Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «The Wife Between Us» bei St. Martin’s Press, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Wife Between Us» Copyright © 2018 by Greer Hendricks and Sarah Pekkanen
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt nach der Originalausgabe von St. Martin’s Press (Design Olga Grlic)
Umschlagabbildung Oleg Gekman/shutterstock.com
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ISBN Printausgabe 978-3-499-29117-3 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40149-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40149-5
Von Greer:
Für John, Paige und Alex, voller Liebe und Dankbarkeit
Von Sarah:
Für diejenigen, die mich ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben
Mit wehendem blondem Haar, roten Wangen und einer Sporttasche am Unterarm geht sie zügig den Bürgersteig entlang. Vor dem Gebäude, in dem sie wohnt, holt sie ihre Schlüssel aus der Handtasche. Die Straße ist laut und sehr belebt: Gelbe Taxis rasen vorüber, Pendler kehren von der Arbeit zurück, Leute betreten den Deli an der Ecke. Doch ich lasse die blonde Frau nicht einen Moment aus den Augen.
An der Tür sieht sie sich noch einmal kurz um, und es fühlt sich an wie ein elektrischer Schlag. Ich frage mich, ob sie meinen Blick spürt. Blickdetektion nennt man das – unsere Fähigkeit wahrzunehmen, dass wir beobachtet werden. Ein ganzes System im menschlichen Gehirn ist diesem genetischen Erbe unserer Vorfahren gewidmet, die sich darauf verließen, um nicht zur Beute eines Raubtiers zu werden. Ich habe diesen Schutzmechanismus kultiviert, dieses Kribbeln im Nacken, bei dem mein Kopf sich instinktiv dreht, um nach einem Paar Augen Ausschau zu halten. Aus Erfahrung weiß ich, wie gefährlich es ist, diese Warnung zu missachten.
Doch sie dreht sich einfach wieder um, öffnet die Haustür und geht hinein, ohne in meine Richtung zu sehen.
Sie weiß nicht, was ich ihr angetan habe.
Sie ahnt nicht, welchen Schaden ich ihr zugefügt, welches Verhängnis ich in Gang gesetzt habe.
Für diese schöne junge Frau mit dem herzförmigen Gesicht und dem sinnlichen Körper – die Frau, deretwegen Richard, mein Ehemann, mich verlassen hat – bin ich ebenso unsichtbar wie die Taube, die auf dem Bürgersteig neben mir nach Nahrung pickt.
Sie hat keine Ahnung, was mit ihr geschehen wird, wenn sie so weitermacht. Nicht die geringste.
Nellie hätte nicht sagen können, was sie geweckt hatte. Doch als sie die Augen aufschlug, stand eine Frau, die ihr weißes Spitzenhochzeitskleid trug, am Fußende ihres Betts und sah auf sie herab.
Sie stieß einen erstickten Schrei aus und griff nach dem Baseballschläger, der an ihrem Nachttisch lehnte. Dann gewöhnten ihre Augen sich an das körnige Dämmerlicht, und ihr wild hämmerndes Herz beruhigte sich ein wenig.
Als Nellie begriff, dass sie in Sicherheit war, entfuhr ihr ein gepresstes Lachen. Die vermeintliche Frau war bloß ihr Hochzeitskleid, das sie gestern, noch in Folie gehüllt, an die Schranktür gehängt hatte, nachdem sie es aus dem Brautmodengeschäft abgeholt hatte. Das Oberteil und der Tellerrock waren mit Seidenpapier ausgestopft, damit sie die Form bewahrten. Nellie sank zurück aufs Kopfkissen. Als ihre Atmung sich wieder normalisiert hatte, sah sie auf den Wecker mit den klobigen blauen Zahlen. Zu früh, wieder einmal.
Sie streckte den Arm nach dem Wecker aus, ehe er losplärren konnte; der Diamantverlobungsring an ihrer linken Hand, ein Geschenk von Richard, fühlte sich schwer und ungewohnt an.
Schon als Kind hatte Nellie nicht leicht einschlafen können. Ihre Mutter hatte keine Geduld für ausgedehnte Einschlafrituale gehabt, doch ihr Vater hatte ihr immer sanft den Rücken massiert und ihr mit dem Finger Sätze aufs Nachthemd geschrieben wie Ich liebe dich oder Du bist etwas ganz Besonderes, und sie hatte versuchen müssen zu erraten, was er da schrieb. Oder er hatte Muster, Kreise, Sterne und Dreiecke gezeichnet – jedenfalls bis ihre Eltern sich scheiden ließen und er auszog. Da war sie neun gewesen. Von nun an lag sie allein in ihrem großen Bett unter ihrer rosa und lila gestreiften Bettdecke und starrte auf den Wasserfleck, der ihre Zimmerdecke verunzierte.
Wenn sie endlich eindöste, schlief sie normalerweise tief und fest, sieben oder acht Stunden lang – so tief und traumlos, dass ihre Mutter sie manchmal regelrecht wach rütteln musste.
Doch das änderte sich schlagartig nach einer gewissen Oktobernacht in ihrem letzten Jahr auf dem College.
Ihre Schlafstörungen verschlimmerten sich rasant. Nun zerstückelten lebhafte Träume, aus denen sie abrupt aufwachte, ihre Nachtruhe. Einmal erzählte eine der Schwestern aus ihrer Studentenverbindung beim Frühstück, Nellie habe nachts irgendetwas Unverständliches geschrien. Sie versuchte, es abzutun: «Die Prüfungen stressen mich. Diese Psycho-Statistik-Klausur soll der Horror sein.» Dann stand sie vom Tisch auf und holte sich eine weitere Tasse Kaffee.
Danach zwang sie sich, die Collegepsychologin aufzusuchen, doch trotz des behutsamen Zuspruchs der Frau konnte Nellie nicht über jenen warmen Herbstabend sprechen, der mit Wodkaflaschen und Heiterkeit begonnen und mit Polizeisirenen und Verzweiflung geendet hatte. Nellie suchte die Therapeutin zweimal auf, doch den dritten Termin sagte sie ab, und von da an ging sie nie wieder zu ihr.
Einiges davon hatte Nellie Richard erzählt, als sie beim Erwachen aus einem ihrer wiederkehrenden Albträume gespürt hatte, wie er die Arme um sie legte, während er ihr mit seiner tiefen Stimme ins Ohr flüsterte: «Ich halte dich, Baby. Bei mir bist du in Sicherheit.» In seinen Armen fühlte sie sich so sicher, wie sie es sich ihr ganzes Leben lang ersehnt hatte, sogar schon vor dem Vorfall. Neben Richard konnte Nellie sich endlich dem verwundbaren Zustand des Tiefschlafs überlassen. Es fühlte sich an, als wäre der unsichere Boden unter ihren Füßen endlich solide geworden.
