Leo Trotzki

Tagebuch im Exil

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Das Tagebuch übersetzte Theodor F. Krause aus dem Russischen

Die Übersetzung der Anmerkungen erfolgte aus dem Englischen von Ursula Albrecht

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Leo Trotzki

Leo Trotzki – dieser Name ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Oktoberrevolution von 1917 in Rußland. Er war der führende Mann und Organisator. 1918 baute er als Volkskommissar für Militärwesen die Rote Armee auf und war Befehlshaber während des Bürgerkriegs in Rußland. Nach Lenins Tod begann Trotzki sehr genau die Veränderungen im Lande unter dem Nachfolger Stalin zu registrieren. Er prangerte die degenerierte Revolution an und sammelte Gleichgesinnte um sich. Er wurde damit Stalins Todfeind. Es folgten Parteiausschluß, Verbannung und schließlich Ausweisung aus der UdSSR. Sein Exil begann 1929 in der Türkei, ging über Frankreich, Norwegen nach Mexiko und endete dort 1940 mit seiner Ermordung. Stalins Arm reichte weit: durch einen Agenten der russischen Geheimpolizei ließ er Trotzki erschlagen.

Über dieses Buch

Nicht das Revolutionsjahr 1917, nicht die darauf folgenden Bürgerkriegsjahre, sondern die Zeit seiner Emigration in Frankreich hat Trotzki als die wichtigste Epoche seines Lebens bezeichnet. Sie ist festgehalten in seinen Tagebuchaufzeichnungen. In ihnen analysiert er die Situation in Frankreich und in der Sowjetunion zu Beginn der großen Säuberungen. Gleichzeitig erhält der Leser durch die Tagebuchaufzeichnungen Einblick in das persönliche Leben, den Alltag, die Arbeitsweise und die vielseitigen Interessen Trotzkis. So entsteht, vollständiger und dichter als in seinen Werken, das Bild eines bedeutenden Menschen und Politikers und das Bild einer der schillerndsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41268-0

Fußnoten

Vgl. für das Folgende auch das Vorwort der amerikanischen Ausgabe »Trotsky’s Diary in Exile – 1935« – Translated from the Russian by Elena Zarudnaya, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts 1958

Ich bin mir, wie schon erwähnt, nicht sicher, ob die Verhandlungen Krassins in das Jahr 1924 oder 1925 fallen. (In Moskau würde ich das genaue Datum mühelos feststellen.) 1924 war Emile Hébrard Direktor des Temps, ein Kontrahent des zaristischen Agenten Rafalowitsch. 1925 wurde Emile von dem alten Adrien abgelöst: das war der bescheidene Lohn, den das entlarvte Laster an die Tugend entrichtete. Ich bin der Meinung, daß, unabhängig von dem genauen Zeitpunkt, die Verhandlungen mit Emile von Krassin geführt wurden, doch kann ich mich dafür nicht verbürgen: damals habe ich mich für die Personalseite der Angelegenheit nicht interessiert. Auch gegenwärtig ist sie ja belanglos. Der Temps ist und bleibt eben der Temps. Die Generationen kommen und gehen, die Korruption bleibt.

Es wird notwending sein, darüber eingehender zu berichten.

Ein Vergleich der Dokumente erbringt keinen Beweis für diese Annahme.

Dabei fällt mir eine Episode ein. S. Webb teilte mir mit besonderem Nachdruck mit, daß er nur deshalb die Möglichkeit gehabt habe, England auf einige Wochen zu verlassen, weil er bei den Parlamentswahlen nicht kandidierte. Offensichtlich erwartete er meinerseits die Frage: warum?, um mir dann die Mitteilung von seiner bevorstehenden Erhebung in den Adelsstand zu machen. Sein Blick verriet mir, daß er auf diese Frage wartete, ich hielt mich aber zurück, um nicht irgendeinen Fauxpas zu begehen: die Geschichte mit dem Lordtitel kam mir überhaupt nicht in den Sinn, ich bin eher geneigt zu glauben, daß Webb aus Altersgründen auf eine aktive Rolle in der Politik verzichtet hatte und dieses Thema verständlicherweise nicht vertiefen wollte. Erst später, als die neue Regierung gebildet worden war, wurde mir klar, worum es sich dabei gehandelt hatte: der Verfasser von Forschungsstudien über die industrielle Demokratie lebte im stolzen Vorgefühl, alsbald den Titel eines Lords zu führen!

Es steht zu erwarten, daß Hitler nun die allgemeine Abrüstung vorschlagen und diese Forderung zur Bedingung für den Wiedereintritt Deutschlands in den Völkerbund machen wird. Ein derartiger Wettbewerb mit Litwinow ist dem deutschen Imperialismus völlig ungefährlich …

Endnoten

Leo Trotzki: Stalin. Eine Biographie. Köln-Berlin 1952.

Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Berlin 1930, S. XIV.

Die wichtigste Biographie ist immer noch die von Isaac Deutscher: Trotzki. Bd. 1, Der bewaffnete Prophet 1879–1921, Bd. 2, Der unbewaffnete Prophet 1921–1929, Bd. 3, Der verstoßene Prophet 1929–1940. Aus dem engl, von H. Maor, Stuttgart 1962/1963.

Vgl. außerdem: Bertram D. Wolfe: Lenin, Trotzki, Stalin. Drei, die eine Revolution machten. Frankfurt 1965.

Harry Wilde: Trotzki in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1969.

Joel Carmichael: Trotzki. Frankfurt-Berlin (West) 1973.

Victor Serge: Leo Trotzki. Leben und Tod. Wien–München 1978.

Vgl. auch: Heinz Abosch: Trotzki-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München 1973.

Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Frankfurt/M. 1961.

