Für meine Schwester Lynda – der Tag zu meiner Nacht, die so lustig, freundlich und unverwüstlich ist und es verdient hat, einfach nur glücklich zu sein.
Es würde ein unvergesslicher Abend werden, dachte Mina, während sie gefährlich auf einem Stuhl balancierte und die kleine Ananas-Lichterkette über den Türrahmen zwischen Küche und Esszimmer hängte. Diese Deko war das Tüpfelchen auf dem i.
«Sieht super aus», sagte ihre Schwester Hannah, die gerade mit einer schweren, ausgebeulten Tragetasche hereinkam.
«Du bist da!» Mina sprang vom Stuhl, ohne sich um die Nachbarn zu scheren, die unter ihr wohnten, und klatschte vor Freude in die Hände. «Hast du die Flasche bekommen?» So langsam wurde sie nervös. «Ich fasse einfach nicht, dass ich das vergessen konnte. Ich meine, ehrlich: ein mexikanischer Abend ohne Tequila! Eigentlich hättest du gleich zwei mitbringen sollen.»
«Eine Flasche wird schon reichen. Alle bringen ja was zu trinken mit, und dann hast du noch den Kasten Sol. Hier wird schon keiner verdursten.»
«Du bist die Größte. Was würde ich bloß ohne dich machen?» Mina umarmte ihre Schwester.
«Ich denke, du würdest schon klarkommen», lachte Hannah und befreite sich aus Minas Armen. «Du hast so viel zu essen gemacht, dass sich am Ende alle etwas fürs Wochenende mitnehmen können.»
Mina grinste sie fröhlich an. «Es wird toll.» Sie konnte gar nicht erwarten, bis endlich alle am Tisch saßen. Er war hübsch gedeckt mit ihrem alten Geschirr, das sie über die Jahre bei ihren Touren durch Secondhandläden zusammengesammelt hatte. Sie freute sich darauf, ihre Gäste mit Essen und Getränken zu versorgen und sich bei Kerzenschein und Ananas-Beleuchtung mit ihnen zu unterhalten. Den ganzen Tag und den vorigen Abend hatte sie gekocht, aber der Anlass war es wert: ihr Jahrestag. Sie und Simon waren heute schon ein ganzes Jahr zusammen. Für Mina ein Rekord, und sie musste zugeben, dass sie diese Ruhe und Stabilität in ihrem Leben genoss. Simon war das Yang zu ihrem Yin, oder wie auch immer das hieß. Heute Abend hatte sie acht Freunde inklusive Hannah zum Essen eingeladen. Es würde ein bisschen eng werden, aber das kannten alle schon bei ihr. Im Laufe des letzten Jahres hatte sie eine Paris-Party geschmissen (sehr chic), ein dänisches Hygge-Zusammensein organisiert (sehr gemütlich), einen Gin-Cocktail-Abend mit tollen Zwanziger-Jahre-Kostümen ausgerichtet (Simons Trilby-Hut hatte ein Vermögen gekostet) sowie zum Thai-Bankett geladen (würzig, frisch und einfach köstlich).
Der Tisch für heute war mit dem bunt gestreiften Tischtuch, das an einen mexikanischen Poncho erinnerte, und farbenfrohen Bastmatten gedeckt. Auf den Serviettenringen prangte ein Sombrero, und in der Mitte standen viele Kerzen in rustikalen Metallhaltern. Sie hatte sogar Eiswürfel in Kaktusform für den Wasserkrug vorbereitet.
«Deine Partys sind immer toll, aber du machst dir viel zu viel Mühe. Ich hätte bloß ein paar Old-Paso-Saucen gekauft und Salsa und Guacamole von Marks & Spencer.»
«Das ist doch kein richtiges mexikanisches Essen!» Mina riss mit gespieltem Entsetzen die Augen auf. «Bei mir gibt es authentisches Streetfood. Komm.» Ungeduldig zog sie ihre Schwester in die Küche. «Das hier musst du probieren.» Schon hielt sie ihr den Löffel hin.
«Was ist das?» Hannah kniff misstrauisch die Augen zusammen.
«Versuch mal …»
Ihre Schwester probierte vorsichtig vom Löffel. «Oh, wow!» Sie blinzelte heftig. «Das haut einen ja um. Aber …» Sie probierte noch einmal. «Lecker!»