Gestern Abend jedoch war Nellie allein in ihrer Wohnung im Erdgeschoss des alten Brownstone-Gebäudes gewesen. Richard war geschäftlich in Chicago, und ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Samantha hatte bei ihrem neuen Freund übernachtet. Der Lärm der Stadt war durch die alten Mauern gedrungen: Hupen, hin und wieder Geschrei, Hundegebell … Obwohl die Verbrechensrate in der Upper East Side die niedrigste in ganz Manhattan war, waren die Fenster mit Stahlgittern gesichert, und drei Schlösser verstärkten die Wohnungstür, darunter das dicke, das Nellie nach dem Einzug angebracht hatte. Dennoch hatte sie ein zusätzliches Glas Chardonnay benötigt, um einschlafen zu können.
Nellie rieb sich die verklebten Augen, schälte sich langsam aus dem Bett und zog ihren Frotteebademantel an. Dann betrachtete sie nochmals das Kleid und fragte sich, ob sie versuchen sollte, in ihrem winzigen Kleiderschrank Platz dafür zu schaffen. Doch der Rock war so ausladend. Im Brautmodengeschäft, umgeben von seinen aufgeplusterten, paillettenbestickten Schwestern, war es ihr schlicht und elegant erschienen, wie ein einfacher Haarknoten im Vergleich zu einer aufwendigen Toupierfrisur. Aber neben den Kleiderhaufen und dem billigen IKEA-Regal in ihrem vollgestopften Zimmer erinnerte es mit einem Mal bedenklich an das Gewand einer Disney-Prinzessin.
Doch das ließ sich nicht mehr ändern. Der Hochzeitstermin rückte schnell näher, und jedes Detail war festgelegt, bis hin zum Tortenaufsatz – einer blonden Braut mit ihrem gutaussehenden Bräutigam, in einem perfekten Augenblick erstarrt.
«Meine Güte, die sehen sogar so aus wie ihr zwei», hatte Samantha gesagt, als Nellie ihr ein Foto von den altmodischen Porzellanfigurinen gezeigt hatte, das Richard ihr gemailt hatte. Der Aufsatz hatte seinen Eltern gehört, und nachdem Richard ihr den Antrag gemacht hatte, hatte er das Erbstück aus dem Keller geholt. Sam hatte die Nase gerümpft. «Schon mal auf die Idee gekommen, dass er zu gut ist, um wahr zu sein?»
Richard war sechsunddreißig, neun Jahre älter als Nellie, und ein erfolgreicher Hedgefondsmanager. Er hatte den drahtigen Körper eines Läufers, dunkelblaue Augen und ein unbeschwertes Lächeln, das über seinen eindringlichen Blick hinwegtäuschte.
Bei ihrer ersten Verabredung hatte er sie in ein französisches Restaurant eingeladen und mit dem Sommelier kenntnisreich über weißen Burgunder gesprochen. Bei ihrer zweiten Verabredung an einem verschneiten Samstag hatte er ihr vorher gesagt, sie solle sich warm anziehen, und war dann mit zwei leuchtend grünen Plastikschlitten erschienen. «Ich kenne den besten Hügel im Central Park», hatte er gesagt.
Er hatte eine ausgeblichene Jeans getragen und darin eine ebenso gute Figur gemacht wie in seinen tadellos sitzenden Anzügen.
Als Nellie auf Sams Frage geantwortet hatte: «Das denke ich jeden Tag», war das kein Witz gewesen.
Während sie über die sieben Stufen in die winzige Küchenzeile tappte, unterdrückte sie ein neuerliches Gähnen. Der Linoleumboden unter ihren nackten Füßen war kalt. Sie schaltete die Deckenlampe ein und stellte fest, dass das Honigglas – wieder einmal – völlig verklebt war, nachdem Sam ihren Tee gesüßt hatte. Der zähflüssige Honig war an der Seite herabgesickert und hatte eine bernsteinfarbene Lache gebildet, in der jetzt eine Kakerlake zappelte. Noch nach all den Jahren, die sie mittlerweile in Manhattan lebte, wurde ihr bei diesem Anblick ein wenig übel. Sie schnappte sich eine von Sams schmutzigen Tassen aus der Spüle und stülpte sie über das Insekt. Soll sie sich damit befassen, dachte Nellie. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein, und während sie wartete, klappte sie ihren Laptop auf und las ihre E-Mails: Prozente bei Gap; ihre Mutter war anscheinend Vegetarierin geworden und bat Nellie, darauf zu achten, dass es beim Hochzeitsessen eine fleischlose Alternative gab; und eine Benachrichtigung, dass ihre Kreditkartenzahlung fällig war.
Dann schenkte sie sich Kaffee in eine Tasse ein, die mit Herzchen und den Worten Weltbeste Kindergärtnerin verziert war. Sie und Samantha, die ebenfalls als Erzieherin bei Learning Ladder arbeitete, hatten im Küchenschrank ein Dutzend solcher Tassen stehen. Dankbar trank sie einen Schluck Kaffee. Sie hatte heute zehn Frühjahrsbesprechungen mit Eltern ihrer Gruppe von Dreijährigen. Ohne Koffein bestünde die Gefahr, dass sie in der «Ruhe-Ecke» einschlief, dabei musste sie hellwach sein. Als Erstes waren die Porters dran, die erst neulich per Mail beklagt hatten, der Gruppenraum lasse zu wenig Kreativität zu. Sie hatten ihr empfohlen, das große Puppenhaus durch ein Riesen-Tipi zu ersetzen, und einen Link angefügt, wo man eines für 229 Dollar erwerben konnte.
Wenn sie zu Richard zog, würde sie die Porters kaum mehr vermissen als die Kakerlaken, befand Nellie. Sie warf noch einen Blick auf Samanthas Tasse, bekam Gewissensbisse, nahm das Insekt mit einem Papiertuch auf und spülte es in der Toilette hinunter.
Als Nellie gerade die Dusche aufdrehte, klingelte ihr Handy. Sie hüllte sich in ein Handtuch und lief in ihr Zimmer, um das Telefon aus ihrer Handtasche zu holen, doch dort war es nicht. Ständig verlegte sie das Ding. Am Ende wurde sie zwischen den Falten ihrer Bettdecke fündig.
«Hallo?»
Keine Antwort.
Im Display stand «Unbekannte Rufnummer». Gleich darauf erhielt sie eine Mailbox-Benachrichtigung. Sie drückte eine Taste, um die Nachricht abzuhören, vernahm jedoch nur ein schwaches rhythmisches Geräusch. Atem.
Bloß Telefonmarketing, sagte sie sich, während sie das Handy wieder aufs Bett warf. Nichts Ungewöhnliches. Sie überreagierte wieder einmal. Es war einfach alles zu viel. Schließlich würde sie in den nächsten Wochen ihren Teil der Wohnung ausräumen, zu Richard ziehen und mit einem Strauß weißer Rosen in ihr neues Leben schreiten. Veränderungen zehrten an den Nerven, und im Moment standen eine ganze Menge davon an.
Dennoch: Es war der dritte Anruf in drei Wochen.
Sie sah zur Wohnungstür. Das Bolzenschloss aus Stahl war zugesperrt.