Leo Trotzki: Geschichte der russischen Revolution. Frankfurt/M. 1960. Dasselbe, 17.–21. Tausend, Frankfurt/M. 1967.

Leo Trotzki: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Fischer-Taschenbuch 8258, Frankfurt/M. 1974.

Leo Trotzki: Stalin. Eine Biographie. Bd. 1 und 2. Hrsg. Hartmut Mehringer. Reinbek b. Hamburg 1971.

Leo Trotzki: Schriften zur revolutionären Organisation. Erstmals aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Hartmut Mehringer. Reinbek b. Hamburg 1970.

Leo Trotzki: Der junge Lenin. Wien 1969.

Leo Trotzki: Über Lenin. Material für einen Biographen. Frankfurt/M. 1964.

Leo D. Trotzki: Ihre Moral und unsere. Voltaire Flugschrift 8, Berlin (West) 1967.

Leo D. Trotzki: Die russische Revolution. Kopenhagener Rede 1932. Voltaire Flugschrift 29, Berlin (West) 1970.

Die verschiedenen trotzkistischen Gruppen in Deutschland gaben in den letzten Jahren zahlreiche Schriften Trotzkis (teils maschinenschriftlich vervielfältigt, teils die alten Ausgaben fotokopiert) heraus. Bereits 1957 hat der Veritas Verlag Zürich Trotzkis »Verratene Revolution« neu herausgebracht. Vgl. u.a. Leo Trotzki: Die Wendung der Komintern und die Lage in Deutschland (1930), Berlin (West) 1970.

Leo Trotzki: Vor der Entscheidung. Schriften über den Kampf gegen den Faschismus 1931–1933. Berlin (West) 1970.

Leo Trotzki: Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale. (1929). Berlin (West) 1970.

L. Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. (1938). Berlin (West) 1972.

Leo Trotzki: Frau, Familie und Revolution. Berlin (West) 1973.

Leo Trotzki: Die verratene Revolution (1936) Berlin (West) 1971.

Leo Trotzki: Drei Konzeptionen der russischen Revolution. O.O. 1971.

Leo Trotzki: Spanische Lehren (1937), Berlin (West) o.J.

Leo Trotzki: Die russische Revolution von 1905. Berlin (West) o.J.

Leo Trotzki: Kopenhagener Rede (1932), Mannheim o.J. Als faksimilierte Nachdrucke ohne weiteren Hinweis erschienen u.a. Trotzkis Schriften: Die neue Etappe (1921), Die neue ökonomische Politik Sowjetrußlands und die Weltlage (1923), Kapitalismus oder Sozialismus (1925), Der einzige Weg (1932).

Artur Müller: Die Sonne, die nicht aufging. Schuld und Schicksal Leo Trotzkis. Stuttgart 1959.

Peter Weiss: Trotzki im Exil. Frankfurt/M. 1970. Vgl. aber auch:

Joseph Roth: Der stumme Prophet. Köln 1965.

Heinz Brahm: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins. Die ideologische Auseinandersetzung 1923–1926. Köln 1964.

Willy Huhn: Trotzki – der gescheiterte Stalin. Berlin (West) 1973.

Heinz Abosch: Trotzki und der Bolschewismus. Basel 1975. Vgl. auch: Günter Bartsch: Trotzkismus als eigentlicher Sowjetkommunismus? Die IV. Internationale und ihre Konkurrenzverbände. Bonn–Bad Godesberg 1977.

Pierre Frank: Die Geschichte der IV. Internationale. Hamburg, o.J.

Siegfried Bahne: Der »Trotzkismus« in Geschichte und Gegenwart, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 15. Jg. 1967, S. 56–86.

Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution. Eingeleitet von Richard Lorenz. Frankfurt/M. 1967. Erneut abgedruckt in: Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz. Frankfurt/M. 1971.

Vgl. vor allem Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Berlin-Wilmersdorf 1930, Neudruck: Leo Trotzki: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, Frankfurt/M. 1971.

Trotzki, Die permanente Revolution, ebda, S. 160.

Vgl. Anm. 6. außerdem: Abosch, Trotzki und der Bolschewismus, a.a.O. (Anm. 9), S. 26ff. und Bahne, a.a.O. (Anm. 9), S. 58ff.

Vgl. Wolfgang Abendroth (Hrsg.): O. Bauer, H. Marcuse, A. Rosenberg u.a. Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Frankfurt/M.–Wien 1967. Vgl. auch die Hinweise von Helmut Dahmer in Leo Trotzki: Schriften über Deutschland, Bd. 2, Frankfurt/M. 1971.

Leo Trotzki: Gesammelte Werke 1. Schriften über Deutschland, Band 1 und 2. Hrsg. Helmut Dahmer, eingeleitet von Ernest Mandel. Frankfurt/M. 1971.

Leo Trotzki: Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen. Auswahl aus den »Schriften über Deutschland«. Frankfurt/M. o.J.

These des XIII. EKKI-Plenums vom Dezember 1933, in: Hermann Weber: Die Kommunistische Internationale. Eine Dokumentation. Hannover 1966, S. 279.

Ernst Thälmann: Schmiedet die Rote Einheitsfront! in: Die Rote Fahne vom 29.11.1931, abgedruckt in: Ernst Thälmann, Kampfreden und Aufsätze. Berlin o.J. (1932), S. 41.

Zitiert in: Leninismus gegen Stalinismus. Zusammengestellt von Oskar Fischer, o.O.u.J. Neuauflage: Ernest Mandel, Trotzkis Faschismustheorie, im Anhang: Oskar Fischer, Leninismus gegen Stalinismus. 2. Aufl. Hamburg 1977.

