So etwas hatte sie sich immer völlig anders vorgestellt.
Spektakulärer. Außergewöhnlicher. Auf jeden Fall länger.
Und nun war es ihr selbst passiert.
Nun lag sie da tot im Flur und fragte sich, wie es dazu gekommen war, dass Dieter sich beim Erwürgen so geschickt anstellte. Ruckzuck war das gegangen. Und mit welcher Kraft!
Der untrainierte Dieter! Der Ich-müsste-mal-was-Sport-machen-Dieter!
Ein Wortgefecht, sie macht eine Bemerkung, die sie jetzt schon wieder vergessen hat, da springt ihr der Dieter an den Hals, und sie kann sich noch nicht mal mehr die Haare richten.
Tot. Durch Dieters Hand. Obwohl er sogar noch unbequemerweise seine Handschuhe trug, weil er gerade erst hereingekommen war.
Das wunderte sie am meisten: dass er das tatsächlich mit dem allerersten Versuch hingekriegt hatte. Eben noch in der Straßenbahn und nur einen Wimpernschlag später die eigene Frau umgelegt. Chapeau!
Dieter war nie ein Typ von großer Präzision gewesen. Immer eher alles kommste heut nicht, kommste morgen. Aber heute hatte er sich von einer vollkommen neuen Seite gezeigt.
Zum letzten Mal. Diesmal war es ihm wohl wirklich wichtig gewesen.
Er hatte in ihrer zwölfjährigen Beziehung zwar des Öfteren angedeutet, dass er sich von ihr niemals auf normale Weise trennen könnte, dazu sei ihre Verbindung zu außergewöhnlich, aber sie hatte das bisher immer als Kompliment aufgefasst.
Dummerchen!
Und nun war Dieter weg. Hatte natürlich kalte Füße gekriegt. So etwas hatte er sich schließlich noch nie getraut! Er war überhaupt äußerst angespannt gewesen bei der ganzen Aktion. Die Oberlippe voller Schweißperlen und so.
Seitdem er sich den Schnurrbart abrasiert hatte, war ihm immer sofort anzumerken, wenn ihn etwas besonders aufregte.
Worüber Sabine aber am wenigsten hinwegkam, war, dass sie ihm in den letzten Tagen nichts, wirklich gar nichts angemerkt hatte!
Man hatte nach zwölf Jahren doch nicht mehr so die volle Aufmerksamkeit für den Partner. Und das war manchmal sehr schade.
Dieter betrat das Hotel. Er hatte nach der Tat sehr aufgewühlt die gemeinsame Wohnung verlassen und war auf direktem Weg zum Flughafen gefahren. Dort hatte er Last-Minute einen sehr günstigen Flug Düsseldorf–Münster/Osnabrück ergattert und war erst zur Ruhe gekommen, als die Maschine endlich abhob. Und nun stand er an der Rezeption des Hotels »Miranda«.
In den Anmeldebogen trug er sich als Klaus Becher ein. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass sich alle Menschen auf der Flucht doch sicherlich einen anderen Zu-, nicht aber Vornamen zulegten. Er dachte da völlig neu, änderte also lediglich Dieter in Klaus und ließ Becher, den Namen, den er zwölf Jahre lang mit Sabine geteilt hatte, stehen.
Jawohl. Den Blitzmerker wollte er bitteschön erst einmal kennenlernen, der sofort schaltete und sogleich an ihn dachte, wenn er beispielsweise in der Zeitung las, dass Dieter Becher gesucht wurde. Er war Klaus Becher.
In seinem Zimmer sitzend war er ganz zufrieden, wie rund das alles bisher lief. Bis auf das störende Gefühl, dass er Sabine ein wenig vermisste. In zwölf Jahren gewöhnte man sich eben sehr aneinander. Aber das hatte er ja nun gründlich vermasselt. Mit seiner Würge-Aktion heute Morgen hatte er direkt für beide die Entscheidung getroffen, dass sie sich nie mehr wiedersehen würden.
Seltsam, da wünschte man sich etwas immer mal wieder – in seinem Fall jetzt, dass Sabine dahin ging, wo der Pfeffer wächst –, und dann trat es tatsächlich ein, und man blieb mit einem schalen Gefühl zurück. Und wuchs im Himmel überhaupt Pfeffer?
Himmel?! Wie kam er denn jetzt auf Himmel?! Er hätte ja wohl kaum den Aufwand eines Mordes betrieben, wenn Sabine eine Kandidatin für den Himmel gewesen wäre! Nee, nee, die war wirklich, wirklich, so richtig, war wirklich so richtig … richtig … schlimm war die gewesen! Ganz schlimm war die gewesen! Dafür würde sie wohl auch gerade in der Hölle braten. Genau. Wobei … Hölle … das war dann auch wieder ein bisschen … also direkt Hölle … Gab es da gar nichts dazwischen? So etwas wie einen Unwohl-Fühl-Raum oder so?