Sie ging zurück ins Bad, machte noch einmal kehrt, nahm ihr Handy mit und legte es auf den Rand des Waschbeckens. Dann schloss sie die Tür ab, hängte das Handtuch auf die Stange, betrat die Duschkabine und schreckte zurück, als kaltes Wasser auf ihren Körper spritzte. Sie passte die Temperatur an und rieb sich die Arme.
Im Nu erfüllte Dampf die Duschkabine, und Nellie ließ das heiße Wasser über die Verspannungen in ihren Schultern und den Rücken hinabströmen. Sie würde seinen Namen annehmen. Vielleicht würde sie sich auch eine andere Handynummer besorgen.
Hinterher schlüpfte sie in ein Leinenkleid und trug gerade Mascara auf ihre blonden Wimpern auf – nur am Eltern- und am Abschlusstag schminkte sie sich ein wenig stärker für die Arbeit und zog auch hübsche Kleidung an –, da vibrierte ihr Handy, was auf dem Waschbecken ein lautes blechernes Geräusch erzeugte. Sie zuckte zusammen, der Mascarapinsel rutschte ihr nach oben aus und hinterließ unter ihrer Augenbraue einen schwarzen Fleck.
Sie sah aufs Display. Eine SMS von Richard:
Kann es nicht erwarten, dich zu sehen, meine Schöne. Zähle die Minuten. Ich liebe dich.
Während sie die Nachricht ihres Verlobten las, löste sich die Beklemmung in ihrer Brust, die sie schon den ganzen Morgen verspürte. Ich liebe dich auch, schrieb sie zurück.
Heute Abend würde sie ihm von den Anrufen erzählen. Richard würde ihr ein Glas Wein einschenken und ihre Füße auf den Schoß nehmen, während sie sich unterhielten. Vielleicht fand er eine Möglichkeit, die unterdrückte Telefonnummer zurückzuverfolgen. Sie machte sich fertig, nahm die schwere Umhängetasche und trat hinaus in die kraftlose Frühlingssonne.
Das schrille Pfeifen von Tante Charlottes Wasserkessel weckt mich. Fahles Sonnenlicht sickert zwischen den Lamellen der Jalousie hindurch und wirft blasse Streifen auf meinen Körper, während ich in Fötushaltung daliege. Wie kann es schon wieder Morgen sein? Nach all den Monaten, die ich jetzt allein in einem Einzelbett schlafe – anstatt in dem breiten Doppelbett, das ich mit Richard teilte –, liege ich noch immer nur auf der linken Seite. Neben mir ist das Laken kühl. Ich lasse Raum für ein Gespenst.
Der Morgen ist die schlimmste Zeit für mich, weil ich dann für eine kurze Weile einen klaren Kopf habe. Dieser Aufschub ist so grausam. Ich kuschele mich unter die Patchworkdecke und habe das Gefühl, ein tonnenschweres Gewicht drückte mich auf die Matratze.
Richard ist jetzt wahrscheinlich bei meiner hübschen jungen Nachfolgerin; die dunkelblauen Augen fest auf sie gerichtet, zeichnet er mit den Fingerspitzen den Schwung ihrer Wange nach. Manchmal kann ich beinahe hören, wie er ihr die Zärtlichkeiten zuflüstert, die früher mir galten.
Ich bete dich an. Ich werde dich so glücklich machen. Du bist mein Ein und Alles.
Mein Herz hämmert, jeder einzelne stetige Schlag nahezu schmerzhaft. Tiefe Atemzüge, rufe ich mir in Erinnerung. Es funktioniert nicht. Es funktioniert nie.
Wenn ich die Frau beobachte, deretwegen Richard mich verlassen hat, bin ich jedes Mal beeindruckt davon, wie sanft und unschuldig sie ist. Ganz ähnlich wie ich, als Richard und ich uns kennenlernten und er die Hände so behutsam um mein Gesicht wölbte, als wäre es eine zarte Blüte, die er nicht beschädigen wollte.
Schon in jenen ersten berauschenden Monaten kam er – es – mir manchmal so vor, als ginge er nach einem Drehbuch vor, aber das war nicht wichtig. Richard war fürsorglich, charismatisch und kultiviert. Ich verliebte mich beinahe sofort in ihn. Und ich habe niemals daran gezweifelt, dass er mich auch liebte.
Jetzt ist er allerdings fertig mit mir. Ich bin aus unserem Haus im Kolonialstil mit den vier Schlafzimmern, den bogenförmigen Türen und dem weiten üppig grünen Rasen ausgezogen. Drei dieser Schlafzimmer blieben unsere ganze Ehe hindurch leer, doch unsere Hausangestellte putzte sie trotzdem jede Woche. Ich fand immer einen Vorwand, um das Haus zu verlassen, wenn sie diese Türen öffnete.
Die Sirene eines Krankenwagens zwölf Stockwerke unter mir treibt mich endlich aus dem Bett. Als ich mir nach dem Duschen die Haare föhne, fällt mir auf, dass der Ansatz zu sehen ist. Ich hole eine Schachtel Clairol Karamellbraun unter dem Spülbecken hervor, damit ich heute Abend daran denke, sie nachzufärben. Vorbei die Zeit, in der ich – nein, Richard – Hunderte von Dollars für Schneiden und Färben ausgab.
Ich öffne den alten Kirschbaumkleiderschrank, den Tante Charlotte auf dem GreenFlea-Flohmarkt erstanden und selbst aufgearbeitet hat. Vorher hatte ich einen begehbaren Kleiderschrank, der größer als das Zimmer war, in dem ich jetzt stehe. Stangenweise Kleider, nach Farbe und Jahreszeit geordnet. Regale voller Designerjeans in verschiedenen Ripped-Stadien. Ein Regenbogen aus Kaschmir entlang einer Wand.
Diese Kleidungsstücke haben mir nie viel bedeutet. Normalerweise trug ich tagsüber bloß eine Yogahose und einen Kuschelpulli und zog mir wie eine umgekehrt gepolte Pendlerin erst kurz vor Richards Heimkehr von der Arbeit etwas Eleganteres an.
Nun allerdings bin ich froh, dass ich ein paar Koffer mit meinen edleren Kleidungsstücken mitnahm, nachdem Richard mich aufgefordert hatte, aus unserem Haus in Westchester auszuziehen. Als Verkäuferin bei Saks im dritten Stock, wo die Designerlabel untergebracht sind, bin ich auf Provisionen angewiesen, daher muss ich unbedingt einen verkaufsfördernden Anblick bieten. Ich mustere die Kleider, die in fast militärischer Ordnung im Schrank hängen, und wähle ein türkisfarbenes Chanel-Kleid aus. Einer der unverwechselbaren Knöpfe ist verbeult, und es sitzt lockerer als noch beim letzten Tragen, in einem anderen Leben. Auch ohne auf die Waage zu sehen, weiß ich, dass ich stark abgenommen habe; trotz meiner eins siebenundsechzig muss ich selbst Kleidungsstücke in Größe 34 enger machen.