Vgl. die Hinweise von Dahmer, a.a.O. (Anm. 15). Neuerdings vgl. Rüdiger Zimmermann: Der Leninbund. Linke Kommunisten in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1978. Zur Komintern: Barbara Timmermann: Die Faschismus-Diskussion in der Kommunistischen Internationale (1920–1935). Phil. Diss., Köln 1977.

Vgl. z.B. Mehringer im Nachwort zu Trotzki, Stalin, a.a.O. (Anm. 5), Bd. 2, S. 302.

Trotzki, ebda, Bd. 2, S. 233.

Leo Trotzki: Verratene Revolution. Antwerpen 1937, S. 233 (Neuauflage Zürich 1957, S. 233).

Leo Trotzki: Stalin. Eine Biographie. Köln 1952, S. 488 (Neuauflage, a.a.O. Anm. 5, Bd. 2, S. 222).

Leo Trotzki: Mein Leben. Berlin 1930, S. 498 (Neuauflage 1961, S. 472, Taschenbuch S. 442).

Vgl. Die linke Opposition in der Sowjetunion. Texte von 1923–1928. Hrsg. und eingeleitet von Ulf Wolter. Band 1–5. Berlin (West) 1976/77 und Diskussionsband: Sozialismusdebatte, 1978.

Vgl. dazu auch Abosch, a.a.O. (Anm. 9).

Vgl. dazu Hermann Weber, Lenin und der Leninismus, in: Ders., Demokratischer Kommunismus? Hannover 1969, Neuauflage Berlin (West) 1979, S. 41ff.

M. Basmanow: Das Wesen des Trotzkismus von heute. Moskau 1975, S. 72.

B. Ponomarjow: Trotzkismus – ein Werkzeug des Antikommunismus. Moskau 1972, S. 17.

Alexander Sobelew: Trotzkismus – Feind der Revolution. Berlin (Ost) 1974, S. 23ff.

Rudolf Bahro: Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. in: Rudolf Bahro. Eine Dokumentation. Köln–Frankfurt/M. 1977, S. 49.

Vgl. auch Ulf Wolter (Hrsg.): Antworten auf Bahros Herausforderung des »realen Sozialismus«. Berlin (West) 1978.

Rene Ahlberg: Sozialismus zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Die marxistische Systemkritik seit Trotzki. Stuttgart 1979.

Vgl. z.B. Leo Trotzki: Fragen des Alltagslebens. Die Epoche der »Kulturarbeit« und ihre Aufgaben. Hamburg 1923. Leo Trotzki: Literatur und Revolution. Wien 1924. Daraus Teilabdruck: Leo Trotzki: Der Futurismus. Zürich 1972.

Vgl. Anm. 15.

Vgl. Leo Trotsky: Writings. New York, 1969–1972. Vgl. z.B. auch Trotsky, a documentary by Francis Wyndham and David King. London 1972.

Léon Trotsky: Oeuvres, Bd. 1–5 (März 1933–Juni 1935). Paris 1978/79. Vgl. auch Cahiers Léon Trotsky. Nr. 1, Paris, Januar 1979.

Abosch, a.a.O. (Anm. 9), S. 191.

Vorwort zur ersten Auflage der deutschen Übersetzung von 1960

»… Nach dem Essen gingen wir im Garten spazieren. Der Abend sank herab, ein Abend, so schön wie der gestrige; der Kalk der Häuser, im Felde und an den freien Stellen des schon dunklen Waldes, schimmerte in einem bläulichen Weiß, in einer Art matter Phosphoreszenz. Die Unterhaltung war weniger konzentriert, weniger straff. Er erzählte mir von Lenin, über den er demnächst ein Werk von dem Umfang wie ›Mein Leben‹ schreiben würde, wo er alle philosophischen und taktischen Probleme, die er noch nicht behandelt habe, verarbeiten wolle.

›Erhoffte Lenin vom Kommunismus einen neuen menschlichen Typus oder erblickte er auf diesem Gebiet eine gewisse Entwicklung in der Kontinuität?‹

Trotzki überlegte. Wir gingen dahin, vor uns das Meer, das gemächlich an die Felsen anschlug; ringsumher vollständiger Frieden.

›Ein neuer Mensch, ganz gewiß‹, antwortete er. ›Für ihn waren die Perspektiven des Kommunismus unendlich.‹

Er überlegte von neuem.

›Aber‹, sagte ich, ›es scheint mir, daß für Sie …‹

›Nein, im Grunde denke ich so wie er‹.«

 

So berichtet André Malraux über eine Begegnung mit Trotzki im Jahre 1934 – ein Jahr, bevor dieser in seinem französischen Exil sein Tagebuch beginnt.

 

Fünfzehn Jahre früher zeichnete Maxim Gorki ein kurzes Gespräch mit Lenin auf:

 

»›Es wird viel gefaselt und besonders viel anscheinend über mich und Trotzki‹. Er schlug mit der Hand auf den Tisch und sagte: ›Bitte, man soll mir noch einen Menschen zeigen, der imstande wäre, in einem Jahr ein fast mustergültiges Heer zu organisieren und auch die Achtung militärischer Sachverständiger zu erringen. So einen Mann haben wir! Wir haben alles! …‹«

 

Am 25. März 1935 notierte Trotzki in sein Tagebuch: Ich glaube, »daß meine gegenwärtige Arbeit, so ungenügend und fragmentarisch sie auch sein mag, die bedeutendste Leistung meines Lebens darstellt, wichtiger als meine Tätigkeit im Jahre 1917, wichtiger als die Arbeit in der Zeit des Bürgerkrieges usw.