Dieter grübelte und grübelte. Aus jedem Gedanken erwuchs sofort der nächste, der den vorherigen wieder infrage stellte. Er stellte fest: Täter sein ist etwas für die ganz Harten. Da musst du Stehvermögen haben. Du musst einen Mord auch wenige Stunden später noch vertretbar finden. Sonst fängst du an rumzueiern.
Wenn sie nicht bald jemand fände, wäre sie wund gelegen. Wahrscheinlich waren die Würgemale am Hals schon nicht besonders kleidsam, aber dann noch ein blauer Hintern – das machte sie alles nicht hübscher.
Sabine wurde es im Flur zunehmend langweilig, und auch über Freundschaften dachte man in solch einer Situation schon mal intensiver nach: Warum hatte in den vergangenen vier Stunden nicht ein einziges Mal das Telefon geklingelt?
Aber nein, jetzt wurde sie ungerecht. Bei Anne zum Beispiel hatte sie sich selbst auch lange schon nicht mehr gemeldet. Aber aus dieser Haltung hier kam sie jetzt auch unmöglich noch einmal hoch. Und zwar langfristig nicht. Das war jetzt alles vorbei.
Ebenso ihre geliebten, entspannenden Friseurbesuche. Sie hatte nächste Woche zum Nachschneiden zu Timo gehen wollen, und jetzt würde man sie hier finden und der ganze Schnitt war rausgewachsen. Sie hatte auch mal irgendwo gelesen, dass bei Toten das Haar sehr schnell an Glanz verliert.
Bisher stand Dieter eindeutig besser da, sie selbst konnte an ihrem neuen Zustand noch keinen Vorteil ausmachen.
Es sei denn, man rückte einmal das Thema »Ausschlafen-Können« in den Vordergrund. Das war nämlich täglich ein Grauen gewesen. Der Wecker war zuverlässig um 6.30 Uhr gegangen, und das lediglich, damit sie stets pünktlich um 8.00 Uhr im Kindergarten erschien, um sich dort von nicht erzogenen Menschen mit einer Höhe von durchschnittlich 0,90 Meter–1,20 Meter anschreien zu lassen. Für kleines Geld, versteht sich. Für mehr hätten die Probanden wahrscheinlich mindestens 1,80 Meter messen müssen.
Supergag. Fiel ihr leider nur zu spät ein. Ihre Kollegin Bettina hätte sich am Boden gewälzt. Das war schon mal sicher. Aber die lachte auch über:
Haben Sie Rosen?
Lange?
Wie, vermieten Sie auch?
Den hatte sie mal in einem Buch von einer Komikerin gelesen und sich nicht mehr eingekriegt. Na ja, Bettina eben.
Dieter schob den Teller zur Seite. Er hatte richtig fein getafelt. An der Rezeption seines Hotels hatte man ihm diesen Spanier empfohlen, und die Tapas hatten ihn alle nicht enttäuscht. Garnelen in Knoblauch-Tomatenmus, gefüllte Champignons, marinierte dicke Bohnen, Kaninchen in Limonensoße, Lamm mit irgendwas. Alles zum Reinsetzen!
Allein essen machte zwar nicht so viel Spaß, aber wenn ein Koch sein Handwerk so gut verstand wie dieser hier, dann war man beinahe versucht, mit den Speisen zu sprechen, so ernst nahm man sie plötzlich.
Am Nachbartisch saß eine ansehnliche junge Dame mit einem Herrn, den Dieter gar nicht passend fand, sie aber wiederum schien Dieter nicht passend zu finden, da sie sein Lächeln nicht erwiderte, im Gegenteil, es tief in ihr Glas versenkte.
Ach, es war sicherlich eh nicht gut, direkt wieder in eine neue feste Beziehung hineinzuschlittern.
Was Sabine jetzt wohl mach… – ach, nein, die war ja tot. Reine Gewohnheit, die Frage. Die hatte er sich immer gestellt, wenn er allein unterwegs gewesen war, und abends hatten sie dann darüber telefoniert. Dann hatte sie ihm so Sachen erzählt wie, dass sie schon wieder vergessen hätte, Anne anzurufen, und dass sie zu Timo müsse wegen der Spitzen.
Und nun würde er gar nicht zu Hause anrufen heute Abend.
Aber jetzt mal ernsthaft: Wie lief das denn eigentlich nach so einem Mord? Müsste er nicht extra wie gewohnt anrufen, damit vielleicht Frau Kessler von nebenan das Telefon klingeln hörte?
