Die Kunst des Liegens

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Groucho Marx

Liegen Sie gerade, dann lägen Sie sicher nicht falsch: denn wir alle liegen, und das regelmäßig und oft mit großer Freude. Im Liegen entspannen wir uns, es ist die Position, die dem Körper den geringsten Widerstand bietet und ihm am wenigsten Kraft abverlangt. Liegend tun wir so einiges: Wir schlafen und träumen, lieben, denken nach, geben uns melancholischen Stimmungen hin, dämmern und leiden. Nur eines tun wir liegend kaum: uns bewegen. In der Horizontalen kommen wir dem, was man seltsamerweise als Stillstand bezeichnet, sehr nah.

 

In unserer auf schnell messbare Leistungen programmierten Gesellschaft, in der Menschen ihre Entschlusskraft durch schnelles Handeln und ihren Fleiß zuweilen schon durch andauerndes Sitzen am Schreibtisch und vor dem Computer unter Beweis zu stellen trachten, ist der Wert des Liegens gar nicht so leicht zu vermitteln. Schlimmer noch: Das Liegen gilt als Ausdruck der Faulheit, als Zeichen der Ohnmacht vor einer Welt in enormer Veränderung. Wer liegt, hält nicht Schritt, heißt es, ist schwach, schöpft seine knapp bemessene Zeit nicht voll aus. Dabei kann das Liegen auf uns wirken wie ein

 

Das Liegen ist das horizontale Pendant der traumartigen Spaziergänge des melancholischen Flaneurs, der, obwohl er geht, oft kein bestimmtes Ziel vor Augen hat. Der Liegende durchwandelt Städte und Landschaften in den meisten Fällen nur im Geiste. Ihm wird mehr Vorstellungskraft abverlangt, weil er keinen realen Gesichtern und Orten begegnet, die seine Gedanken stimulieren könnten.

Wenn wir mit offenen Augen auf dem Rücken liegen und nach oben schauen, zur Zimmerdecke oder draußen gen Himmel, geht uns der körperliche Zugriff auf die Dinge um uns verloren, unsere Gedanken fliegen. Unsere gesamte geistige Verfassung ist mit dem Lagewechsel verändert. Wir können nicht mehr in derselben Weise reagieren wie noch kurz zuvor in aufrechter Haltung. Fragen, die uns gerade noch beschäftigten, stellen sich aus der horizontalen Perspektive zuweilen in verändertem Licht dar. Stimmen,

 

Gedanken über das Liegen berühren physiologische, psychologische und gestalterische Aspekte, aber auch tiefgreifende kulturelle Fragen der Zeitökonomie und des Takts unseres Lebens, den der amerikanische Psychologe Robert Levine einmal hellsichtig beschrieben hat als »ein wirres Arrangement von Kadenzen, von sich ständig ändernden Rhythmen und Sequenzen, von Tönen und Pausen, Zyklen und neuen Impulsen«. Ob und wann es nach geläufiger Meinung opportun ist zu liegen, hängt mit der jeweiligen Zeitvorstellung zusammen, in der wir uns bewegen und die unsere Abläufe wie eine stumme Sprache steuert. In einer Zeit und Kultur, die den Zwang zur unablässigen Bewegung so sehr verinnerlicht hat wie die unsrige und dabei eine innere Unruhe erzeugt hat, die sich aller Lebensbereiche bemächtigt, werden wir nicht umhinkönnen, an der Schraube der Zeit zu drehen, den Rhythmus anders zu takten. In einem Land, das im Vergleich zu unserem eigenen anders tickt, vielleicht langsamer, wo die Abläufe von den gerade stattfindenden Ereignissen gesteuert werden und weniger vom Geplanten, bekommen wir eine Ahnung davon, was es bedeuten kann, in einer Zeit zu leben, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Eine Zeit, in der auf den ersten Blick gesehen nichts passiert, wird in anderen Gesellschaften häufig nicht als Zeitverschwendung

Unsere Körper sind für anderes angelegt als für die eingeschränkten Bewegungen, die wir ihnen heute abverlangen. Wir sitzen viel mehr und bewegen uns viel weniger als unsere Vorfahren wenige Generationen vor uns. Von unserer genetischen Ausstattung, den körperlichen Dispositionen her sind wir zu wechselnden Bewegungsformen geboren, zum Gehen wie zum Liegen, Sitzen, Stehen, Gehen und so weiter. Das Verweilen in der Horizontalen ist nur eine davon. Doch die Versuchung, der Schwerkraft nachzugeben ist stark, sie zieht uns zur Erde. Wir befinden uns in ständiger Auseinandersetzung mit dieser Kraft. Auch wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind – wir sind so eingerichtet und tun es automatisch –, verwenden wir einen großen Teil unserer Energie darauf, gegen die Gravitation anzukämpfen.