«Schokoladensauce mit Chili aus Ecuador. Das essen wir mit den Churros zum Nachtisch. Ist das nicht einfach himmlisch?» Mina tauchte einen Löffel in die Sauce und leckte ihn ab, wobei sie genüsslich die Augen schloss. Sie hatte ein wenig gebraucht, um diese besondere Schokoladensorte zu finden, aber sie war jeden Penny des irrsinnigen Preises wert. Auch wenn die dunkle, salzige Schokolade mit Karamell aus Madagaskar oder die mit Rum aus Trinidad und Tobago ebenso verführerisch gewesen wären. Es gab heutzutage derartig viele köstliche Schokoladensorten, es fiel schwer, sich zu entscheiden.
«Mal was anderes. Ich wünschte, ich könnte so gut kochen wie du.»
Mina lachte. «Dann hättest du aber nicht diesen tollen Job und deine hippe Wohnung», sagte sie und schaute sich in ihrer eigenen kleinen, vollgestellten Küche um – Nicht dass sie ihre Schwester beneidete, doch eines Tages wollte sie auch gern eine große Wohnküche haben, in der sie kochen konnte, ohne ihre Gäste alle fünf Minuten allein zu lassen. Im Kopf hatte sie sie sogar schon eingerichtet.
Wenn sie mit Simon zusammenzog und sie ihre Gehälter zusammenwarfen, würden sie sich eine bessere Wohnung leisten können, vielleicht sogar ein Haus. Trotz ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten liebten sie Essen und Gäste – einer der Gründe, warum sie als Paar so gut funktionierten.
«Womit kann ich dir denn noch helfen?», fragte Hannah und sah sich um.
«Du könntest den Käse reiben, für die Nachos. Aber pass auf, dass du den Cheddar nimmst, nicht den Bergkäse.»
«Wofür ist der denn? Oder darf ich das nicht wissen, und er ist für eine mexikanische Spezialität, die keiner kennt?»
Mina lachte. «Nein, aber bei der Arbeit haben wir darüber geredet, dass wir ein Fondue-Rezept entwickeln wollen, darum wollte ich zu Hause etwas ausprobieren. Man braucht den richtigen Käse. Amelie hat mir ein traditionelles Schweizer Rezept gemailt.»
«Ah, das ist ja nett. Wie geht’s ihr?»
Amelie war Minas Patentante, eine enge Freundin von Minas und Hannahs Mutter, die sich in einem französischen Internat kennengelernt hatten. Und sie hatte in ihrer großzügigen Art auch Hannah als Ehren-Patentochter adoptiert und schickte ihr genau wie Mina immer Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke.
«Es geht ihr gut, denke ich. Seit sie aus Basel weggezogen ist und dieses kleine Ski-Gästehaus gekauft hat, bedrängt sie mich, dass ich sie besuchen kommen soll. Ich hab schon ein richtig schlechtes Gewissen – aber man kann ja leider nicht einfach in ein Flugzeug steigen, um zu ihr in die Pampa zu kommen.»
«Wie weit ist es denn noch von Zürich?»
«Drei Stunden mit dem Zug.»
«Tja, nicht gerade ideal für einen Wochenendtrip.» Hannah sah sich um. «Also, was soll ich machen?»
«Käse reiben, und danach kannst du mir helfen, die Margarita-Gläser vorzubereiten.»
«Was hast du denn vor?»
«Ich will die Ränder in Limettensaft stippen und dann in Salz, damit eine schöne Salzkruste entsteht.» Mina deutete auf die Cocktailgläser, die sie bei TK Maxx aufgetrieben hatte. «Und schau mal: Wir werden noch ein bisschen essbaren Goldglitzer in das Salz rühren, das macht noch mehr her.» Sie war ziemlich glücklich mit ihrer Idee und noch glücklicher über Hannahs begeisterte Reaktion.
«Das ist ja genial! Darum bist du auch Lebensmitteltechnikerin.»
«Na ja, ich glaube, es ist nichts Besonders, sich einen neuen Pfiff für eine Pastasauce auszudenken.» Mina wollte nicht undankbar klingen. Der Job in der Testküche einer großen Supermarkt-Kette war toll … er begeisterte sie nur nicht mehr so wie früher. Es wurde manchmal ein bisschen langweilig, sich immer nur am Massengeschmack zu orientieren und höchstens mal eine etwas wohlschmeckendere Sauce für ein Pastagericht zu kreieren, während sie viel mehr Lust hatte, neue Geschmacksrichtungen auszuprobieren. «Also, wenn du mir wirklich helfen willst, dann los.»