Ich gehe in die Küche, wo Tante Charlotte griechischen Joghurt mit frischen Blaubeeren isst, und gebe ihr einen Kuss. Die Haut an ihrer Wange ist so weich wie Talkumpuder.
«Vanessa. Gut geschlafen?»
«Ja», lüge ich.
Sie steht an ihrer Küchentheke, barfuß und in ihrem weiten Tai-Chi-Anzug, und späht durch ihre Brille, während sie beim Frühstück eine Einkaufsliste auf einen alten Briefumschlag kritzelt. Für Tante Charlotte ist Schwung der Schlüssel zu psychischer Gesundheit. Sie drängt mich immer, mit ihr durch SoHo zu schlendern, einen Kunst-Event zu besuchen oder mir einen Film im Lincoln Center anzuschauen … aber ich habe gelernt, dass aktiv zu sein mir nicht hilft. Schließlich können zwanghafte Gedanken einem überallhin folgen.
Ich knabbere an einem Vollkorntoast und stecke fürs Mittagessen einen Apfel und einen Proteinriegel ein. Tante Charlotte ist sichtlich erleichtert darüber, dass ich einen Job an Land gezogen habe, und zwar nicht nur, weil es so aussieht, als ginge es mir endlich besser. Ich störe ihren Lebensrhythmus; normalerweise verbringt sie die Vormittage in einem Gästezimmer, das ihr als Atelier dient, und streicht dort schwere Ölfarben auf Leinwände, erschafft Traumwelten, die so viel schöner sind als die Welt, in der wir leben. Doch sie wird sich niemals beklagen. Als ich klein war und Mom ihre «Licht-aus-Tage», wie ich sie im Stillen nannte, brauchte, rief ich immer Tante Charlotte, die ältere Schwester meiner Mutter, an. Ich musste nur flüstern: «Sie ruht sich wieder aus», und schon kam meine Tante zu uns, ließ ihre Übernachtungstasche auf den Boden fallen, streckte die farbfleckigen Hände aus und schloss mich in die Arme, die nach Leinöl und Lavendel rochen. Ohne eigene Kinder verfügte sie über die Flexibilität, ihr Leben frei zu gestalten. Es war mein großes Glück, dass sie mich in den Mittelpunkt stellte, wenn ich sie am meisten brauchte.
«Brie … Birnen …», murmelt Tante Charlotte, während sie in ihrer geschwungenen Handschrift voller Schleifen und Schnörkel ihre Liste schreibt. Das stahlgraue Haar hat sie nachlässig zu einem Knoten aufgesteckt, und das zusammengewürfelte Gedeck vor ihr – eine kobaltblaue Glasschale, ein klobiger getöpferter Becher, ein Silberlöffel – wirkt wie die Inspiration zu einem Stillleben. Ihre Wohnung mit den drei Schlafzimmern ist sehr geräumig, da Tante Charlotte und mein Onkel Beau, der schon vor Jahren gestorben ist, sie gekauft hatten, bevor die Preise in diesem Viertel durch die Decke schossen, doch sie vermittelt den Eindruck eines unkonventionellen alten Farmhauses. Die Holzböden sind uneben und knarren, und jedes Zimmer ist in einer anderen Farbe gestrichen – Butterblumengelb, Saphirblau, Mintgrün.
«Ist heute Abend wieder dein Salon?», frage ich, und sie nickt.
Seit ich bei ihr wohne, habe ich mich daran gewöhnt, in ihrem Wohnzimmer Studenten oder – ebenso normal – den Kunstkritiker der New York Times zusammen mit einigen Galeristen anzutreffen. «Lass mich den Wein auf dem Heimweg besorgen», biete ich ihr an. Es ist wichtig, dass Tante Charlotte mich nicht als Last empfindet. Sie ist alles, was mir geblieben ist.
Ich rühre meinen Kaffee um und frage mich, ob Richard seiner neuen Liebe gerade welchen kocht und ans Bett bringt, wo sie schläfrig und warm unter der kuscheligen Daunendecke liegt, die ich mir früher mit ihm teilte. Lebhaft sehe ich vor mir, wie ihr Mund sich zu einem Lächeln verzieht, während sie die Bettdecke für ihn lüpft. Richard und ich haben uns oft morgens geliebt. «Egal, was heute sonst noch passiert, zumindest hatten wir dies», sagte er immer. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich schiebe den Toast von mir. Ich sehe auf meine Cartier-Tank-Armbanduhr, ein Geschenk von Richard zu unserem fünften Hochzeitstag, und fahre mit der Fingerspitze über das glatte Gold.
Noch heute kann ich spüren, wie er meinen Arm hob und sie mir anlegte. Manchmal bin ich sicher, an meiner Kleidung noch einen Hauch seiner Zitrusseife von L’Occitane zu riechen. Ich habe das Gefühl, er ist immer mit mir verbunden, so nahe und so immateriell wie ein Schatten.
«Ich glaube, es würde dir guttun, wenn du dich heute Abend zu uns gesellst.»
Ich brauche einen Augenblick, um mich wieder zurechtzufinden. «Vielleicht», sage ich, obwohl ich weiß, dass ich das nicht tun werde. Tante Charlottes Blick ist sanft. Sie hat wohl durchschaut, dass ich an Richard denke. Allerdings kennt sie nicht die wahre Geschichte unserer Ehe. Sie glaubt, er sei der Jugend hinterhergerannt, habe mich fallengelassen, sei dem Muster so vieler Männer vor ihm gefolgt. Sie glaubt, ich sei ein Opfer: wieder eine Frau, die über das herannahende mittlere Alter gestolpert ist.
Wenn sie von meiner Rolle im Niedergang unserer Ehe wüsste, würde ihr das Mitgefühl aus dem Gesicht gewischt.
«Ich muss mich beeilen», sage ich. «Aber schick mir eine SMS, falls du noch etwas aus dem Laden brauchst.»
Diesen Verkäuferinnenjob mache ich erst seit einem Monat. Trotzdem habe ich schon zwei Verwarnungen wegen Zuspätkommens erhalten. Ich muss eine bessere Einschlafhilfe finden; von den Tabletten, die meine Ärztin mir verschrieben hat, bin ich morgens immer ziemlich benommen. Beinahe zehn Jahre lang hatte ich nicht gearbeitet. Wer wird mich einstellen, falls ich diesen Job verliere?
Ich hänge mir meine schwere Tasche, aus der oben meine fast ungetragenen Jimmy Choos herausragen, über die Schulter, schnüre meine abgetragenen Nikes zu und setze die Ohrstöpsel ein. Auf meinem fünfzig Häuserblocks langen Fußweg zu Saks höre ich Psychologiepodcasts; die Zwangsstörungen der anderen lenken mich manchmal von meinen eigenen ab.
Die matte Sonne, die mich beim Aufwachen begrüßte, hat mich glauben gemacht, es würde langsam wärmer. Nun wappne ich mich gegen den peitschenden Spätfrühlingswind und mache mich auf die Wanderung von der Upper West Side nach Midtown Manhattan.