Au Backe, es war eventuell gar nicht so schlau gewesen, hierherzukommen, wie zuerst gedacht! Vor allen Dingen würde bei der ersten Befragung im Freundeskreis garantiert einer ausplaudern: »Münster/Osnabrück? Nee, also dahin haben Sabine und Dieter nun aber gar keine Verbindung!« Und schon hätten sie ihn.
Eine idiotische Idee! Er musste zurück! Und das schnellstmöglich. Am besten würde er nämlich selbst die Polizei benachrichtigen, dass ihm das nicht geheuer sei mit der regungslosen Sabine im Flur und so.
Dieter zahlte und beeilte sich, ins Hotel zurückzukommen. Seine Nerven wurden allerdings zusätzlich von der leidigen Tatsache beansprucht, dass nach 22.04 Uhr kein durchgehender Zug mehr nach Düsseldorf fuhr. Sollte es noch eine Nacht-Maschine nach Düsseldorf geben, würde das nichts daran ändern, dass nächtlicher Flugverkehr, soweit sich Dieter erinnerte, nicht erlaubt war, und er tat sich grundsätzlich schwer damit, sich über Verbote hinwegzusetzen.
Vielleicht machte ihm deswegen auch der Mord an Sabine jetzt so zu schaffen.
Zähneknirschend verbrachte er eine unruhige Nacht in seinem Zimmer.
RRRrrriing!!!
Aha, er musste also doch eingeschlafen sein.
Missgelaunt und mit einem Heidenrespekt vor dem kommenden Tag verließ er das Bett. Waschen, rasieren, anziehen, frühstücken, Heimreise. Toll, dass das Gehirn seine Kommandos für häufig wiederkehrende Tätigkeiten mechanisch abliefern konnte, wenn man gerade mit den Gedanken ganz woanders war.
Als er in Düsseldorf den Schlüssel ins Schloss seiner Wohnungstür steckte, hätte er nicht sagen können, wie er dorthin gekommen war. Er war nun irrsinnig gespannt auf Sabine. Wie es sein würde, wenn sie ihn mal wortlos empfangen würde. Wobei »empfangen« hier falsche Erwartungen weckte.
Dieter atmete tief durch und stieß die Tür auf. Es war doch ziemlich unbedacht von ihm gewesen, Sabine direkt im Flur umzubringen. Das führte dazu, dass er nun beim Betreten der Wohnung keinerlei Aufschub mehr hatte, bis er die erste Leiche seines Lebens sehen würde. Wenn man Sabine von gestern mal nicht mitrechnete.
Als seine Großmutter vor sechs Jahren gestorben war, hatte er die ganze Abwicklung seinen Eltern und seiner Schwester überlassen und es auch so einrichten können, dass er erst zur Beerdigung wieder in Düsseldorf eintraf. Dringende Geschäftstermine hatten eine frühere Rückkehr aus Amsterdam nicht erlaubt, wofür auch alle Verständnis gezeigt hatten.
Als Vertriebsleiter eines kleinen Reisebuchverlages musste er damals für die Verbreitung des Erstlingswerks von Günther Jauch, »Mein Leben in TV-Studios«, in den Niederlanden sorgen. Der Verlag erhoffte sich eine Menge davon, nachdem Kai Pflaumes »Zu Fuß durch Göttingen« seit einem Jahr wie Blei in den Regalen lag.
Diesmal rettete ihn aber keine Auslandstätigkeit, er war nun wieder vor Ort, und in der nächsten Sekunde würde er auf seine durch ihn verstorbene Ehefrau treffen.
Rumms! Das war er, der Schlag in die Magengrube.
Sabine hatte sich wirklich sehr zu ihrem Nachteil verändert. Durch den gestrigen Würgevorgang hatten ihre Augen Basedow’sche Ausmaße angenommen, und ihr war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen.
Und dass sie ihm nun mit derart stumpfem Haar zu Füßen lag, würde ihr wahrscheinlich posthum immens stinken, wenn sie sich so sehen könnte.
Was war nun zu tun?
Im vorliegenden Fall hielt er es für einen großen Nachteil, dass ihn so leicht nichts aus der Ruhe bringen konnte. Hier war es nämlich ratsam, den Anruf bei der Polizei in möglichst aufgelöster Verfassung zu tätigen.
In Zukunft würde er neidische Kommentare wie »Mein Gott, du hast aber auch immer eine Ruhe!« dahin gehend relativieren müssen, dass im einen oder anderen Fall eine gewisse Erregung sogar wünschenswert sei. Diese Äußerung wäre noch nicht einmal verräterisch im Hinblick auf seine Täterschaft, weil in der Regel ja der Zuhörer ungeachtet seiner Schichtzugehörigkeit eine Aussage über Erregungszustände als schlüpfrige Bemerkung verstand und sofort in albernes Gelächter ausbrach.