Mina summte vor sich hin, während sie die Zwiebeln in Scheiben schnitt, das Hähnchen würzte und einen kleinen Berg Chilis hackte. Es würde ein ganz besonderer Abend werden, und das Essen war nur ein Teil davon. Sie wollte Simon zeigen, wie viel er ihr bedeutete. Im Laufe des letzten Jahres war er in ihren Freundeskreis hineingewachsen und ein sehr wichtiger Teil der Clique geworden, und sie wollte ihr Glück mit ihnen allen teilen. Gute Freunde waren das Wichtigste überhaupt.
Sie schaute hinüber zu der kleinen Piñata, die mit blauen und rosa Serviettenstreifen verziert war. Vorhin hatte sie noch schnell ein kleines Päckchen hineingeschoben, und bei dem Gedanken daran, was Simon wohl sagen würde, wenn es herausfiel, kribbelte ihr Bauch vor Aufregung.
Als um sechs Uhr alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, gönnten sich die Schwestern eine frisch angerührte Margarita.
«Zeit, uns selbst in Schale zu werfen.» Mina schaute noch einmal über den Tisch mit den hübsch aufgereihten Schüsseln und Schalen, aus denen es verführerisch duftete. Sie hatte es gern, wenn sie so wenig Zeit wie möglich in der Küche verbringen musste, sobald die Gäste eingetroffen waren – was nicht einfach war, wenn man frisch zubereitetes Streetfood servieren wollte. Während Hannah im Badezimmer war, traf sie noch ein paar kleine Vorbereitungen, dann eilte sie um zwanzig vor sieben selbst ins Bad. Sie duschte, so schnell es ging, fuhr mit dem Kamm durch ihren blonden Bobhaarschnitt, trug rosa Lippenstift auf und tuschte ihre langen, hellen Wimpern mit schwarzer Mascara. Fertig. Sie warf ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu, flatterte mit den langen Wimpern und eilte ins Schlafzimmer, um ihr neues knallrosa Kleid anzuziehen. Dann hastete sie wieder in die Küche und band sich eine Schürze um. Sie hatte sich schon einmal mit Fettspritzern ein Kleid ruiniert, aber dieses hier musste makellos bleiben.
Als es um sieben an der Tür klingelte und die Wohnung sich langsam füllte, war Mina in ihrem Element. Sie verteilte Bier mit dem obligatorischen Zitronenschnitz im Flaschenhals und Gläser mit Margaritas, die den Gästen einen Kick verpassten, als hätte sie der Huf eines Maultiers getroffen.
«Wow, Mina», sagte George, einer ihrer Freunde von der Uni. «Davon wachsen einem ja Haare auf der Brust. Und mit dem Glitzerkram werde ich noch am Montag im Büro funkeln – aber super Idee.»
«Sei nicht so langweilig», sagte sein Freund, der unpraktischerweise ebenfalls George hieß und in den sechs Monaten, die sie jetzt zusammen waren, zu «Big G» geworden war. «Ich liebe Glitter, und das ist ein richtig guter Cocktail.» Er nahm einen Schluck und blinzelte heftig. «Feuerwasser.»
«Oh, ist die Margarita zu stark geworden?» Mina reichte ihrer besten Freundin Belinda ein Glas, die eben angekommen war. Hinter ihr trat Simon ein und zwinkerte Mina zu.
Bevor sie ihn begrüßen konnte, küsste Belinda sie auf beide Wangen. «Ist bestimmt super», sagte sie und nahm vorsichtig einen Schluck. «Lecker. Und dieser Glitter ist …» Sie betrachtete ihr Glas. «Kann man das essen, oder eher: trinken?»
«Ja, sicher. Als ob ich etwas Ungenießbares verwenden würde.» Fast hätte Mina die Augen verdreht. Belinda war seit der Schulzeit ihre Freundin, auch wenn ihre eher pragmatische Art Minas Ideen schon öfter eine Bremse verpasst hatte – aber zum Teufel noch mal, jetzt war sie erwachsen. War der heutige Abend nicht der Beweis?
«Natürlich nicht», entgegnete Belinda trocken, doch Mina hatte sich schon zu Simon umgedreht.
«Hi, Schatz.» Sie wünschte, sie hätte nichts in der Hand, um ihn richtig zu umarmen. «Du bist ja zeitiger als gedacht.»
«Ja, ich habe etwas früher mit der Arbeit Schluss gemacht … und Belinda mitgenommen.»
«Das war ja süß von dir.» Sie strahlte ihn an. Belinda wohnte am anderen Ende der Stadt und fuhr selbst nicht Auto. Er war so ein hilfsbereiter Mann. Und so verlässlich. Genau das, was Mina brauchte. «Willst du eine Margarita? Oder lieber ein Bier?»
«Nur Wasser. Ich muss ja noch fahren.»