Um es ganz klar auszusprechen: wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, daß Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung übernommen hätte. Wären aber sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend, so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben … Dasselbe läßt sich im großen und ganzen vom Bürgerkrieg behaupten … So gesehen, kann ich nicht einmal hinsichtlich der Zeitspanne von 1917 bis 1921 von der ›Unersetzlichkeit‹ meiner Arbeit sprechen. Dagegen ist meine gegenwärtige Arbeit im wahren Sinne des Wortes ›unersetzlich‹. Dieser Gedanke enthält auch nicht eine Spur von Hochmut: Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg auszurüsten.«

 

Welche Fehleinschätzung des eigenen Lebens! Welche Tragik! Ein Mann, der wie kein zweiter neben Lenin geschaffen schien, die Revolution nicht nur zu organisieren, sondern auch ihre Kontinuität zu bewahren und Macht im Namen einer Idee, einer Ideologie auszuüben, hat wirkliche Macht nur sieben von 61 Jahren seines Lebens in den Händen gehalten. 24 Jahre lebte er in Emigration und Verbannung.

 

»Nicht ohne Verwunderung sah ich auf dem letzten (dem 43sten Heft) des von mir herausgegebenen Bulletin der russischen Opposition den Vermerk:7. Jahrgang. Das bedeutet: das siebente Jahr der dritten Emigration. Die erste dauerte zweieinhalb Jahre (1902–1905), die zweite zehn Jahre (1907–1917), die dritte … wie lange wird die dritte dauern?« –

schreibt er am 27. April 1935 in sein Tagebuch.

 

Sie dauerte elf Jahre und endete mit der Ermordung Leo Trotzkis am 20. August 1940 in seinem mexikanischen Exil durch einen Beauftragten Stalins und der GPU.

Freunde und Bewunderer Trotzkis, die ihn in seinem französischen Exil und später besuchten, haben berichtet, mit welcher verzehrenden Ruhelosigkeit der fast 60jährige auf den Zusammenbruch der Stalin-Despotie wartete, sie mit seinem Wunsch und Willen fast herbeizuzwingen suchte, um zurückzukehren nach Moskau, in den Kreml, und das Erbe Lenins – von Stalin verraten und besudelt – anzutreten, sein Werk weiterzuführen. Rußland – das revolutionäre Rußland, Lenins Werk und sein Werk, in den Händen des modernen Dschingis-Khan? Es kann nicht sein, kann nicht sein! Die Vernunft, der scharfe analytische Verstand scheinen zu versagen, zugedeckt zu werden von dem brennenden Wunsch des lebenslänglichen Revolutionärs, des aufbegehrenden, fast lebenslänglichen Emigranten, das Schicksal zu zwingen. Und wonach greift er in dieser ohnmächtigen Hilflosigkeit? Nach der Illusion?

 

»… Dagegen ist meine gegenwärtige Arbeit im wahren Sinne des Wortes ›unersetzlich‹…«

 

Nur allzu leicht sagt es sich hin und schreibt es sich hin, ein Vierteljahrhundert später, dies sei eine Illusion gewesen. Mit den Augen des Oktoberrevolutionärs gesehen, hatte er nicht so unrecht. Lenin war tot. Der »Henker der Revolution« regierte. Die Persönlichkeiten des russischen Oktober – eine nach der anderen ausgeschaltet, schon im Ghetto lebend, kurz vor ihrer physischen Vernichtung, ohne Stimme und Gehör. Wer blieb da außer Trotzki, »die Methode der Revolution« zu lehren?

Aber: Revolutionen und Staatsstreiche entbehren jedes konservativen Elements. Sie wiederholen sich nicht in ihrer jeweils einmaligen Form. Das Zeitalter der »proletarischen Revolution« war zu Ende gegangen, noch ehe es begonnen hatte. Das war die Tragik Trotzkis, das nicht zu wissen, seine Illusion.

Seltsam! Der angeborene revolutionäre Charakter dieses Mannes und, fast möchte man meinen, sein Selbsterhaltungstrieb erlaubten ihm nicht, sich in das Offensichtliche zu fügen: Stalin ist der Sieger im Kampf um die institutionelle Nachfolge Lenins geblieben. Trotzki will es nicht einsehen! Und dennoch ist er zeitweise in der Lage, nun wirklich, wie kaum ein zweiter, mit einer Mischung aus faszinierender Intuition und pedantischer Analyse den Gang der Ereignisse im Rußland Stalins vorauszusagen.

Im Frühjahr 1939 besucht ihn eine seiner Anhängerinnen in Mexiko. »Stalin wird sich mit Hitler verbünden«, sagt ihr Trotzki. Sie fährt zurück zu ihren politischen Freunden nach Paris. Alle meinen mit ihr: »Der Alte ist verrückt geworden! Der Haß auf Stalin macht ihn blind!« – Am 23. August 1939 schließen Hitler und Stalin den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt!

Prophetisch schreibt der alte Mann noch in seinem Testament:

 

»Ich habe es nicht nötig, hier noch einmal die einfältige und niederträchtige Verleumdung Stalins und seiner Agenten zu widerlegen: Meine Ehre als Revolutionär ist makellos … Die Gegner Stalins sind zu Tausenden … falschen Anschuldigungen zum Opfer gefallen. Die neue revolutionäre Generation wird die politische Ehre dieser Opfer wiederherstellen und mit den Henkern im Kreml abrechnen, wie sie es verdient haben.«

 

Im Februar 1956 hält Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU seine berühmt gewordene Geheimrede und rechnet mit den Verbrechen Stalins ab. Eine Anzahl der auf Befehl Stalins ermordeten alten Bolschewiki wird rehabilitiert.