 

Liegen und Gehen korrespondieren miteinander, in gewisser Hinsicht bedingt das eine das andere: Nur wer einmal bis zur Erschöpfung gegangen, gewandert, gelaufen, gerannt oder gerudert ist, kennt den unendlich entspannenden Effekt, den das Liegen bieten kann. Anderen

 

Wir richten uns im Verhältnis zur Erdoberfläche in zwei Richtungen aus: vertikal und horizontal. Beim Gehen besteht die Verbindung zur Erde lediglich über die horizontal ausgerichteten Fußsohlen, beim Liegen mehr oder weniger mit dem ganzen Körper. Der Horizont, die in der Ferne erkennbare, Himmel und Erde trennende Linie, beinhaltet die Einladung zu etwas, das über das Bekannte hinausweist, bezeichnet zugleich aber auch eine Grenze. Er ist ein flüchtiges Konstrukt, denn wenn man die Begegnung mit ihm sucht, verschiebt er sich immer wieder in die Ferne. Ein Ziel, das nicht zu erreichen ist.

 

Liegen ist an vielen Orten möglich und nicht an das Vorhandensein einer Liege oder eines Bettes gebunden. Allerdings setzt es eine stabile Unterlage voraus. Wenn wir nicht gut liegen und um unsere Sicherheit bangen müssen – etwa weil wir Gefahr laufen, abzurutschen –, steht das unserer Entspannung im Wege. Die Vorkehrungen für das Liegen formen unsere Erfahrung des Liegens, sie bieten uns eine Seinsweise in der Waagerechten. Über die Art und Weise, wie der Mensch liegt, passt er sich an sein Lager an. Je bequemer er liegt, je besser die Last seines Körpers vom Untergrund getragen wird, desto besser kann er sich regenerieren.

 

 

Im Liegen ist vieles möglich, es umfasst das gesamte Spektrum unserer Zustände: von völliger Passivität bis zu leidenschaftlicher Aktivität. Ja, im Liegen beginnt und endet das menschliche Leben – Edmond und Jules de Goncourt schrieben von den »drei großen Akten des Lebens«: »Kindbett, Koitus und Tod«, an denen sich der Schriftsteller abzuarbeiten habe (und die sich eben meist liegend vollziehen).

Liegende gelten als passiv, gelähmt, anderen unterlegen. Das hat mit den tatsächlichen Beweggründen des Liegenden natürlich oft rein gar nichts zu tun. Vielleicht will er sich fallen lassen, ausruhen, entspannen, vielleicht für den nächsten Schachzug sammeln. Das Liegen kann Teil einer klugen Strategie sein, wenn man auf der Lauer ist. Das Liegen kann ein Aufstand sein, wenn sich im Zuge eines Flashmobs viele Menschen auf einmal niederlegen und den Fluss von Passanten und Fahrzeugen aufhalten, um für oder gegen etwas zu protestieren. Liegen ist auch die bevorzugte Position des Faulen. Hans W. Fischer schrieb einmal: »Die restlose Faulheit aber sucht nichts mehr; keine Freude, nicht einmal mehr Behagen. Es fällt ihr nicht ein, die geringsten Vorkehrungen zum Selbstgenuss zu treffen. Sie lässt sich einfach – falls nicht zufällig eine Wand Widerstand leistet – sacken und nimmt lediglich nach mechanischen Gesetzen eine ungefähr horizontale Lage ein. Ihre bevorzugte Stätte ist das Sofa, weil es gerade so bequem dasteht; ein dunkler Bewusstseinsrest warnt vor dem platten Fußboden, weil das Hinfallen wehtut, und hält vom Bett zurück, weil sich mit ihm die

Häufig ist Müdigkeit der einzige akzeptierte Grund, sich hinzulegen. Warum ist es nicht besonders gut angesehen? Allzu oft tragen wir noch die Ermahnungen mit uns herum, dass wir in jedem Moment in Bewegung zu sein haben, dass alles andere ein Zeichen von Undiszipliniertheit, Schwäche und mangelndem Ehrgeiz ist. In einer Welt, in der Aktivität und Zeitoptimierung zu den Maximen zählen, in der es manchen mit Stolz erfüllt, spätabends im Büro das Licht auszumachen, muss die Zeit, in der man liegt, wohl zwangsläufig als verschwendet gelten. Dem Verweilen in der Horizontalen wird in unserer Kultur nur die Rolle einer so knapp wie möglich bemessenen Phase der Regeneration zugestanden.