Meine erste Kundin ist eine Investmentbankerin, die sich als Nancy vorstellt. Ihre Arbeit nehme sie sehr in Anspruch, erklärt sie, aber heute sei ihr Vormittagsmeeting unerwartet abgesagt worden. Sie ist zierlich, hat weit auseinanderstehende Augen und einen frechen Kurzhaarschnitt, und ihr knabenhafter Körperbau macht es zu einer Herausforderung, etwas Passendes für sie zu finden. Ich bin froh über diese Ablenkung.
«Ich brauche Kleidung, die Power ausstrahlt, sonst nehmen sie mich nicht ernst», sagt sie. «Ich meine, sehen Sie mich doch an. Ich werde immer noch nach dem Ausweis gefragt!»
Als ich sie sanft von einem streng geschnittenen grauen Hosenanzug wegsteuere, fällt mir auf, dass ihre Fingernägel völlig abgekaut sind. Sie bemerkt meinen Blick und steckt die Hände in die Taschen ihres Blazers. Ich frage mich, wie lange sie in ihrem Job durchhalten wird. Vielleicht findet sie einen anderen – irgendetwas Serviceorientiertes vielleicht, etwas, wo es um die Umwelt oder um Kinderrechte geht –, bevor der ewige Kampf ihren Lebensgeist bricht.
Ich greife nach einem Bleistiftrock und einer gemusterten Seidenbluse. «Vielleicht etwas Farbenfroheres?»
Während wir durch die Abteilung gehen, plaudert sie über das Radrennen, an dem sie nächsten Monat teilzunehmen hofft, obwohl sie kaum trainiert hat, und über das Blind Date, das ihre Kollegin für sie arrangieren will. Ich suche weitere Kleidungsstücke heraus und taxiere dabei immer wieder verstohlen ihre Figur und ihren Teint.
Plötzlich entdecke ich ein atemberaubendes Strickkleid von Alexander McQueen mit einem schwarz-weißen Blumenmuster und bleibe stehen. Sanft streiche ich über den Stoff, und mein Herz beginnt zu hämmern.
«Das ist hübsch», sagt Nancy.
Ich schließe die Augen und denke an jenen Abend, an dem ich ein fast identisches Kleid trug.
Richard, der mit einer großen weißen Schachtel mit roter Schleife heimkam. «Zieh das heute Abend an», sagte er, als ich es ihm vorführte. «Du siehst phantastisch aus.» Bei der Alvin-Ailey-Gala tranken wir Champagner und lachten mit seinen Kollegen. Seine Hand lag auf meinem Rücken. «Vergiss das Abendessen», flüsterte er mir ins Ohr. «Wir fahren nach Hause.»
«Alles in Ordnung?», fragt Nancy.
«Ja», erwidere ich gepresst. «Dieses Kleid ist nichts für Sie.»
Nancy guckt überrascht, und mir wird klar, dass das sehr schroff klang.
«Das da.» Ich greife nach einem klassischen tomatenroten Etuikleid.
Den Arm voller Kleidungsstücke, die mir mit einem Mal sehr schwer vorkommen, gehe ich zu den Umkleidekabinen. «Für den Anfang haben wir genug, denke ich.»
Ich hänge die Kleidungsstücke auf die Stange an der Wand, versuche, mich auf die Reihenfolge zu konzentrieren, in der sie sie anprobieren sollte, und beginne mit einer lila Jacke, die ihren olivfarbenen Teint zur Geltung bringt. Am besten, man fängt mit einer Jacke an, habe ich gelernt, weil die Kundin sich nicht entkleiden muss, um sie anzuprobieren.
Damit sie die Wirkung der Röcke und Kleider besser beurteilen kann, besorge ich Nylonstrümpfe und hochhackige Schuhe; dann tausche ich einige Stücke in Größe 30 gegen Größe 32. Am Ende nimmt Nancy die Jacke, zwei Kleider – darunter das rote Etuikleid – und ein dunkelblaues Kostüm. Ich rufe eine Schneiderin, um den Kostümrock abzustecken, und sage Nancy, ich wolle nur rasch ihre Einkäufe kassieren.
Stattdessen zieht es mich zurück zu dem schwarz-weißen Kleid. Auf der Stange hängen drei Exemplare davon. Ich nehme sie ab, bringe sie ins Lager und verstecke sie hinter beschädigter Ware.
Gerade als Nancy sich wieder umkleidet, kehre ich mit ihrer Kreditkarte und dem Beleg zurück.
«Danke», sagt Nancy. «Die hätte ich niemals selbst ausgesucht, aber ich freue mich wirklich schon darauf, sie zu tragen.»
Diesen Teil meiner Arbeit – die Möglichkeit, meinen Kundinnen ein gutes Gefühl zu geben – genieße ich wirklich. Kleidung anzuprobieren und Geld auszugeben veranlasst die meisten Frauen dazu, sich selbst in Frage zu stellen: Macht mich das dick? Verdiene ich das? Bin ich das? Diese Selbstzweifel kenne ich gut, weil auch ich viele Male als Kundin in einer solchen Umkleidekabine gestanden und versucht habe herauszufinden, wer ich sein sollte.
Ich packe Nancys neue Kleider in eine Umhängetasche, reiche sie ihr und frage mich flüchtig, ob Tante Charlotte recht hat. Wenn ich in Bewegung bliebe und nach vorn blickte, würde mein Kopf vielleicht dem Vorwärtsimpuls meines Körpers folgen.
Als Nancy gegangen ist, bediene ich noch einige andere Kundinnen und gehe dann zu den Umkleidekabinen, um verworfene Kleidungsstücke zurück in den Verkauf zu bringen. Während ich sie sorgfältig auf Bügel hänge, höre ich zwei Frauen in nebeneinanderliegenden Kabinen miteinander plaudern.
«Uh, dieses Alaïa-Kleid sieht ja furchtbar aus. Ich bin so aufgeschwemmt. Die Kellnerin hat gesagt, die Sojasoße sei salzarm, aber sie hat gelogen, das weiß ich genau.»
Diesen Südstaatentonfall erkenne ich sofort: Hillary Searles, die Frau von George Searles, einem von Richards Kollegen. Hillary und ich sind uns im Lauf der Jahre bei zahlreichen Dinnerpartys und geschäftlichen Veranstaltungen über den Weg gelaufen. Ich kenne ihre Meinung zu öffentlichen versus privaten Schulen, Atkins- versus Zone-Diät und Saint-Barthélemy versus Amalfiküste. Heute kann ich es nicht ertragen, ihr zuzuhören.
«Juuhuu! Ist dadraußen irgendwo eine Verkäuferin? Wir brauchen andere Größen», ruft eine der Frauen.
Eine Kabinentür fliegt auf. Die Frau, die herauskommt, sieht Hillary so ähnlich – bis hin zu den roten Haaren –, dass sie nur ihre Schwester sein kann. «Miss. Können Sie uns helfen? Die Verkäuferin, die uns bedient hat, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.»