Dieter war sich darüber im Klaren, dass das, was hier von ihm verlangt wurde, bisher nicht in seinem Genmaterial angelegt gewesen war: Er musste sich nun in eine der Situation entsprechende Aufgeregtheit versetzen, durch Hechelatmung seinen Sprech-Rhythmus beeinträchtigen und die 110 wählen.
»Polizeidienststelle Düsseldorf-Süd.«
»Becher hier, bitte kommen Sie sofort zu uns, also mir, beziehungsweise, meine Frau ist schon auch noch da, aber tot eben, das heißt, ich wohne hier noch regulär, aber meine Frau wird ja nicht hier bleiben können – ach Gott, ich bin total durcheinander!«
»Möchten Sie sagen, dass Ihre Frau tot in Ihrer gemeinsamen Wohnung liegt?«
»Jaja, genau. Ich weiß gar nicht, wie man das jetzt ausdrückt, bisher also gemeinsame Wohnung, der sich meine Frau aber jetzt durch Tod entzogen hat. So vielleicht.«
»Herr Becher, wie lautet denn Ihre Adresse?«
»Kronprinzenstraße 11 … Bei Becher.«
»Da war ich jetzt von ausgegangen. Herr Becher, bitte fassen Sie nichts an, es wird gleich ein Kollege bei Ihnen sein.«
»Danke, danke. Wissen Sie, ich weiß gar nicht, ich hab so was halt noch nie erlebt. Es ist auch meine erste Ehe. Also, ich bin froh, wenn sich das gleich mal einer anschaut. Danke.«
»Ja, Herr Becher, wie gesagt, bitte nichts anfassen und meinen Kollegen abwarten. Auf Wiederhören.«
Dieter war froh, dass das Gespräch recht zügig beendet war, und fand, dass er seine Sache einigermaßen gut gemacht hatte. Wer jemanden tot in der Wohnung liegen hatte, äußerte sich doch in der Regel eher ungeordnet. Das wurde doch sicherlich international so gehandhabt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mexikaner oder ein Lappe sich in seiner Situation am Telefon anders gebärdet hätte. Sie hätten in ihrem Fall mexikanisch oder lappländisch gesprochen, aber inhaltlich wären sie genauso verfahren wie er. Ein gutes Gefühl. Bis hierher musste er sich nichts vorwerfen.
Es klingelte. Das war aber flott gegangen. Im Moment schien in Düsseldorf-Süd nicht viel an Morden oder anderen polizeiintensiven Aktivitäten zu passieren.
Dieter öffnete fünf Herren die Tür. Da Sabine günstigerweise im Flur lag, konnte der Notarzt direkt nach zwei Schritten ihren Tod feststellen und nach Ausstellung des Totenscheins gleich wieder mit den beiden Sanitätern verschwinden.
Die Polizisten hielten sich deutlich länger auf. Während der eine mit einem kurzen »Ich darf mal?« den Weg durch alle Zimmer antrat, lag dem anderen einiges an einem ausführlichen Gespräch mit Dieter.
So erfuhr er, dass Dieter heute bei seiner Rückkehr aus Münster/Osnabrück, wohin er gestern aus geschäftlichen Gründen hatte reisen müssen, seine Frau tot aufgefunden hatte und dass er das sehr bedauerte.
Dieters Plan war es nämlich, gleich im ersten Kontakt mit der Staatsgewalt keinen Zweifel daran zu lassen, dass er gerne noch mit Sabine weitergelebt hätte und dass er sich wirklich niemanden vorstellen konnte, der ihr nach dem Leben getrachtet hätte.
So war er fürs Erste aus der Schusslinie raus.
Was dachte sich die deutsche Sprache eigentlich, wenn sie einem Witwer in so einem Fall auch noch das Wort Schusslinie nahelegte? Sehr nachdenklich verabschiedete sich Dieter von seinem Besuch und versprach seine engagierte Mitarbeit bei der Suche nach dem Mörder. Jetzt hieß es auf die Abholung Sabines zu warten, deren nächster Aufenthalt die Rechtsmedizin sein würde.
Oh nein! Die Vorstellung, obduziert zu werden, fand Sabine äußerst unappetitlich. Wenn sie nicht eh schon sauer auf Dieter gewesen wäre, weil er ihrem Leben so abrupt ein Ende gesetzt hatte, dann spätestens jetzt beim Warten auf den Schnitt durch die Leibesmitte.
Seit zwei Tagen lag sie bei unmenschlichen Temperaturen in der Schublade der Rechtsmedizin, mit nichts an außer einem Zettel am Zeh. Ab und zu wurden mit geschäftigen Bewegungen des Personals benachbarte Schubladen aufgezogen und die jeweiligen Aspiranten zur Untersuchung geholt, ansonsten war es hier sterbenslangweilig.
Sterbenslangweilig. Was hieß das jetzt in ihrem Fall konkret?