Amerikanisches Patent zur Rundumversorgung im Liegen

(aus Wright, Lawrence: Warm & Snug. The History of the Bed. London 1962)

Gibt es einen Philosophen des Liegens? Es gibt viele, die gegen das lange Verbleiben im Bett Stimmung gemacht und es hartnäckig als sinnlose Faulenzerei disqualifiziert haben, wieder andere, die es einfach praktiziert haben, ohne sich darüber im Einzelnen zu erklären – aber wer hat über das Liegen nachgedacht, sich dem Liegen gegenüber expressiv verbis wohlwollend geäußert? Es gibt vor allem einen: den überaus produktiven englischen Gesellschaftskritiker Gilbert Keith Chesterton (1874–1936). Sein nur wenige Seiten umfassender Exkurs On Lying in Bed, über das Liegen im Bett, beginnt mit dem Gedankenexperiment, wie schön es wäre, wenn es so lange Buntstifte gäbe, dass man mit diesen beim Liegen im Bett die Zimmerdecke bemalen könnte; denn nur dort finde man die großen Flächen vor, die man für seine Kunstwerke braucht. Schließlich seien die Wände ansonsten durchgängig mit Tapeten beklebt. Gedanklich begibt Chesterton sich nach Rom: »Nur weil sich Michelangelo der altehrwürdigen Beschäftigung des Im-Bett-Liegens hingab, kann er herausgefunden haben, wie die Decke der Sixtinischen Kapelle zu einer furchterweckenden Nachgestaltung des göttlichen Dramas

Je nach Stimmung des Liegenden ist das Liegen mal passiver, mal aktiver Natur. Und die Art und Weise, wie wir arbeiten, wirkt darauf zurück, wie wir die übrige Zeit verbringen: Wer vorwiegend im Sitzen arbeitet – vor dem Computerbildschirm beispielsweise –, wird in seiner Freizeit Ausgleich in Sport und Bewegung suchen und erst danach die Entlastung genießen können, die das Liegen für ihn bereithält. Umgekehrt suchen Menschen, die täglich ihre Muskelkraft nutzen, vielleicht sogar bis zur Erschöpfung, in ihrer Freizeit eher Muße und Nichtstun. Das Liegen hat dann eine völlig andere Prägung.

 

Wie wirken sich die großen Veränderungen der heutigen Arbeitswelt auf unser Verhältnis von Arbeit und Freizeit, auf die Phasen des Nichtstuns und des Liegens und die Zeit, zu der wir schlafen, aus? Wird erhöhte Flexibilität auch mehr Nichtstun möglich machen, mehr spielerische Muße – aktive Faulheit, wenn man so will – ein Liegen, das sich nicht nur in bloßer Regeneration erschöpft? In einer Zeit, in der sich der Fortschritt zuweilen verläuft, sein Ziel jämmerlich verfehlt, ist das Liegen eine Vorübung

 

Haben wir das Liegen verlernt, so wie wir das Kochen verlernt haben, wenn wir uns zu oft nur noch Fertiggerichte einverleiben? Vielleicht. So wie Essen nicht einfach nur die Voraussetzung für die Fortsetzung der Arbeit und körperliche Prozesse ist, bereitet uns das Liegen nicht nur für das Sitzen am Schreibtisch vor. Obwohl Liegen meist nichts unmittelbar Sichtbares und wirtschaftlich Verwertbares hervorbringt, geht es dabei ebenso wenig nur darum, dass wir uns erholen, so wie Freizeit und die entsprechenden »Angebote« ausschließlich dazu dienen, uns in Aktivität zu versetzen.

 

Es gibt Hinweise darauf, dass sich die Haltung zum Liegen heute in unseren Gesellschaften im Umbruch befindet. So ist in Frankreich seit einigen Jahren von der génération vautrée, der sich flegelnden, dem aufrechten Sitzen konsequent verweigernden Generation, die Rede. Man setzt sich nicht etwa einfach hin, sondern lässt sich auf ein Sofa oder Bett fallen und richtet sich dann gemütlich in dieser Position ein – ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was das Gegenüber von einem denken könnte. Eigentlich beneidenswert. Man kann darin ein Aufbegehren gegen das Stillsitzen und Aufrechtstehen sehen, auch einen stillen Protest gegen die vielleicht noch stärker autoritären Mustern verhafteten Eltern. Die Beurteilung dieser Entwicklung durch Fachärzte fällt gelassen aus; sie gehen

 

Der menschliche Erfindungsgeist hat eine Reihe von Vorkehrungen und Möbeln hervorgebracht, die speziell für das Liegen geschaffen wurden, allen voran natürlich die Liege und das Bett. Man braucht die periodisch wiederkehrenden Ausflüge in den bewusstlosen Zustand, den man gewöhnlich im Bett zu erreichen versucht. Es ist eine feine Sache, wenn man die Muße dafür hat, sich einfach nur auf eine Liege zu legen. Es ist ein Luxus. Sie bietet einen reduzierten, auf das Wesentliche des Ruhens konzentrierten Komfort für die vita contemplativa, für Situationen, in denen der Weg ins Bett zu aufwendig wäre.