zurückhielt und nicht so einen Wirbel veranstaltete.

Aber mit seinem Heiratsantrag hatte er ja im Grunde schon wieder Abbitte geleistet. Für sie war das Beweis genug, dass er Amelie wirklich liebte.

Für Amelie war es längst nicht so einfach.

Amelie zuckte mit den Schultern. «Muss es nicht. Ist schon komisch, irgendwie hab ich mich in den letzten Wochen so merkwürdig gefühlt. Ich hab keinen Verdacht geschöpft, weißt du? Wir haben einfach weitergemacht wie bisher, und es war alles so normal. Aber in mir war ständig so ein nervöses Kribbeln.»

«Er hat von der Schwangerschaft gewusst?» Susel schüttelte enttäuscht den Kopf. «Ach, Mensch! Liebes, das ist wirklich schlimm. Aber ihr kriegt das doch wieder hin, oder?»

Das wusste Amelie nicht. Nein, eigentlich wusste sie es. Diesmal hatte sie ihre Sachen gepackt.

«Das nervöse Kribbeln hast du von mir, ich hatte das auch schon immer, wenn Unheil droht. Aber gib jetzt nicht auf, hörst du? Ihr passt so gut zusammen.»

Das war so ein typischer Mama-Satz. Amelie versteckte ihr Gesicht hinter dem großen Kaffeebecher und enthielt sich eines Kommentars.

«Ich will nicht um ihn kämpfen müssen, ehrlich gesagt.» Sie atmete tief durch. «Wir wollten schließlich auch Kinder, aber bisher hat’s nicht geklappt. Und jetzt das hier.» Sie hatte den Brief dabei. Zusammen mit dem Ultraschallbild schob sie ihn über den Frühstückstisch. «Sie will ihn. Sie kämpft.»

Ihre Mutter rauchte, las den Brief und würdigte das Ultraschallbild keines Blicks. Für Kinder hatte sie im Grunde nichts übrig; das war schon früher so gewesen. Wie sie es gehasst hatte, wenn Amelie sie Mama nannte! Amelie tat es trotzdem, bis heute.

«Tja, nicht so schön. Aber ihn zu verlassen ist doch auch keine Lösung?»

«Bei ihm bleiben kann ich jedenfalls im Moment auch nicht.»

«Und was hast du dann vor? So ganz auf dich gestellt?»

Amelie wusste, worauf ihre Mutter anspielte. Sie hatte keinen Job, und in den letzten Monaten war Michael für sie aufgekommen.

«Ich hab noch ein bisschen Geld. Ich wollte mal mit meinem Verleger sprechen, vielleicht kann ich einen Vorschuss bekommen. Und dann … Vielleicht mache ich die Recherchereise, die ich mir schon so lange vorgenommen habe.»

«Abstand gewinnen, das ist gut. Danach könnt ihr noch mal in aller Ruhe über alles reden.» Ihre Mutter nickte zufrieden. «Ihr kriegt das schon wieder hin.»

«Was denn?»

«Eure Beziehung. Du wirst doch nicht alles hinwerfen wegen so einer Kleinigkeit?»

Da dämmerte es Amelie. «Das meinst du nicht ernst, oder? Du willst doch nicht etwa andeuten, ich soll zu ihm zurück?»

«Es gibt Schlechtere. Und wenn du ehrlich bist, kannst du doch gar nicht ohne eine Beziehung leben.»

Ehe Amelie antworten konnte, schrillte die Türklingel.

Wie aufs Stichwort.

«Das ist nicht Michael, oder?»

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. «Vielleicht. Kann auch der Postbote sein.» Sie verschwand so schnell im Flur, dass Amelie völlig perplex am Küchentisch zurückblieb.

Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie sitzen blieb. Vielleicht, weil sie hoffte, es sei wirklich der Postbote.

Aber ein Postbote brachte keinen riesigen Strauß Tulpen mit. Und das war das Erste, was sie von Michael sah, dicht gefolgt von seinem braunen Wuschelkopf. An den Schläfen wurde er schon grau. Das fiel ihr heute zum ersten Mal auf.

