Rudolf Hieronymus Bakker liebt es, am frühen Morgen seine Joggingrunde zu drehen. Dann hat er die Welt für sich. Zumindest gefühlt. Und hier auf Spiekeroog, wo er seit zwei Wochen als Vertretungspolizist arbeitet, läuft das Leben ohnehin gemütlich ab. Im Winter sowieso. Darum ruft er auch immer gleich «Hier», wenn eine Vertretung gebraucht wird. Seine Zeit auf der Insel ist aber schon am Sonntag wieder um, dann kommt der Kollege mit Frau und neugeborenem Töchterchen zurück, und Rudi fährt wieder aufs Festland. Ist aber nicht tragisch, auch in Neuharlingersiel lässt es sich gut aushalten.
Am Januarhimmel ist kein Wölkchen zu sehen, die Morgendämmerung hält die Insel noch in trübem Halbschlaf gefangen. Die Luft ist eisig, sein Atem weht wie eine Nebelfahne vor ihm her, als er langsam zu joggen beginnt. Zum Glück sind die Wege nicht glatt. Zügig hat er den Strandweg erreicht und läuft geschmeidig an den sanft geschwungenen Dünen entlang. Schließlich hat er den Zugang zum Strand erreicht. Von der Nordsee ist nichts zu sehen. Das Meer hat sich zurückgezogen, erst in fünf Stunden werden die Wellen sich wieder herantasten. Heute sicher sanft, doch manchmal, wenn der Wind übers Wasser peitscht, sind sie zornig und wütend, und die Gischt spritzt. Das gefällt Rudi besonders.
Er joggt den Dünenweg hinab und wendet sich nach rechts. Heute will er in Richtung Osten laufen, bis zum Aufgang des Insel-Internats. Er trabt gerade los, da bleibt er auch schon wieder stehen.
Ach du grüne Neune. Was ist das denn? Dunkel zeichnet sich ein riesiges Etwas im ersten Licht des Tages ab. Mit beträchtlichem Respekt geht Rudi darauf zu. Tatsächlich: Da liegt ein Pottwal vor der Sandbank. Er nähert sich dem Tier und umrundet es in großen Schritten. Verdammt. Der Wal ist bestimmt dreizehn Meter lang. Und so massig, dass Rudi nicht über seinen Bauch hinwegsehen kann. In einer Wasserpfütze liegt der gestrandete Koloss regungslos da. Er ist definitiv tot, aber in seinem Bauch rumort es bedrohlich.
Rudi schnuppert. Das riecht ziemlich unangenehm. Vermutlich laufen schon irgendwelche Flüssigkeiten aus dem Kadaver. Er schüttelt sich und weicht ein paar Schritte zurück. Und nun? So einen Fall hatte er bislang nicht. In Neuharlingersiel ist noch nie ein Wal gestrandet. Bedröppelt kratzt er sich unter der blauen Mütze am Kopf. Wem muss er das eigentlich melden? Am besten dem Nationalpark-Ranger. Der wird wissen, was zu tun ist. Schnell sucht er die Telefonnummer raus und ruft ihn an. Aber der geht nicht ran. Was jetzt? Rudi muss nicht lange überlegen, ruckzuck wählt er die Nummer von Sven. Sein Sohn hält sich zufällig mit der Umweltorganisation «Eastfrisian Guardian Angels», der EGA, im Jugend-Gästehaus auf Spiekeroog auf.
«Moin, Sven. Ich steh hier bei einem toten Pottwal und brauche eure Hilfe.»
***
Der Wind hat zugenommen und peitscht die Wellen an den Strand. Im Mondlicht glänzen die Schaumränder auf dem nassen Sand. Dick eingemummelt stehen zwei Menschen am Flutsaum und beobachten das Naturspektakel.
«Das kann so nicht weitergehen!»
«Was meinst du damit?» Martin Junghans, Lehrer am Insel-Internat, steckt seine Hände tief in die Taschen seiner neongelben Daunenjacke.