Ehe ich antworten kann, sehe ich etwas Orangefarbenes aufblitzen: Das anstoßerregende Alaïa-Kleid fliegt über die Tür der Umkleidekabine. «Haben Sie das da in 42?»
Wenn Hillary 3100 Dollar für ein Kleid ausgibt, dann ist die Provision die Fragen wert, die sie mir an den Kopf werfen wird.
«Ich sehe eben nach», erwidere ich. «Aber Alaïa ist keine besonders figurumspielende Marke, egal, was Sie zum Mittagessen hatten … Ich kann es Ihnen in 44 bringen, falls es klein ausfällt.»
«Ihre Stimme kommt mir so bekannt vor.» Hillary späht heraus und verbirgt dabei ihren vom Salz aufgeschwemmten Körper hinter der Tür. Sie kreischt auf, und es kostet mich einige Mühe stehenzubleiben, während sie mich angafft. «Was tust du denn hier?»
Ihre Schwester meldet sich zu Wort: «Hill, mit wem redest du da?»
«Vanessa ist eine alte Freundin. Sie ist – ähm, sie war – mit einem von Georges Kollegen verheiratet. Warte einen Moment, Schätzchen! Ich ziehe mir nur schnell was an.» Als sie wiederauftaucht, drückt sie mich fest an sich und hüllt mich dabei in den Blumenduft ihres Parfüms.
«Du siehst anders aus! Was hat sich verändert?» Sie stemmt die Hände in die Hüften, und ich zwinge mich, ihre Musterung über mich ergehen zu lassen. «Zunächst mal bist du so dünn geworden, du kleines Luder. Du könntest dieses Alaïa-Kleid problemlos tragen. Also, du arbeitest jetzt hier?»
«Ja. Schön, dich zu sehen …»
Noch nie war ich so dankbar dafür, vom Klingeln eines Handys unterbrochen zu werden. «Hallo!», zwitschert Hillary. «Was? Fieber? Sind Sie sicher? Denken Sie daran, wie sie Sie letztes Mal an der Nase herumgeführt hat, als … Schon gut, schon gut. Ich bin gleich da.» Sie wendet sich an ihre Schwester. «Das war die Schulkrankenschwester. Sie glaubt, Madison ist krank. Ehrlich, die schicken die Kinder schon nach Hause, wenn sie nur mal schniefen.»
Sie beugt sich zu mir, umarmt mich erneut, und ihr Diamantohrring kratzt über meine Wange. «Verabreden wir uns doch zum Mittagessen, dann können wir uns ausführlich unterhalten. Ruf mich an!»
Als Hillary und ihre Schwester mit klappernden Absätzen zum Aufzug gehen, entdecke ich auf dem Stuhl in der Umkleidekabine einen Platinarmreif. Ich schnappe ihn mir und laufe Hillary hinterher. Als ich gerade ihren Namen rufen will, schwebt ihre Stimme zu mir: «Armes Ding», sagt sie zu ihrer Schwester, und ich höre echtes Mitleid heraus. «Er hat das Haus bekommen, die Autos, einfach alles …»
«Im Ernst? Hat sie sich keinen Anwalt genommen?»
«Sie war völlig neben der Spur.» Hillary zuckt die Achseln. Es ist, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.
Ich sehe ihr hinterher. Als sie den Aufzug ruft, mache ich kehrt, um die Seiden- und Leinenstöffchen wegzuräumen, die sie auf dem Boden der Kabine liegen gelassen hat. Doch zuerst lege ich den Armreif an.
Kurz bevor unsere Ehe endete, gaben Richard und ich bei uns zu Hause eine Cocktailparty. Da sah ich Hillary zum letzten Mal. Der Abend begann mit einem Missklang, weil der Caterer und sein Personal nicht zur verabredeten Zeit erschienen. Richard war verärgert – über den Caterer, über mich, weil ich das Essen nicht eine Stunde früher herbestellt hatte, über die Situation –, doch er stellte sich tapfer hinter eine provisorische Bar in unserem Wohnzimmer, mixte Martinis und Gin Tonics und lachte schallend, als einer seiner Partner ihm einen Zwanziger als Trinkgeld gab. Ich mischte mich unter die Gäste, entschuldigte mich murmelnd für den unzulänglichen Laib Brie und das Tortenstück würzigen Cheddar, die ich serviert hatte, und versprach, das eigentliche Essen werde bald eintreffen.
«Schatz? Kannst du ein paar Flaschen von dem 2009er Raveneau aus dem Keller holen?», rief Richard mir quer durch den Raum zu. «Ich habe letzte Woche eine Kiste bestellt. Sie sind im Weinkühlschrank im mittleren Regal.»
Ich erstarrte und hatte das Gefühl, alle sähen mich an. Hillary stand an der Bar. Wahrscheinlich hatte sie sich diesen Jahrgang gewünscht; es war ihr Lieblingswein.
Wie in Zeitlupe, das weiß ich noch, ging ich Richtung Keller, um den Augenblick hinauszuzögern, in dem ich Richard vor seinen versammelten Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern sagen musste, was ich bereits wusste: In unserem Keller befand sich kein Raveneau.
Die nächste Stunde verbringe ich damit, eine Dame zu bedienen, die ein neues Outfit für die Taufe der nach ihr benannten Enkelin benötigt, und einer Frau, die eine Kreuzfahrt nach Alaska unternehmen will, eine Reisegarderobe zusammenzustellen. Mein Körper fühlt sich an wie ein nasser Sack; der Hoffnungsschimmer, der in mir aufgeglommen war, nachdem ich Nancy bedient hatte, ist erloschen.
Diesmal sehe ich Hillary, bevor ich ihre Stimme höre. Sie kommt auf mich zu, als ich gerade einen Rock aufhänge.
«Vanessa!», ruft sie. «Bin ich froh, dass du noch da bist. Bitte sag, dass du meinen …»
Sie bricht ab, als ihr Blick auf mein Handgelenk fällt.
Rasch nehme ich den Armreif ab. «Ich wollte nicht … ich … ich wollte ihn nicht im Fundbüro abgeben … Ich dachte, du kommst bestimmt zurück, sonst hätte ich dich angerufen.»
Das Misstrauen verschwindet aus Hillarys Blick. Sie glaubt mir. Oder jedenfalls will sie mir glauben.
«Ist mit deiner Tochter alles in Ordnung?»
Hillary nickt. «Ich glaube, die kleine Simulantin wollte bloß den Matheunterricht schwänzen.» Sie kichert und legt den schweren Platinreif wieder an. «Du hast mir das Leben gerettet. George hat ihn mir erst vor einer Woche zum Geburtstag geschenkt. Stell dir vor, ich müsste ihm sagen, dass ich ihn verloren habe! Er würde sich von mir schei–» Röte überzieht ihre Wangen, und sie wendet den Blick ab. Hillary war nie unfreundlich zu mir, das weiß ich noch. Anfangs brachte sie mich manchmal sogar zum Lachen.