Trotzki hat auch geirrt, schwer geirrt. Trotzki hat ein gerütteltes Maß Schuld auf sich geladen an den Wirrnissen unseres Jahrhunderts. Aber er hat als einer der ersten die Degenerierung der Revolution – und das Verhängnis Stalin erkannt. Freilich von einer Warte, die nicht die unsere ist. Gewiß auch mit dem Subjektivismus des unmittelbar Beteiligten, der mit Stalin nicht allein in einen politischen, sondern auch in einen persönlichen Machtkampf verstrickt war. Aber auch mit dem Instinkt des hochgebildeten, kultivierten Revolutionärs, dem der teuflische, nach persönlicher Macht gierende, ungebildete, auf seine Weise großartig-primitive Bürokrat fast körperlichen Abscheu eingeflößt haben muß. Das Wissen: der stalinistische Bolschewismus, auch in leicht abgewandelten Formen, bedeutet Herrschaft der seelenlosen Gewalt über den Geist, unmenschlichen Terror, unerträgliche Unterdrückung gerade auch der Arbeiterschaft, dieses Wissen verbindet uns heute mit Trotzki. Manchen, die nicht auf seiner Seite, sondern immer auf der Seite seiner Gegner standen, kam die Einsicht später als Trotzki.

 

»So einen Mann haben wir!«, rief Lenin voller Bewunderung für Trotzki Maxim Gorki zu.

»… im Grunde denke ich so wie er« – antwortete Trotzki André Malraux in einem Gespräch über Lenin.

 

Gewiß hat sich Trotzki nie als Schüler Lenins gefühlt. Sein Selbstbewußtsein und seine Sicherheit waren genügend ausgeprägt, um die Gleichwertigkeit der Persönlichkeiten zu erkennen. Er ist ziemlich früh, bereits zu Beginn seiner politischen Tätigkeit, kurz nach der Jahrhundertwende in London, mit Lenin in Zwist geraten und stand ihm bis 1917 anerkennend-kritisch gegenüber.

Dann, zwischen der russischen Februar- und der Oktoberrevolution, übernahm Lenin Trotzkis These von der permanenten Revolution. Trotzki bekannte sich zu Lenins Organisationslehre, und das Bündnis der beiden Männer wurde zu einer Voraussetzung der Oktoberrevolution.

Nach Lenins Tod 1924 geht in dem Verhältnis Trotzkis zu dem Freund und Genossen eine Wandlung vor, die immer deutlicher zutage tritt, je älter Trotzki wird. Die langen Perioden der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem toten Freund verschwimmen in der Erinnerung, treten immer weiter zurück, werden vielleicht sogar bewußt verdrängt – über dem Kampf mit Stalin um das Erbe Lenins. Scheinbar, ohne daß es ihm voll bewußt wird, läßt Trotzki seine ganz eigenen Leistungen und Verdienste zurücktreten und betont immer wieder seine Übereinstimmung mit Lenin und die Größe Lenins. Und das alles in dem Drang, Stalin und der Welt zu beweisen, er und nicht der unebenbürtige Rivale ist zum Nachfolger Lenins, zum Vollstrecker des Leninschen Werkes bestimmt. In die Schriften und Aufzeichnungen mischen sich fast kindliche Bewunderung für den Großen, geheimer Stolz, so zu denken wie er.

Eine ganze Generation von Trotzki-Anhängern wird nach seinem Tode mit rührender Sorgfalt in allen Schriften nach jedem anerkennenden Wort Lenins über ihren Meister suchen, ohne sich dieser leisen Abwertung bewußt zu werden.

Vielleicht aber hat Trotzki auch gespürt oder gewußt: Lenin war der Größere. Vielleicht gerade deshalb gewinnt Trotzki eher unser menschliches Verständnis und leichter unsere Sympathie. Er ist lauterer als Lenin. Er ist »menschlicher« als Lenin, weil er mehr Blößen und Schwächen besitzt.

Lenin bleibt der große Theoretiker und Organisator der »proletarischen Revolution«. Er konzipiert nicht nur in seinen Schriften eine detaillierte Revolutionstheorie, er setzt auch ständig ins Werk, ergreift die Initiative, organisiert, konspiriert – und weiß immer genau, was er will. Der geniale Revolutionär und der geniale Bürokrat sind in Lenin zu einer Einheit verschmolzen.

Trotzki verkörpert den Typ des intellektuellen Revolutionärs. Die Initiative liegt oft eher bei Lenin als bei ihm. Trotzki zögert – sein Zaudern in den Tagen nach Lenins Tod wird ihm zum Verhängnis – mehr als einmal schwankt er zwischen den Extremen, kann sich nicht entscheiden, bewegt sich zwischen den Fronten – und verliert.

Aber sind der Aufbau der Roten Armee, die Rolle Trotzkis im nachrevolutionären Bürgerkrieg nicht Beweis dafür, daß er genauso wie Lenin die Kunst der Organisation beherrschte?

Die Rote Armee entstand im Feuer des revolutionären Kampfes, generöse Planung, heißer revolutionärer Atem waren nötig, sie zu schaffen. Aber je mehr die Revolution ihren mitreißenden Schwung verlor und verblaßte, im Tausenderlei des bürokratischen Alltags verebbte, um so mehr verlor auch der Komet Trotzki von seinem Glanz. Sein Zenit war überschritten. Der geniale Mohr hatte seine Schuldigkeit getan.

Lenin ist nicht zu denken ohne seine europäische Bildung. Seine Theorien sind mitbeeinflußt von Vilfredo Pareto, Georges Sorel und anderen.

Aber viel mehr als er ist Leo Trotzki ein Kind des römisch-hellenistischen, judäischen, christlichen Abendlandes. Seine Geistigkeit, sein Kosmopolitentum, sein kultivierter Stil, seine bestrickende Persönlichkeit erheben ihn zu einer Erscheinung, die aus dem Rahmen des europäischen 19. Jahrhunderts in die Wirrnisse des 20. Jahrhunderts zu steigen scheint. Nicht nur Albert Schweitzer, auch Leo Trotzki repräsentiert das Abendland und gehört zu unserer Kultur.