Die Tür ging auf, und eine grün bekittelte Dame rollte Sabine routiniert aus dem Schrank und in den benachbarten Raum, wo der Gerichtsmediziner Dr. Marzahn schon auf sie wartete.
Als ungeheure Zumutung empfand sie den Geruch von Gummi, während er mit seinen Handschuhen ihren eiskalten Körper abtastete. Auch seine Achseln gaben einen nicht mehr ganz frischen Duft ab, na ja, die Wanduhr über der Tür zeigte 16.10 Uhr. Und Raucher war er. Prost Mahlzeit. Darüber hatte sich wahrscheinlich noch niemand jemals Gedanken gemacht, aber Sabine würde ab heute in die Fachliteratur die Feststellung aufnehmen lassen, dass eine Leiche zwar niemandem auf die Jacke kotzt, wenn er mufft, dass sie aber durchaus davon träumen kann. Wenn sie sehr geruchsempfindlich ist. War. Ist. Egal.
»Starken Haarwuchs hatte unser Mädchen hier.« Dr. Marzahn fuhr ihr über die stacheligen Schienbeine. »Und guck mal, Vera, immer schön Sport machen!«, bemerkte er zu seiner Assistentin, während er aus Sabines Oberschenkel-Orangenhaut ein Wabensystem formte. Das machte er, indem er in die vorhandenen Dellen den Zeigefinger bohrte, sodass die Haut dort zu Sabines Verärgerung nachgab und Platz machte für weit größere Dellen.
Für jemanden wie Sabine, die zu Lebzeiten nicht gerade auf den Mund gefallen gewesen war, war es äußerst bitter, nun auf ihrer Spontanerwiderung sitzen beziehungsweise liegen zu bleiben und über sich ergehen lassen zu müssen, dass der Herr mit Doktortitel und üblem Körpergeruch sich derart uncharmant über sie äußerte. Sie nahm sich vor, dass sie, wenn sie endlich oben im Himmel ankäme, direkt die Beschwerdestelle aufsuchen und dort Dr. Paul Marzahn eintragen lassen würde.
Sssssssst! Gott sei Dank war das Messer superscharf, mit dem der Flegel ihr jetzt den ganzen Leib aufschnitt. Davor hatte sie nämlich einen Heidenrespekt gehabt, dass ihr da womöglich mit einem viel benutzten Küchenmesser im Bauch rumgesäbelt und -geruckelt würde. Die Vorstellung, dass bei diesem Kraftakt auch noch Marzahn’sche Schweißperlen von seiner Nasenspitze auf ihren Bauch hinuntertropften, hatte ihr völlig den Rest gegeben. Aber mit dem Solinger Messer war alles glatt gegangen. Und ganz ohne Schmerzen! Wie schön, hier war man kein empfindungsloses Wesen, denn Kälte und Wärme spürte sie ja durchaus, und ihr Geruchssinn war ihr ebenfalls – hier allerdings leider – erhalten geblieben, aber nichts tat mehr weh! Das war ganz gut geregelt, fand sie.
Knarrrrrrzzzzz! Zu zweit bogen sie nun ihre Rippen auseinander, und ihr Brustkorb stand sperrangelweit offen. Was wäre das schön gewesen, jetzt einmal tief durchzuatmen. Aber das brauchte sie ja nun nicht mehr. Wenn sie sich früher gestresst gefühlt hatte, hatte sie sich oft gewünscht, einmal ganz tief durchatmen zu können anstatt immer so kurzatmig zu werden, aber leider, leider – das Timing!
Jetzt setzte sich das im Tod also noch fort, dass man die besten Gelegenheiten häufig mit Bedauern an sich vorbeiziehen lassen musste.
»Was ist denn das?!«, unterbrach Marzahn ihre Gedanken, zog die Hand aus einer ihrer Darmschlingen heraus und hielt einen Eierlöffel aus Perlmutt in der Hand.
Was hatte sie den gesucht! Sie hatten nur zwei von diesen perlmutternen Eierlöffeln gehabt, und als sie vergangenen Sonntag den Frühstückstisch etwas schöner als alltags hatte decken wollen, vermisste sie den zweiten und geriet prompt mit Dieter in einen heftigen Streit darüber, wer in ihrem Haushalt stets alles verschlampte. Heftige Vorwürfe hatte sie Dieter darüber gemacht, dass es ihm ja eh vollkommen wurscht sei, welche Eierlöffel sie denn decken würde. Was er bestätigt hatte.