«Wie geht’s George?»
«Hat viel um die Ohren! Du weißt ja, wie das ist.»
Eine weitere winzige Pause.
«Hast du Richard in letzter Zeit gesehen?» Ich bemühe mich um einen leichten Ton, doch es gelingt mir nicht. Mein Hunger nach Informationen über ihn ist unübersehbar.
«Ach, ab und an.»
Ich warte, doch sie will mir ganz offensichtlich nicht mehr sagen.
«Tja! Möchtest du jetzt dieses Alaïa-Kleid anprobieren?»
«Keine Zeit. Ich komme ein andermal wieder, Liebes.» Doch ich spüre, dass Hillary das nicht tun wird. Was sie vor sich sieht – den verbeulten Knopf am zwei Jahre alten Chanel-Kleid, mein Haar, das eine professionelle Hand brauchen könnte –, ist ein Anblick, von dem Hillary verzweifelt hofft, er sei nicht ansteckend.
Sie umarmt mich hastig und wendet sich zum Gehen. Doch dann dreht sie sich noch einmal um.
«Ich an deiner Stelle …» Hillary runzelt die Stirn; sie hadert mit sich. Trifft eine Entscheidung. «Tja, ich würde es vermutlich wissen wollen.»
Ich habe das Gefühl, ein Zug rast auf mich zu.
«Richard hat sich verlobt.» Ihre Stimme scheint aus großer Entfernung auf mich zuzuschweben. «Tut mir leid … Ich dachte nur, du hast es vielleicht noch nicht gehört, und da …»
Das Brausen in meinem Kopf übertönt, was sie noch sagt. Ich nicke und weiche zurück.
Richard hat sich verlobt. Mein Ehemann wird sie tatsächlich heiraten.
Ich schaffe es noch in eine Umkleidekabine, lehne mich an die Wand und lasse mich zu Boden gleiten. Dabei schiebt sich mein Rock hoch, und ich spüre den Teppich an meinen Oberschenkeln. Ich vergrabe den Kopf in den Händen und heule.
An einer Seite der alten Kirche, in der das Learning Ladder untergebracht war, standen drei Grabsteine aus der Zeit der Jahrhundertwende, verwittert und zwischen Bäumen versteckt. An der anderen Seite befand sich ein kleiner Spielplatz mit einem Sandkasten und einem blau-gelben Klettergerüst. Wie Buchstützen rahmten diese Symbole für Leben und Tod die Kirche ein, die bereits zahllose Zeremonien zu Ehren von beidem gesehen hatte.
Auf einem der Grabsteine stand der Name Elizabeth Knapp. Sie war mit nicht einmal dreißig Jahren gestorben, und ihr Grab lag ein wenig abseits der anderen. Nellie nahm wie immer den Umweg um den Häuserblock herum, um nicht an dem winzigen Friedhof vorüberzumüssen. Dennoch dachte sie über die junge Frau nach.
Eine Krankheit oder eine Geburt mochten ihrem Leben ein frühes Ende gesetzt haben. Oder ein Unfall.
Ob sie verheiratet gewesen war? Ob sie Kinder gehabt hatte?
Nellie stellte ihre Tasche ab, um das kindersichere Tor zum Spielplatz zu öffnen, während die Bäume im Wind raschelten. Elizabeth war sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig geworden; Nellie wusste es nicht mehr genau. Und eben diese Ungenauigkeit nagte mit einem Mal an ihr.
Sie ging auf den Friedhof zu, um nachzusehen, doch da schlug die Kirchenglocke achtmal. Die tiefen, feierlichen Töne schwangen durch die Luft und erinnerten Nellie daran, dass die Elterngespräche in einer Viertelstunde beginnen würden. Eine Wolke zog vor die Sonne, und es wurde abrupt kälter.
Nellie machte kehrt, trat durchs Tor und zog es hinter sich zu. Dann entfernte sie die Abdeckplane vom Sandkasten und rollte sie zusammen, damit er bereit war, wenn die Kinder zum Spielen herauskamen. Eine heftige Böe hätte ihr das eine Ende beinahe aus der Hand gerissen, doch sie konnte es festhalten, und dann zerrte sie einen großen Blumentopf herbei, um die Plane zu beschweren.
Nun eilte sie ins Gebäude und die Treppe hinab in den Keller, wo sich der Kindergarten befand. Am erdigen, aromatischen Kaffeeduft erkannte sie, dass Linda, die Leiterin, bereits hier war. Normalerweise hätte Nellie zuerst Tasche und Jacke in ihren Gruppenraum gebracht, ehe sie Linda begrüßte. Doch heute ging sie den Flur entlang auf das gelbe Licht zu, das aus Lindas Büro fiel. Sie hatte das Bedürfnis, ein vertrautes Gesicht zu sehen.
Nellie trat ein und entdeckte nicht nur Kaffee, sondern auch einen Teller mit Gebäck. Linda faltete neben einem Stapel Styroporbecher Papierservietten zu Fächern. Ihr glänzender dunkler Bob und der taupefarbene Hosenanzug mit dem Krokoledergürtel wären auch in einer Aufsichtsratssitzung nicht fehl am Platze gewesen. Sie kleidete sich nicht etwa nur an Elterntagen so – auch an ganz normalen Tagen sah sie filmreif aus.
«Sag nicht, das sind Schokocroissants.»
«Von Dean and DeLuca», bestätigte Linda. «Bedien dich.»
Nellie stöhnte. Just heute Morgen hatte die Waage angezeigt, dass sie bis zur Hochzeit noch immer über zwei – na gut, dreieinhalb – Kilo abnehmen musste.
«Komm schon», redete Linda ihr gut zu. «Ich habe noch jede Menge, um uns die Eltern gewogen zu machen.»
«Das sind Upper-East-Side-Eltern», witzelte Nellie. «Die essen keinen Zucker.» Sie warf noch einen Blick auf den Teller. «Vielleicht bloß ein halbes.» Mit einem Plastikmesser schnitt sie eines der Schokocroissants durch.
Unterwegs zu ihrem Gruppenraum biss sie hinein. Der Raum war nicht schick, aber geräumig, und hohe Fenster ließen ein wenig Tageslicht herein. Auf dem weichen Spielteppich mit dem ABC-Eisenbahn-Dekor am Rand saßen ihre Kinder in der Märchenstunde im Schneidersitz; im Küchenbereich setzten sie sich kleine Kochmützen auf und klapperten mit Töpfen und Pfannen; und in der Verkleidungsecke fand sich alles Mögliche, von Arztkitteln über Tutus bis hin zu Astronautenhelmen.
Ihre Mutter hatte sie einmal gefragt, warum sie nicht eine «richtige» Lehrerin sein wolle; dass Nellie ihr die Frage übelgenommen hatte, hatte sie nicht verstanden.
Diese vertrauensseligen pummeligen Händchen in ihren Händen; dieser Moment, wenn ein Kind zum ersten Mal die Buchstaben auf einer Seite entzifferte, tastend ein Wort aussprach und staunend zu Nellie aufschaute; der frische Blick, mit dem Kinder die Welt sahen – wie sollte sie erklären, wie kostbar ihr das alles erschien?