«Amelie …», begann er leise, aber sie hob nur die Hand und drehte das Gesicht von ihm weg, weil sie es einfach nicht ertrug, ihn da in der Küchentür stehen zu sehen. Er verstummte sofort.

«Jetzt setz dich erst mal hin, Michael.» Ihre Mutter flatterte in die Küche und rückte ihm einen Stuhl zurecht. «Hier, ich hole dir ein Gedeck. Möchtest du ein gekochtes Ei? Ich geb dir meins.»

Warum?, fragte Amelie mit flehendem Blick ihre Mutter. Wieso holst du ihn her?

«Ach, schon so spät. Kinder, ich muss los. Aber ihr vertragt euch ja, nicht?» Der mahnende Blick galt vor allem Amelie. «Dann wird schon alles wieder gut.» Mama drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Amelie verzog das Gesicht. Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss. Die Kaffeemaschine gurgelte und schnaubte.

«Da sind wir also.» Er räusperte sich.

Amelie blickte auf. Gott, wie sehr sie ihn hassen wollte! Er saß da am perfekten Frühstückstisch, mit dem perfekt gebügelten Hemd und der perfekten Bügelfalte in der Hose. Perfekt, perfekt, perfekt. Dieses Lächeln! Sie hatte vergessen, wie sehr sie sich immer einen Mann wie ihn gewünscht hatte. Einen, der ihr Sicherheit schenkte, der sie heiratete, mit ihr eine Familie gründete. Der sie glücklich machte.

Vier Jahre ließen sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Sie konnte nicht abends das gemeinsame Haus verlassen, und am nächsten Morgen war der Schmerz vorbei.

Vor allem schmerzte, wie sehr sie ihn in diesen wenigen Stunden vermisst hatte.

«Willst du jetzt die Geschichte hören?», fragte er leise.

«Würde es denn was ändern?»

Vor vier Monaten hatte sie nichts hören wollen. Damals hatte sie ihn angefleht, nicht zu viel zu erzählen. Sie wollte nicht, dass die Andere ein Gesicht bekam.

Ihr genügte der Name.

«Ich hoffe, du verstehst mich dann …»

Sie schwiegen. Amelie konnte auf diese Frage unmöglich eine Antwort geben, und Michael wartete. Er war jetzt so rücksichtsvoll. Viel rücksichtsvoller als sonst.

«Sie … Du weißt ja, sie ist bei uns am Institut, seit einem Jahr.»

Amelie nickte, obwohl die Details über Sabina sie überhaupt nicht interessierten. Sie war die Andere, das genügte.

«In ihrer Doktorarbeit geht es um … Ach, das ist ja nicht so wichtig. Es war vorbei, Amelie. Nachdem sie dir diese Fotos zugespielt hatte, war es wirklich sofort vorbei. Aber vor knapp zwei Monaten …» Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. «Da kam sie zu mir. Sie war völlig aufgelöst, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Hätte ich sie zu einer Abtreibung überreden sollen? Wäre dir dann jetzt wohler?»

«Du widerst mich so an», flüsterte sie.

«Ich wollte das nicht, Amelie.»

Aber sie wollte auch nicht. Nicht zuhören, nicht daran glauben, dass sich alles änderte, dass er sich besserte.

Sie wollte nur noch weg.

«Wenn’s doch so ist …» Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. «Bitte, Amelie, glaub mir, ich wollte nie … Ich will dich nicht verlassen. Für mich bist du die Richtige. Ich will dich heiraten. Mit dir eine Familie gründen.»

«Dumm nur, dass das alles bisher nicht so geklappt hat, wie du’s dir vorgestellt hast», erwiderte sie bitter. «Da hältst du dir eben eine Mätresse, die dir auch bald schon das Familienglück bietet, das ich dir ja nicht geben kann.»

«Am, bitte …» Michael rückte näher und wollte ihre Hand nehmen. Sie entzog sich ihm.

«Nicht.»

Er ließ die Hände sinken. Seine blauen Augen musterten sie prüfend, fast flehend. «Du kannst doch nicht einfach gehen», flüsterte er.