Nun fiel ihr ein, dass sie an dem Sonntag davor besonders spät gefrühstückt hatten, dass sie wahnsinnig hungrig gewesen war und dass Dieter auch noch etwas ungehalten zu ihr gesagt hatte, sie solle nicht immer so schlingen. Er hatte es noch nie leiden können, wenn sie so große Bissen nahm. Da musste sie also den Eierlöffel im Eifer des Gefechts …
Ja, jetzt schien plötzlich alles Sinn zu machen: Sie hatte in den letzten zwei Wochen ein Problem mit der Verdauung gehabt, was für sie nämlich eher ungewöhnlich gewesen war. Aber wer hätte ihr Aufschluss geben sollen mit der Erklärung: »Du hast ja auch den schönen Eierlöffel, von dem ihr nur zwei habt, unzerkaut heruntergeschluckt.«
Sie waren in der Situation ja nur zu zweit gewesen und hatten es beide nicht mitbekommen. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war in dem Moment auf die Zeitungsmeldung gerichtet gewesen, dass in China mehrere Säcke Reis einfach nicht umfallen wollten, was die ersten Experten nun mit der Klimaerwärmung in Verbindung brachten.
Und jetzt hielt ihr Marzahn diesen Eierlöffel vor die Nase.
Unter Garantie würde er ihn gleich abspülen und ihn sich unter den Nagel reißen. Aber wenigstens hätte er dann nur einen.
»Der ist schön, ne?«, meldete sich Assistentin Vera zu Wort. »Und wertvoll! Aus Perlmutt. Da hab ich auch zwei von. Geschenkt bekommen. Könnt ich mir von meinem mickrigen Assi-Gehalt gar nicht leisten.«
»Also, mir wäre das vollkommen wurscht, ob morgens die oder andere Löffel auf dem Frühstückstisch liegen würden«, schüttelte Marzahn den Kopf. »Unsere Kandidatin hier hatte ihn aber anscheinend zum Fressen gern, hahaha!«
Hahaha, du Blödmann. Von was für Leuten musste man sich hier eigentlich aufschneiden lassen?! Sabine war stocksauer.
Kommissar Pelzer stellte Dieter eine Tasse Kaffee hin und nahm ihm gegenüber wieder auf seinem Bürostuhl Platz. »Tja, Herr Becher, Ihre Frau ist erwürgt worden. Das hat unser Kollege in der Rechtsmedizin einwandfrei festgestellt.«
Dieter schlug die Hände vors Gesicht. »Aber … wer … macht denn so was?!« Genauso hatte er es zu Hause x-mal geübt: Hände vors Gesicht und dann stockend: Aber … wer … macht denn so was?! Jetzt war der Kommissar wieder dran. Aber der saß nur da und schaute ihn an, stellte Dieter fest, als er nach einer Weile mal zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurchguckte.
Gut. Dann nahm er besser mal die Hände wieder herunter und versuchte einen leeren Blick aus dem Fenster. Irgendwie geriet ihm die ganze Situation jetzt aber etwas zu vage, wenn hier zwei Männer saßen, die nur schauten. In Dieter wuchs der Wunsch nach etwas Klarem, Eindeutigem. »Ich war es nicht«, sagte er mit fester Stimme.
Pelzer lächelte ihn an. »Ich bin ganz erleichtert, dass Sie das so offen sagen, Herr Becher. Um ehrlich zu sein, kommen wir in unseren Ermittlungen nämlich nicht so recht voran. Und wenn wir Sie schon mal als Täter ausschließen können, ist uns das natürlich eine große Hilfe.«
»Ach du liebe Güte. Ihr Job ist ja auch nicht gerade einfach. Wie schläft man denn da so, nimmt man das nicht alles mit nach Hause, was man da so sieht?«, erkundigte sich Dieter.
»Bei mir geht es. Meine Frau ist da viel empfindlicher. Sie mag es zum Beispiel nicht, wenn ich ihr jemanden beschreibe, der erstochen wurde.«
»Aha? Ich hätte jetzt spontan gesagt, Erschossene sehen am ekligsten aus.«
»Das kommt immer ganz drauf an, man kann das gar nicht so generell sagen. Aber das hab ich auch erst lernen müssen. Ich hatte zum Beispiel immer einen Mordsrespekt vor Wasserleichen. Aber da muss ich nach 22 Jahren Berufserfahrung sagen, das geht eigentlich.«
»Ist doch wahrscheinlich auch eine Typsache, oder? Der eine ist mehr so, der andere tickt wiederum ganz anders«, warf Dieter nachdenklich ein. »Und wie wollen Sie nun weiter verfahren, was meine Frau angeht? Denken Sie vielleicht auch in Richtung Selbstmord?«
»Das ist halt eine der Sackgassen, in denen wir uns momentan befinden. Wie will sie das gemacht haben? Und warum? So naheliegend eine Selbsttötung vielleicht ist, da Sie ja beschrieben haben, wie beliebt Ihre Frau doch war, so wenig vermag ich an Suizid zu glauben, eben aus demselben Grund. Am schlüssigsten fände ich es im Moment, sie wäre gar nicht tot.«
»Ja. Ihr Tod ist so völlig sinnlos.« Dieter merkte, dass er das Gespräch mit dem Kommissar nun dringend beenden musste. Nach der ersten Erleichterung, die sich direkt nach Sabines Tod eingestellt hatte, spürte er jetzt nämlich immer öfter Zweifel in sich aufkommen. Warum hatte er eine Trennung stets so rundweg abgelehnt? Ihn hatte daran einfach immer gestört, dass es den anderen danach ja doch noch irgendwo gab, infolgedessen war er, wenn, dann stets für die viel klarere, weil endgültige Lösung gewesen. Aber genau das empfand er gerade als ein Problem. Dass Sabine jetzt komplett weg war.