«Seit Wochen finden wir tote Fische und Vögel am Strand. Verhungert mit Plastik im Magen. Letzte Woche hat sich ein Seehund im Fischernetz verheddert und ist elendig krepiert. Und jetzt noch der Wal. Garantiert findet man bei dem auch jede Menge Plastikabfall im Magen.»
«Da wirst du recht haben.» Martin hat alle Berichte über die in letzter Zeit auf den Ostfriesischen Inseln gestrandeten Wale aufmerksam gelesen.
«Ich will nicht recht haben. Ich will etwas dagegen unternehmen.»
«Aber deshalb sind wir doch in der EGA. Die Müllsammlung ab Ostern wird …»
«Du mit deinen scheiß Sammelaktionen! Als würde ein neuer Mülleimer grundsätzlich was ändern. Wir müssen ganz andere Aktionen machen. Aktionen, die aufrütteln.»
Der letzte Satz wird von dem Donnern einer sich brechenden Welle begleitet. Martin Junghans schweigt. Er hat keine Lust, sich zu streiten. Vor allem ist er nicht bereit, an irgendwelchen Aktionen teilzunehmen, die nicht ganz legal sind. Schließlich ist er Lehrer. Maßvolles Handeln ist seine Devise.
«Ich muss jetzt los. Lass uns später weiterreden. Ich habe versprochen, den Nationalpark-Ranger abzulösen und die Walwache um 18 Uhr zu übernehmen. Da bin ich eh schon knapp dran.» Er dreht sich um und geht.
«Ja, verpiesel dich nur. Das machst du ja immer, wenn du Stellung beziehen sollst.»
Trotz Meeresrauschen hat Martin jedes Wort verstanden. Wie er diese ständigen Streitereien hasst!
***
Schwere Wolken ziehen über den Nachthimmel. Wacker pflügt das kleine Motorboot durch die kippeligen Wellen. Man sieht kaum die Hand vor Augen. Es ist zu früh, die Lampe einzuschalten. Ein Lichtstrahl würde auffallen. Der Strandabschnitt mit dem Campingplatz im Nordwesten der Insel müsste schon hinter dem Boot liegen. Jetzt ist es nicht mehr weit. Wäre es bloß ein bisschen heller. Als hätte sich der Mond entschlossen, Komplize zu sein, linst er durch eine Wolkenlücke und taucht das Meer in silbernes Licht. Die Gestalt auf dem Boot atmet erleichtert auf. Ein Stück voraus ist die bleiche Silhouette des verendeten Wals zu erkennen. Der Chef hat wieder einmal recht gehabt. Hier können sie schnelle Beute machen. Der Motor erstirbt, das Boot setzt auf. Zügig wird der Anker geworfen, und die spitzen Zinken bohren sich in den Sand. Perfekt. Die dunkle Gestalt schultert den Rucksack und steigt ins Wasser. Die Wellen schwappen ihr fast bis zur Hüfte. Doch das macht nichts. Die tarnfarbene Anglerhose mit integrierten Gummistiefeln reicht bis zur Brust. Und dank des Thermoanzugs darunter ist weder der Wind noch das eiskalte Wasser zu spüren. Zufrieden holt sie die akkubetriebene Flex aus dem Rucksack und schaltet die LED-Stirnlampe ein. Der Lampenstrahl ist auf den Unterkiefer des Wals gerichtet. Routiniert nimmt sie sich den vordersten Zahn vor und setzt den Winkelschleifer an.
Zwei, drei, präzise Schnitte, und der Zahn wandert direkt in den Rucksack. Ohne Hektik arbeitet sie sich von Zahn zu Zahn vor, bis sie bei einem Schritt zur Seite fast stolpert. Irritiert beugt sie sich so weit vor, dass der Lichtstrahl der Stirnlampe nach unten zeigt. Ein Schuh. Langsam wandert der Strahl der Lampe nach oben. Da liegt ein Mensch. Instinktiv greift die Gestalt nach dem Klappmesser, das in der Latztasche der Wathose steckt.