«Oh, Baby, wirst du denn nicht bleiben?» Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und grinste zweideutig, in der Hoffnung, dass er sich erinnerte, was er verpassen würde. «Meine Margaritas werden dich umhauen.»
«Das würden sie bestimmt, aber es ist keine gute Idee, wenn man am nächsten Morgen Fußballtraining hat. Und du willst morgen bestimmt nicht so früh von mir geweckt werden.» Er betrachtete den liebevoll drapierten Tisch. «Sieht wieder mal toll aus. Du bist ein wahres Talent in der Küche.»
Mina zog gespielt empört die Augenbrauen hoch, um ihm zu zeigen, dass das nicht der einzige Ort war, an dem sie ihre Qualitäten auslebte.
«Ist ja auch ein besonderer Abend», murmelte sie.
Ihr Freund runzelte fragend die Stirn.
«Simon. Was ist bloß mit dir los?» Mina schüttelte den Kopf. «Du hast es vergessen, stimmt’s?» Sie bemühte sich um eine fröhliche Stimme. «Ehrlich, Männer sind doch hoffnungslos», sagte sie in Belindas Richtung. «Heute ist nämlich unser Jahrestag.»
Simon schaute entsetzt drein, was sie nicht wunderte. Er irrte sich nur ungern. Sein Perfektionismus war einer der Gründe, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Sie selbst führte ihr Leben auf der Überholspur und versuchte immer, so viel wie möglich gleichzeitig zu tun, und deshalb war es auch kein Wunder, dass sie ab und an stolperte. Aber so war sie eben.
Der heutige Themenabend schien jedenfalls glatt zu laufen. Hannah verteilte gerade die Nachos mit dem köstlich geschmolzenen Käse und der selbstgemachten würzigen Sauce. Und dem zufriedenen Kauen nach zu urteilen, schmeckte es allen wunderbar.
Mina überließ die Gäste ihrer Unterhaltung und ging in die Küche, um die letzten Schüsseln hereinzutragen. Als alle Teller und Schüsseln auf dem langen Tisch standen, der fast die ganze Länge des Zimmers einnahm, bat sie ihre Gäste, sich zu setzen.
«Das sieht so toll aus, Mina!», rief ihre Freundin Patsy. Sie arbeitete in einem Delikatessenladen, und Mina hatte sie vor ein paar Monaten bei einem Kochkurs zu Fischgerichten kennengelernt. «Du musst mir unbedingt die Rezepte geben.»
«Habt ihr denn nie genug davon, dass ihr ständig von Essen umgeben seid?», fragte Patsys Freund James, der als Feuerwehrmann arbeitete. «Nicht dass ich mich beschweren will …» Er legte Patsy den Arm um die Hüfte, und sie stupste ihn lachend mit dem Ellenbogen an.
Unter den begeisterten Rufen ihrer Gäste erklärte Mina, welche Gerichte vor ihnen standen, und bat sie dann, mit dem Essen zu beginnen. Die Lichterketten, der Kerzenschein und die gedimmten Lampen schufen eine wundervolle und für Mina zutiefst befriedigende Atmosphäre.
Die Getränke flossen, die Gespräche wurden lebendiger und immer wieder von Gelächter unterbrochen. Mina entspannte sich auf ihrem Platz neben Simon, beruhigt von den glücklichen Gesichtern um sie herum. Das war es, was im Leben wirklich zählte: Freunde, Liebe und gutes Essen.
Als schließlich auch die Churros verspeist worden waren und die Tischdecke mit Klecksen flüssiger Schokolade übersät war, holte Mina die Piñata und den Holzstock herein. Alle amüsierten sich lauthals darüber, wie klein die Eselsfigur aus Pappmaché war.
«Ich weiß, ich weiß, aber sie ist ja auch nur für eine Person. Eine ganz besondere Person.» Mina schaute Simon an und reichte ihm den Stock. «Heute ist nämlich unser erster Jahrestag.»
Am anderen Ende des Tisches räusperte sich George und witzelte: «Das hält kein Jahr, haben alle gesagt.»
Sie lachte ihn an. «So ein Glück, dass ich nicht auf dich gehört habe.»