Es war wirklich verzwickt: Manche Dinge sahen in der Vorstellung doch ganz anders aus, als wenn man sie dann mal ausprobierte. Und es gab eben Dinge, die konnte man nur einmal ausprobieren.
»Herr Becher, wir müssen hier jetzt auch mal wieder weitermachen. Es war schön, mit Ihnen ein bisschen zu plaudern«, meldete sich Kommissar Pelzer mitten in seine Gedanken zu Wort. »Dürfen wir Sie denn auch noch mal stören, sollten wir ein paar Nachfragen haben? Ihnen geht’s im Moment ja auch nicht so toll.«
»Das stimmt. Ich häng irgendwie ganz schön durch. Aber wenn ich irgendwie helfen kann, das Schwein zu fassen, melden Sie sich ruhig!«
Mit einem aufmunternden Augenzwinkern entließ Kommissar Pelzer Dieter aus dem Büro.
Sabine war völlig aus dem Häuschen. Das war ja überwältigend!
Die letzten Stunden waren ungeheuer aufregend gewesen. Sie war noch dabei, sich heftigst über diesen Herrn ohne jede Kinderstube, Dr. Paul Marzahn, zu ärgern, da verschwommen ihr die bis eben klaren Bilder vor Augen und sie geriet in eine nie erlebte Thermik. Um sie herum angenehme 26 Grad mit leichtem Wind, schmeichelnde Farben in Pastell, und mit einem irrsinnigen Tempo raste sie, wie in einer weichen Schale liegend, auf etwas zu.
Sie kam zum Halten und – was war denn das nun??
Zu den Klängen der Never Comebacks, was ein Plakat an der Tür verriet, stoppte sie vor einer überdimensionierten Pub-Tür. Von innen drangen außer der Musik laute Stimmen und Gelächter an ihr Ohr. Sie wippte prompt zu den Klängen im Takt.
An sich herunterschauend befand sie, dass sie keinesfalls so nackt, wie sie aus dem Obduktionsraum hierhergekommen war, in dieses Gebäude eintreten konnte. Da fiel ihr Blick auf einen Kleiderständer rechts neben dem Eingang mit einem Hinweisschild »Für Neuankömmlinge«.
Die angebotene Garderobe reichte von Versace bis C&A, von sportiv bis elegant. Aber nix secondhand, alles brandneu!
Mit leuchtenden Augen begann Sabine zu stöbern und probierte ohne jede Störung bis zur Erschöpfung Hosen, Röcke, Kleider, Schuhe, Stiefel, Dessous – was das Damenherz begehrt. Nach einem letzten Blick in den bereitstehenden Spiegel rüstete sie sich nun in einem Traum von Thierry Mugler zum Klingeln.
Die Pub-Tür wurde aufgerissen, und Jens, ein langjähriger Freund von Dieter, der vor einigen Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war, stand mit einem Champagnerglas in der Hand vor ihr.
»Hereinspaziert, wir warten scho… SABINE?!?!«
Sabine konnte es gar nicht fassen. Zum Zeitpunkt seines Unfalls hatte sie ihn sich gerade für die erste Affäre ihres Lebens ausgewählt, nur mal ein bisschen gucken, was man so machen konnte trotz Ehestatus und daraus resultierender langfristiger Festlegung auf Dieter.
Ihr Entsetzen war dementsprechend groß gewesen bei der Nachricht von Jens’ Ableben. Und nun stand er hier vor ihr, und Dieter war weit weg!
Das muss der Himmel sein, schoss es ihr durch den Kopf, während sie von dem auf sie einredenden Jens in den Pub gezogen wurde.
»Das gibt es doch gar nicht! Sabine! Hast es da unten nicht mehr länger ausgehalten, was? Ist Dieter auch gleich mitgekommen? Wie, der hat dich umgebracht?! Ach, komm, red kein’ Mist! Dazu ist der doch viel zu träge! Allein diese Idee zu haben ist doch schon zu innovativ für Dieter, der ist doch mit Essen, Trinken und Atmen schon vollkommen ausgelastet! Na, wenn dem da jetzt mal nicht tierisch langweilig wird ohne dich!«
Sabine fand, dass die Beschreibung eines derart nutzlosen Ehegatten auch etwas auf sie zurückfiel, aber damit wollte sie sich nun nicht länger aufhalten. Erst mal umsehen.