«Danke, ich hab genug gehört.» Das Schlimmste war, dass sie jetzt, nachdem sie den Brief bekommen hatte, in seinem Gesicht ganz genau die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden vermochte. Wie eine unterschwellige Stimme, die sie zuvor einfach nicht gehört hatte. Nicht hatte hören wollen.

Und diese Stimme flüsterte ihr gerade ins Ohr, dass er gar nicht daran dachte, die Frau im Stich zu lassen, die sein Kind erwartete.

Die Andere.

Sie stand abrupt auf und ging ins Gästezimmer. Begann, die Sachen wieder in die Reisetasche zu stopfen, schüttelte das Bett auf und legte das Notebook zurück in die Laptoptasche. Michael folgte ihr. Schweigend stand er in der Tür.

Erst als sie sich aufs Bett setzte und die Stiefel anzog, begann er zu sprechen.

«Wir kamen uns vor einem halben Jahr näher, als du und ich … na ja, als wir unsere Differenzen hatten.»

Differenzen. So nannte er das also. Nach einem halben Jahr, in dem sie vergeblich versucht hatten, ein Kind zu zeugen, hatte er ihr vorgeworfen, es müsse ja an ihr liegen. Sie hatte darauf verletzt reagiert, welche Frau täte das nicht?

Und jetzt war seine Geliebte schwanger.

Lag es wohl doch an ihr, dass sie nicht schwanger wurde.

Sie schüttelte heftig den Kopf und rieb die Nase an der Schulter, um nicht loszuweinen.

«Wir haben das nicht gewollt, es ist einfach passiert. Und es war wirklich vorbei. Als sie zu mir kam, wollte ich nichts davon hören. Es ist mir egal, dass sie ein Kind bekommt. Es könnte … Meine Güte, wenn’s nach mir ginge, könnte das Kind von sonst wem sein. Ich fühle mich ihr nicht verpflichtet, und das habe ich ihr genau so gesagt. Seitdem hat sie sich von mir zurückgezogen, und …» Er verstummte. Als ginge ihm jetzt erst auf, warum sie das getan hatte.

Sie hatte ihn in Sicherheit gewiegt. Er hatte geglaubt, damit sei er aus dem Schneider.

Weil er nichts sagte, blickte sie auf. Michael zuckte mit den Schultern. «Und jetzt das.»

«Das ändert alles, verstehst du? Du kannst dich nicht aus der Verantwortung stehlen. Sie bekommt ein Kind von dir. Das hast du dir doch immer gewünscht, nicht wahr? Ein Kind. Familie. Sie bietet dir das.»

«Was genau hat sie … ich meine, woher weißt du das alles?»

Schweigend ging sie in die Küche und holte den Brief.

Sie kannte ihn inzwischen fast auswendig.

Liebe Frau Franck,

Sie kennen mich nicht, und das ist auch ganz gut so.

Ich möchte Sie bitten, Michael freizugeben. Sie kennen ihn und wissen genauso gut wie ich, was er will. Anbei finden Sie mein Argument.

Mit freundlichen Grüßen

Sabina Dahlmeyer

«Wir wissen beide, warum sie das tut.» Michael gab ihr den Brief zurück, aber Amelie verschränkte die Arme vor der Brust.

«Sie versucht, uns auseinanderzutreiben. Aber du musst mir glauben … Ich will das nicht. Ich will sie nicht, und was ihr Kind angeht …»

«Für euer Kind wirst du zahlen müssen.» Es ging ihr nicht ums Geld, aber im Moment war der finanzielle Aspekt das Einzige, was sie noch ins Feld führen konnte.

«Ja, meinetwegen. Dann zahle ich eben für das Kind. Aber bitte glaub mir, dass das alles nichts mit uns zu tun hat.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Komm bitte wieder mit nach Hause. Am … Ich brauche dich.»

«Aber ich brauche dich im Moment nicht.»

Er ließ die Arme sinken. Seine Hilflosigkeit hätte sie unter anderen Umständen gerührt. Jetzt fand sie sie einfach nur anstrengend.

«Und was machst du? Wo willst du hin?»

«Ich fahre weg. Nach Pembroke. Ich muss an dem Buch arbeiten, und vielleicht tut uns der Abstand gut.»

«Du willst mich verlassen.»