Sie hatte einfach immer gewusst, dass sie Erzieherin werden wollte, ebenso wie manche Kinder sich zum Schriftsteller oder Künstler berufen fühlten.
Nellie leckte sich ein butteriges Croissantblättchen vom Finger. Dann zog sie ihren Terminkalender sowie den Stapel «Zeugnisse» aus der Tasche, die sie verteilen würde. Die Eltern zahlten 32000 Dollar im Jahr dafür, dass die Kinder ein paar Stunden am Tag hier waren; die Porters mit dem Tipi-Link waren nicht die Einzigen, die dafür ganz bestimmte Erwartungen hegten. Jede Woche erhielt Nellie E-Mails wie neulich die der Levines, die Arbeitsblätter mit Zusatzaufgaben für die begabte kleine Reese verlangt hatten. Die Handynummern der Lehrer standen für Notfälle im Schulverzeichnis, doch einige Eltern fassten den Begriff «Notfall» sehr weit. Einmal hatte Nellie um fünf Uhr morgens einen Anruf erhalten, weil Bennett sich in der Nacht übergeben hatte und seine Mutter hatte wissen wollen, was er im Kindergarten gegessen habe. Das jähe schrille Klingeln im Dunkeln hatte Nellie so erschreckt, dass sie sämtliche Lampen in ihrem Zimmer eingeschaltet hatte, selbst nachdem sie erkannt hatte, dass der Anruf harmlos war. Um das ausgeschüttete Adrenalin wieder abzubauen, hatte sie ihren Kleiderschrank neu geordnet.
«Was für eine Diva», hatte ihre Mitbewohnerin Sam gesagt, als Nellie ihr von dem Anruf erzählte. «Warum schaltest du dein Telefon nicht aus, wenn du schlafen gehst?»
«Gute Idee», hatte Nellie gelogen, obwohl sie wusste, dass sie diesen Rat nie befolgen würde. Sie hörte auch beim Joggen oder auf dem Weg zur Arbeit niemals laute Musik. Und sie ging um keinen Preis spätabends allein nach Hause.
Im Falle einer Bedrohung wollte sie so früh wie möglich vorgewarnt sein.
Als Nellie sich an ihrem Schreibtisch gerade noch ein paar letzte Notizen machte, klopfte es an der Tür. Sie blickte auf: Es waren die Porters, er in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug und sie in einem rosaroten Kleid. Die beiden sahen aus, als wären sie unterwegs ins Symphoniekonzert.
«Herzlich willkommen», sagte Nellie, als sie zu ihr kamen und ihr die Hand gaben. «Bitte setzen Sie sich.» Es fiel den Porters nicht leicht, auf den Kinderstühlen am kleinen Tisch das Gleichgewicht zu halten, und Nellie musste sich das Grinsen verkneifen. Sie selbst saß ebenfalls auf einem dieser Stühle, doch sie war mittlerweile daran gewöhnt.
«Also, Sie wissen ja, dass Jonah ein entzückender kleiner Junge ist», machte sie den Anfang. Alle ihre Elterngespräche begannen in diesem überschwänglichen Stil, doch in Jonahs Fall war es ernst gemeint. Nellie hatte eine Wand in ihrem Schlafzimmer mit Werken ihrer Lieblingskinder dekoriert, darunter ein Bild von Jonah, das Nellie als Marshmallow-Frau darstellte.
«Ist Ihnen aufgefallen, wie er Stifte hält?», fragte Mrs. Porter und holte ein Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Handtasche.
«Ähm, ich …»
«Er proniert», unterbrach Mr. Porter sie und demonstrierte es ihr mit dem Kugelschreiber seiner Frau. «Sehen Sie, wie die Hand hier einwärts gedreht ist? Sollten wir ihn Ihrer Meinung nach zur Ergotherapie schicken?»
«Na ja, er ist erst dreieinhalb.»
«Dreidreiviertel», korrigierte Mrs. Porter.
«Richtig», sagte Nellie. «In diesem Alter sind die feinmotorischen Fähigkeiten bei vielen Kindern noch nicht so weit entwickelt, dass …»
«Sie sind aus Florida, richtig?», fragte Mr. Porter.
Nellie blinzelte. «Woher … Verzeihung, warum wollen Sie das wissen?» Sie hatte den Porters garantiert nicht erzählt, woher sie stammte, denn sie achtete immer sorgsam darauf, nicht zu viel über ihre Herkunft preiszugeben.
Sobald man sich die Tricks und Kniffe einmal angeeignet hatte, war es nicht schwer, Fragen auszuweichen. Wenn jemand sie nach ihrer Kindheit fragte, erzählte sie von dem Baumhaus, das ihr Vater für sie gebaut hatte, und von ihrem schwarzen Kater, der sich für einen Hund gehalten und Männchen gemacht hatte, wenn er um Leckerlis bettelte. Falls die Rede aufs College kam, konzentrierte sie sich auf die Saison, in der das Footballteam ungeschlagen geblieben war, sowie auf ihren Teilzeitjob im Campus-Café, wo sie beim Zubereiten von Toast einmal einen kleinen Brand verursacht und den Essbereich hatte räumen müssen. Man musste anschauliche, detaillierte Geschichten erzählen, die davon ablenkten, dass man eigentlich nichts über sich selbst preisgab. Alles, was einen aus der Menge heraushob, war zu vermeiden. Hinsichtlich des Jahres, in dem man seinen Abschluss gemacht hatte, sollte man vage bleiben. Zur Not musste man lügen, aber nur wenn es unumgänglich war.
«Nun, hier in New York läuft es anders», sagte Mr. Porter gerade. Nellie musterte ihn aufmerksam. Er war locker fünfzehn Jahre älter als sie, und sein Akzent deutete darauf hin, dass er in Manhattan geboren war. Ihre Wege konnten sich eigentlich vorher nicht gekreuzt haben. Woher konnte er es wissen?
«Wir wollen nicht, dass Jonah zurückbleibt», sagte Mr. Porter, lehnte sich an und wäre dadurch beinahe mit dem Stuhl nach hinten gekippt.
«Was mein Mann Ihnen zu erklären versucht», mischte Mrs. Porter sich ein, «ist, dass wir ihn nächsten Herbst in der Vorschule anmelden wollen. Wir sehen uns die allerbesten Schulen an.»
«Ich verstehe.» Nellie konzentrierte sich wieder auf Jonah. «Tja, es ist natürlich Ihre Entscheidung, aber vielleicht sollten Sie lieber noch ein Jahr warten.» Sie wusste, dass Jonah bereits Chinesisch-, Karate- und Musikunterricht bekam. Diese Woche hatte sie ihn zweimal gähnen und sich die müden Augen reiben sehen. Solange er hier war, hatte er wenigstens reichlich Zeit, um Sandburgen zu bauen und aus Bauklötzchen Türme zu errichten.