Damals, als sie anfing, sich mit Simon zu treffen – heimlich, weil sie Arbeitskollegen waren –, hatte sie sich George als Einzigem anvertraut. Er hatte versucht, es ihr auszureden, weil es keine gute Idee sei, Arbeit und Vergnügen zu vermischen, besonders bei ihrem Verschleiß an Männern. Minas Beziehungen hielten nie länger als drei Monate, weswegen sie auch schnell wusste, dass Simon der Richtige für sie war. Denn er war ruhig, beständig und genau das, was sie brauchte, im Gegensatz zu ihren vorigen Freunden, die ständig auf dem Sprung waren. Sie waren alle sehr unterhaltsam gewesen, doch meistens knapp bei Kasse und auch nicht besonders treu. Simon war das genaue Gegenteil, auch wenn er sicher manchmal ein bisschen träge und verstockt wirken konnte. Ihre Spontanität und Sprunghaftigkeit war ein guter Ausgleich dazu. Sie ergänzten sich einfach perfekt.
Mit Hilfe von Big G und James band Mina die Piñata an die Vorhangstange.
«Aber schlag nicht das Fenster ein», sagte sie, und ihr Herz klopfte vor Aufregung.
Zu lauten Anfeuerungsrufen wie «Gib’s ihr» und «Hau drauf» klopfte Simon zunächst eher zaghaft gegen den Esel aus Pappmaché und Serviettenstoff. Hannah und George filmten seine erfolglosen Versuche mit dem Handy, und Mina musste sich zusammenreißen, um ihm den Stock nicht vor lauter Ungeduld aus der Hand zu nehmen und das verdammte Ding selbst kaputt zu schlagen. Dann aber, mit einem finalen Knall, platzte die Piñata auf, und eine Geschenkschachtel fiel zu Boden.
Triumphierend hob Simon sie auf, und Mina, deren Puls jetzt wie ein Expresszug durch ihre Adern raste, bugsierte ihn zurück zum Tisch und setzte sich auf seinen Schoß.
«Ich wusste nicht, dass ich ein Geschenk bekomme», sagte er und kämpfte sich durch die Verpackung. Mina hatte es ihm natürlich nicht leicht gemacht: In der Schachtel befand sich eine weitere Schachtel und darin noch eine. Schließlich kam die letzte, und Mina hielt den Atem an, als Simon das Kästchen öffnete und darin ein kleines Täschchen aus blauem Kunstleder fand.
Simon runzelte die Augenbrauen und schaute sie verwirrt an, ein unsicheres Lächeln im Gesicht. Sie lächelte zurück und stellte fest, dass ihre Hände leicht zitterten. Alle am Tisch reckten interessiert die Hälse.
Endlich öffnete Simon das Täschchen und zog einen goldenen Ring hervor. Er hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe.
Mit strahlendem Lächeln sah Mina ihn an. «Willst du mich heiraten?»
Sie hörte, dass einige ihrer Freunde am Tisch die Luft anhielten. Andere riefen ergriffen: «Aaah!» Und sie registrierte, wie Simon erstarrte.
Schließlich hob er den Kopf und sah über den Tisch, wo seine Augen den schockierten Ausdruck eines anderen Augenpaares auffingen. Mina folgte seinem Blick – und dann brach ihre Welt zusammen. Belinda?
In der nächsten Sekunde sprang Simon auf, als könnte er gar nicht schnell genug von Mina wegkommen. Sie rutschte von seinem Schoß und fiel zu Boden.
Er warf den Ring auf den Tisch, als wäre es ein Stück heißer Lava, und starrte sie entgeistert an.
«Bist du verrückt?», zischte er mit heiserer Stimme. «Was tust du da?»
Minas Kehle schnürte sich zu. Alle starrten sie an. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Es schien eine so gute Idee gewesen zu sein. Erst letzten Monat hatten sie darüber gesprochen, dass sie zusammenziehen wollten. Sie hatten über ihre Zukunft gesprochen, sogar darüber, wie viele Kinder sie mal haben wollten. Wie hatte sie das alles bloß so falsch verstehen können? Sie war sich seiner so sicher gewesen. Ja, es stimmte, Simon hatte letzten Monat etwas abgelenkt gewirkt, aber das hatte sie auf die viele Arbeit geschoben und auf den hohen Druck in seiner Abteilung, in der es einige Entlassungen gegeben hatte. Nun wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass er mit etwas ganz anderem – oder jemand anderem – beschäftigt gewesen war.
«Aber …» Sie sah von Simon zu Belinda, deren Gesicht von heftiger Röte überzogen war und einen merkwürdigen, irgendwie verschlossenen Ausdruck hatte. Sie sahen sich erstaunlich ähnlich: wie aufeinander abgestimmt. Wie ein Paar.
Als der Zug in Minas Kopf abrupt zum Stehen kam und sie begriff, was das alles zu bedeuten hatte, fiel ihr ein Gedanke von vorhin ein: Nein, diesen Abend würde sie bestimmt nicht so bald vergessen.