Um sie herum feierten lauter bestens gelaunte Leute, und Gabi aus Bottrop, die sich ihr gerade vorstellte, erklärte ihr, dass immer, wenn wieder eine bestimmte Anzahl an Neuankömmlingen zusammengekommen sei, also quasi ständig, ein großes Fest zu deren Ankunft ausgerichtet werde, damit sich diejenigen, so vollkommen herausgerissen aus ihrer vertrauten Umgebung, direkt heimischer fühlten.
»Superidee!«, rief Sabine und hatte schon das zweite Glas Champagner in der Hand.
»Komm, ich führ dich mal ein bisschen rum«, sagte Jens und hakte sie unter. »Das ist ja der Hammer, dass ausgerechnet du hier heute einziehst. Du bist die erste Bekannte, die ich hier empfange, andere haben schon öfter ein großes Hallo erlebt.«
»Ich hatte ja gar keine Vorstellung davon, wo man so hinkommt, wenn man da unten den Geist aufgibt«, staunte Sabine sich durch das Gespräch. »Von euch dringt ja wirklich überhaupt nichts durch. Alle Achtung, das nenn ich Dichthalten! Uurrhglps – Entschuldige, das ist der Champagner, da muss ich immer so sauer von aufstoßen. Ich trinke nämlich eigentlich viel lieber Bier. Und das am liebsten frisch gezapft vom Füchschen in Düsseldorf, oder das Uerige oder Frankenheim Alt. Da habt ihr nicht zufällig irgendeins von da?»
»Hui, da fragste mich jetzt aber was. Wenn, dann nur in Flaschen. Da müsst’ ich einfach mal gucken gehen. Was wir in jedem Fall dahaben, ist Vittel. Oder Volvic. ’N Evian kannste auch haben. Soll ich mal schnell danach schauen?«
»Ach was, ich steig gleich einfach um auf ’nen leichten Chardonnay oder ’nen schönen Riesling, und dann hat es sich. Über ein Glas Verdicchio würd’ ich mich allerdings am meisten freuen.«
»Jaa, den haben wir auf jeden Fall da! Den trinkt der Jesus nämlich auch am liebsten. Bei seinem letzten Italien-Aufenthalt, das hieß damals noch anders, jedenfalls, bevor die den damals ans Kreuz genagelt haben, hat er diesen guten Tropfen kennengelernt. Und das ist bis heute sein Lieblingswein. Wahnsinn, ne? Wo das doch alles schon so lange her ist!«
Sabine fühlte sich pudelwohl. Tolle Gespräche, tolle Leute. Hier schien nun wirklich ein neues Leben, oder wie auch immer man das nennen wollte, zu beginnen. Während ihrer Unterhaltung mit Jens war ihr Blick frei auf tanzende Leute, ebenso kamen ständig neue Menschen an ihnen beiden vorbei, nickten ihr freundlich zu, manche zwinkerten, und alle gaben ihr rundweg das Gefühl, willkommen zu sein.
»So, jetzt suchen wir mal Jesus, der hat hier ja letztlich das Sagen mit seinem Vater zusammen. Aber die machen das vollkommen locker, die lassen wirklich nie irgendwie den Chef raushängen oder so. Dafür, was die damals für ein großes Rad gedreht haben, sind die beiden wirklich extrem cool drauf.«
Sabine war erleichtert. Es hätte ja ebenso gut sein können, dass die beiden von der ganzen Schöpfungsgeschichte und dem Martyrium und der daraus entstandenen Bewegung noch total erfolgsbesoffen hier oben herumgockelten. Aber dem schien ja nicht so laut Jens. Oh, sie hätte den ganzen Himmel umarmen können!
Jens bahnte sich mit Sabine einen Weg durch die feiernde Menge, bis sie vor einem äußerst gut aussehenden Mann standen, offener Blick, offenes Hemd, der sie anlächelte: »Hallo, ich bin Jess.«
»Hi, ich bin Sab.« Kaum ausgesprochen, erschien ihr ihre Antwort eher unangebracht.
»Na ja, ich hab mich irgendwann Jess genannt, weil es mir zunehmend auf die Nerven ging, wenn immer alle so guckten: Ho, der Jesus, huijuijui!«
»Das versteh ich voll super«, antwortete Sabine und fand, dass sie jetzt ein bisschen drüber war. Aber es war ja auch eine bizarre Situation, vor diesem weltberühmten Jesus zu stehen, von dem sie schon so viel gehört hatte.