Wenige Monate vor seinem Tod, am 27. Februar 1940, schreibt er in seinem Testament die Sätze nieder:

 

»Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.«

Das ist die Fortschrittsgläubigkeit des vorigen Jahrhunderts …

 

Heute weiß fast jeder Schüler, Trotzki ist der Organisator der russischen Oktoberrevolution, der Gründer der Roten Armee. Er wurde 1929 von Stalin aus der Sowjetunion verbannt und 1940 von einem Agenten Stalins ermordet. Wenige Menschen schon kennen seine wichtigsten Werke und die Stationen seiner dritten Emigration: von 1929 bis 1933 in der Türkei, von 1933 bis 1935 in Frankreich, anschließend eineinhalb Jahre in Norwegen, und dann bis zu seiner Ermordung in Mexiko. Wenig ist bekannt über sein Leben in der Verbannung, in der er vor allem seine Autobiographie Mein Leben und die Geschichte der russischen Revolution schrieb.

Mehr als seine Werke gibt das Tagebuch aus dem Exil Auskunft über dieses Leben.

Es ist niedergeschrieben in drei Notizbüchern. Das erste ist ein gewöhnliches Schulheft, wie es die französischen Schüler gebrauchen. Das Papier ist weiß und liniiert, der Umschlag tiefblau. Das zweite Heft ist dünner als das erste, hat einen mehr hellblauen Umschlag und ist ebenfalls liniiert. Trotzki hat sich nicht an die Linien gehalten. Beide Hefte sind in Grenoble gekauft. Das dritte Tagebuch ist ein Schreibblock mit gelblich-braunem Deckel. Das dünne Papier ohne Linien ist oben perforiert. Alle drei Hefte sind von der Witwe Trotzkis, Natalia Iwanowna Sedowa-Trotzki, der amerikanischen Harvard-Universität in Cambridge/Massachusetts zur Verfügung gestellt worden und werden dort, zusammen mit den erhaltenen Papieren und Schriften Trotzkis seit der Oktoberrevolution, aufbewahrt.

1958 erschien die amerikanische Übersetzung. Die deutsche Übersetzung wurde nach dem handgeschriebenen russischen Original vorgenommen. Die Anmerkungen sind aus der amerikanischen Ausgabe übernommen und übersetzt worden.

Das Tagebuch beginnt am 7. Februar 1935 in Frankreich und endet am 8. September des gleichen Jahres in Norwegen.

Trotzki hat es in einer Zeit geschrieben, die zusammenfällt mit einer entscheidenden Wende seines Lebens und dem Höhepunkt einer Krise, die zwei Jahre früher, 1933, begonnen hatte[1].

Immer noch wirkte nach die tiefe Erschütterung Trotzkis über den Machtantritt Hitlers in Deutschland und das Versagen sowie die schweren Fehler der deutschen Linken. 1934 wurden seine dunklen politischen Vorahnungen durch zwei Ereignisse bestätigt: durch den heute fast vergessenen Putsch der französischen Rechten vom 6. Februar und durch die Ermordung Kirows, des Leningrader Parteisekretärs, am 1. Dezember, die die großen Säuberungen in der Sowjetunion einleitete. Trotzkis Hoffnung, der Stalinismus könne von »innen her«, mit Hilfe der Dritten (Kommunistischen) Internationale zu Fall gebracht werden, mußte immer mehr sinken. Er faßte den Plan, mit Hilfe einer Vierten (Trotzkistischen) Internationale den Triumphen des Stalinismus und des Faschismus entgegenzuwirken.

Gleichzeitig wird in dem Tagebuch deutlich: Die politische Krise, in der sich Trotzki seit 1933 befand, fiel zusammen mit einer persönlichen Krise – Politik und persönliches Leben waren für Trotzki nicht mehr zu trennen.

In den Jahren seines französischen Exils lebte er in aufreibender Ungewißheit über das Schicksal seiner Familie in Rußland. Wenige Wochen vor Hitlers Machtergreifung hatte seine älteste Tochter Sinaida in Berlin Selbstmord begangen. Anfang 1935, kurz nachdem er seine Tagebuchaufzeichnungen begonnen hatte, hörte Trotzki, daß alle in Rußland lebenden Mitglieder seiner Familie verhaftet worden waren, unter ihnen Trotzkis erste Frau und sein jüngerer Sohn Sergej. Außerhalb der Sowjetunion lebten von Trotzkis Familie nach dem Selbstmord Sinaidas nur noch ihr Sohn, Trotzkis Enkelkind, und sein eigener älterer Sohn Leon Sedow.

Ihn selbst überfiel zu dieser Zeit ein hartnäckiges Fieber. Er lebte damals auf Weisung der französischen Regierung in Domène, nahe Grenoble, in strenger Isolierung, ohne Sekretäre und Freunde, allein mit seiner Frau, die ihn versorgte und umpflegte, obwohl sie selber krank war. Wie sehr er unter dieser nicht selbst gewählten Abgeschiedenheit, unter der Krankheit, der Furcht, sein Leben nicht mehr vollenden zu können, aber auch unter den kleinlichen Härten des gejagten Emigrantenlebens litt, und wie die hingebungsvolle Liebe zu seiner Frau ihn immer wieder aufrichtete, steht auf den menschlich ergreifendsten Seiten der Tagebuchblätter.

Das Tagebuch enthält kaum einen Hinweis auf seine wichtigsten Arbeiten, die ihn in diesem Jahr beschäftigten, auf die Organisierung der Vierten Internationale, auf das Bulletin der Opposition, das er größtenteils allein schrieb, auf seine Essays, die später unter dem Titel Wohin gehst du, Frankreich? veröffentlicht wurden und auf seine Arbeiten am 1. Teil einer geplanten umfassenden Lenin-Biographie.

Dennoch ist es, trotz der vielen Schilderungen seines persönlichen Lebens und seiner persönlichen Sorgen ganz und gar ein politisches Tagebuch. Ganz gleich, ob er – teils mit beißender Ironie und arrogantem Spott – Persönlichkeiten dieser und unserer Zeit charakterisiert, seine Eindrücke über gelesene Romane niederschreibt, das Leben in Frankreich und Norwegen schildert – alles wird einem politischen Koordinatensystem zugeordnet.

Viele der alten Revolutionäre sind seit dem XX. Parteitag durch die Nachfolger Stalins rehabilitiert worden. Die Rehabilitierung Trotzkis und die Würdigung seines Lebens und seines revolutionären Kampfes durch die heutigen Führer der Sowjetunion stehen immer noch aus. Die Veröffentlichung des Tagebuches im Exil möge dazu beitragen, Trotzki als eine bedeutende Persönlichkeit unseres Jahrhunderts zu erkennen.

 

Carola Stern

Tagebuch im Exil

7. Februar 1935

Ein Tagebuch ist nicht die Literaturform, zu der ich mich hingezogen fühle: im Augenblick wäre mir eine Tageszeitung lieber. Doch es gibt keine … Das Abgeschnittensein von jeder politischen Aktivität zwingt mich, zu dem publizistischen Ersatz eines privaten Tagebuchs Zuflucht zu nehmen.

Als ich bei Kriegsbeginn in der Schweiz isoliert war, führte ich einige Wochen lang Tagebuch. Später, 1916 in Spanien, nach der Ausweisung aus Frankreich, tat ich es eine Zeitlang wieder. Ich glaube, daß das auch alles ist. Nun gilt es wieder, zum politischen Tagebuch Zuflucht zu nehmen. Auf wie lange? Vielleicht auf Monate. In jedem Falle nicht auf Jahre hinaus. In der einen oder in der anderen Richtung müssen die Ereignisse eine Entscheidung herbeiführen und damit dem Tagebuch ein Ende setzen. Wenn ihm ein Ende nicht noch früher durch einen Schuß um die Ecke aus der Waffe eines Agenten Stalins, Hitlers oder ihrer französischen Freund-Feinde gesetzt werden wird.

Lassalle hat einmal geschrieben, er hätte das, was er wußte, gern ungeschrieben gelassen, um nur wenigstens einen Teil dessen zu verwirklichen, was zu vollbringen er die Fähigkeit hatte. Ein solcher Wunsch wird jedem Revolutionär nur zu begreiflich sein. Doch muß die Gesamtlage so aufgefaßt werden, wie sie tatsächlich ist. Gerade deshalb, weil es mir beschieden war, an großen Ereignissen mitbestimmend teilzunehmen, verschließt mir die Vergangenheit jede Möglichkeit des Handelns. Es bleibt nichts übrig, als die Ereignisse zu deuten und zu versuchen, ihren weiteren Gang vorauszusehen. Diese Beschäftigung ist jedenfalls dazu angetan, mir tiefere Befriedigung zu verschaffen, als das bloß passive Lesen.

Hier trete ich mit dem Leben fast ausschließlich durch Zeitunglesen, teilweise auch durch Briefe, in Berührung. Kein Wunder, wenn mein Tagebuch seiner Form nach einer Presseübersicht ähnlich geraten wird. Allein, nicht die Gedankenwelt der Zeitungsleute als solche nimmt mein Interesse in Anspruch, sondern das Wirken tiefgründigerer sozialer Kräfte, wie es im Hohlspiegel der Presse erscheint. Doch möchte ich mir selbstverständlich durch diese Form im voraus keine Schranken setzen. Der – leider einzige – Vorzug eines Tagebuchs besteht ja gerade darin, daß es gestattet, sich an keinerlei literarische Verpflichtungen oder Regeln gebunden zu fühlen.

8. Februar

Es ist schwer, sich eine qualvollere Beschäftigung auszudenken, als die Lektüre Leon Blums. Es ist, als habe sich dieser gebildete und auf seine Art kluge Mann zum Lebensziel gesetzt, nichts außer Salonbanalitäten und überspitzter Sinnlosigkeit von sich zu geben. Des Rätsels Lösung ist, daß er politisch schon längst aus dem Spiel heraus ist. Das ganze gegenwärtige Zeitalter paßt ihm nicht. Angesichts des bedrohlichen Wirbelsturmes unserer Tage erscheint sein winziges, für die Atmosphäre parlamentarischer Wandelgänge geschaffenes Können kläglich und bedeutungslos.

Ein Artikel in der heutigen Ausgabe ist dem Jahrestag des 6. Februar gewidmet. Selbstverständlich: Le fascisme n’a pas eu sa journée! Doch ist Flandin nicht auf der Höhe: Les émeutiers fascistes se fortifient contre sa faiblesse. Der starke Blum wirft Flandin Schwäche vor. Blum richtet an Flandin das Ultimatum: Pour ou contre l’émeute fasciste! Doch ist Flandin überhaupt nicht gezwungen, eine Wahl zu treffen. Seine ganze »Stärke« besteht darin, daß er zwischen der émeute fasciste und der force ouvrière steht. Die Kräftediagonale nähert sich dem Faschismus in dem Maße, in welchem Blum und Cachin schwächer werden.

Stalin hat einmal den Aphorismus in die Welt gesetzt: die Sozialdemokratie und der Faschismus sind Zwillinge! Jetzt sind aber Sozialdemokratie und Stalinismus Zwillinge geworden, Blum und Cachin. Sie tun aber auch alles, um den Sieg des Faschismus sicherzustellen.

L’Humanité führt immer dieselbe triumphierende Schlagzeile: Ils n’ont pas eu leur journée! Diesen Triumph der mächtigen »Einheitsfront« hat der schwache Flandin bereitet. Die Drohung der Einheitsfront, die Arbeiter auf die Place de la Concorde, das heißt unbewaffnete und unorganisierte Massen vor die Gewehrmündungen militärischer, schlagringbewaffneter Banden zu führen, wäre ein verbrecherisches Abenteuer, wenn es sich um eine wirkliche Drohung handeln würde. Hier handelt es sich aber um einen Bluff, der mit dem »schwachen« Flandin abgestimmt worden ist. Ein unübertroffener Meister dieser Art Taktik war in der guten alten Zeit Viktor Adler (und was ist aus seiner Partei geworden?).

Die Anschuldigungen gegen Flandin in Popu und Humavon heute sind nichts anderes als die Tarnung der mit ihm getroffenen Abmachungen von gestern. Diese Herrschaften glauben die Geschichte betrügen zu können, aber sie werden nur sich selbst betrügen.

Inzwischen kämpft der Temps gegen Korruption und Sittenverfall …

9. Februar

Rakosi ist zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt worden. Nach mehreren Jahren Gefängnishaft bewahrte er eine Haltung, die eines Revolutionärs würdig war. Vor der Hinrichtung haben ihn jedenfalls nicht die Proteste der L’Humanité gerettet, die fast keinen Widerhall ausgelöst hatten. Eine viel bedeutsamere Rolle spielte dabei der Tenor der französischen großen Presse, mit dem Temps an der Spitze. Diese Zeitung war für Rakosi und gegen die ungarische Regierung, so wie sie gegen Sinowjew und für die Rechtsprechung Stalins war. In beiden Fällen selbstverständlich auf Grund von »patriotischen« Überlegungen. Und was für Überlegungen sonst könnten bei dem Temps vorherrschen?

Freilich, in der Angelegenheit Sinowjews gab es auch noch Überlegungen des sozialen Konservativismus: Der Moskauer Korrespondent des Temps, der anscheinend sehr genau weiß, wo er seine Richtlinien zu suchen hat, hat mehrmals betont, daß Sinowjew, wie überhaupt alle gegenwärtig Verfolgten der Opposition, links von der Regierung ständen und daß infolgedessen kein Grund zur Beunruhigung vorliege. Freilich, auch Rakosi steht links von Horthy, und zwar stark links – doch handelt es sich in diesem Falle um einen kleinen Dienst, der dem Kreml erwiesen wird. Läßt sich annehmen, daß es ein uneigennütziger ist?

 

Das Innenministerium hat die auf den 10. Februar festgesetzten Gegendemonstrationen der Arbeiter verboten. Gerade dadurch, daß Cachin und Blum von dem »schwachen« Flandin die Auflösung der faschistischen Verbände fordern, verleihen sie ihm genügend Stärke gegenüber den Arbeiterorganisationen. Die Maschinerie des Neobonapartismus ist evident. Selbstverständlich werden Cachin-Blum in der Presse Bannflüche gegen Flandin schleudern: das ist sowohl Flandin als auch ihnen selbst gleichermaßen nützlich. Doch in der Tiefe ihrer Seelen werden sich diese Herrschaften über das Verbot der Arbeiterdemonstrationen freuen: So Gott will, wird alles ins Lot kommen, und es wird möglich sein, ihre nützliche Oppositionstätigkeit fortzusetzen … Die Anzahl der Streikenden, die Unterstützung beziehen, ist unterdessen auf 483000 angewachsen.

In der Frage der Streikenden schickte Blum im Parlament Frossard vor. Das bedeutet im Hinblick auf die Bürgerlichen: »Seid in der Frage der Streikenden unbesorgt, euch droht nichts, erhaltet uns nur das Parlament und unsere Freiheiten.«

11. Februar

Trotz ihrer Farblosigkeit vermitteln die Memoiren des Stabschefs der SA, Röhm, der später von Hitler ermordet wurde, ein eindrucksvolles Bild der in diesen Kreisen herrschenden selbstbewußten Vulgarität. Im »Sozialismus« der Nazis behaupten die psychologischen Relikte der »Klassenversöhnung« aus der Schützengrabenzeit einen wichtigen Platz. Was Martow und andere Menschewisten – ohne jede Begründung – über den Bolschewismus sagten: er sei ein Soldatensozialismus, läßt sich durchaus auf die Nazis anwenden, zumindest was ihre jüngste Vergangenheit anbelangt. Die »Brüderlichkeit der Kaserne« findet in der Gestalt Röhms den Ausdruck ihrer wesenhaften Verbindung mit der Päderastie.

Indessen hat dieser bornierte Landsknecht, der mangels einer Gelegenheit, Krieg für Deutschland zu führen, gewillt war, für Bolivien zu kämpfen, dank seiner naturalistischen Auffassung von den Erscheinungen des Lebens und dem menschlichen Wesen eine Reihe treffender Beobachtungen gemacht, welche den Salonsozialisten unzugänglich sind:

»Flammende Proteste und Massenversammlungen sind zur Erzeugung einer Hochstimmung sicher wertvoll und vielleicht oft sogar unentbehrlich; wenn aber nicht ein Mann da ist, der hinter diesem Nebelangriff die praktische Vorbereitung zur Tat trifft und entschlossen ist, zu handeln, bleiben sie wirkungslos.« (Memoiren