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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-87134-038-3

ISBN E-Book 978-3-688-11639-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11639-3

Aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Landgerichts Berlin sind wir gezwungen, einige Passagen dieses Buches zu schwärzen.

Wir bitten den Leser um Entschuldigung.

 

Rowohlt • Berlin

 

 

Berlin, im Februar 1992

Vorwort

Als im Juni 1990 kurz hintereinander zehn der meistgesuchten RAF-Terroristen in der damals noch existierenden DDR festgenommen wurden, war die deutsche Öffentlichkeit entsetzt. Das Stasi-Regime hatte westdeutschen Terroristen Unterschlupf gewährt, die seit mehr als einem Jahrzehnt von den bundesdeutschen Behörden vergeblich gesucht worden waren. Alle waren überrascht, niemand hatte etwas geahnt, niemand etwas gewußt. Die Politiker sonnten sich im Erfolg der eilig erfundenen Fahndungsunion, und der damalige DDR-Innenminister Peter Michael Diestel bescheinigte seinen Behörden hervorragende Ermittlungsarbeit in Zusammenarbeit mit den westdeutschen Dienststellen.

Bei unseren nunmehr fast zweijährigen Recherchen zu den Hintergründen dieser «historischen» Sensation stellten wir bald fest, daß die überraschten Gesichter, die in den Diensten und Behörden gemacht wurden, wohl doch eher eine für die Öffentlichkeit bestimmte Inszenierung gewesen sein müssen und die Fahndungserfolge keineswegs von ungefähr kamen. Im komplexen Geflecht bundesdeutscher Geheimdienste und Kriminalämter hatte es schon Jahre vorher sehr konkrete Hinweise auf den Verbleib von RAF-Mitgliedern in der DDR gegeben. Die deutsche Öffentlichkeit hatte davon allerdings nie etwas erfahren. Wir stellten uns natürlich die Frage, warum dies verschwiegen worden war. Warum in allen öffentlichen Einrichtungen nach wie vor Personen auf Fahndungsplakaten ausgeschrieben wurden, die doch längst im Arbeiter-und-Bauern-Paradies vermutet werden mußten. Und warum die bundesdeutschen Dienste es eher vorgezogen hatten, sich an den Spekulationen zu beteiligen, wer von den Top-Terroristen im Nahen Osten untergetaucht sein könnte, als den Hinweisen auf ihren Aufenthalt im realsozialistischen Weimar oder Erfurt nachzugehen. Nicht nur, daß solchen Hinweisen nicht in einer Weise nachgegangen wurde, wie man es bei Personen hätte erwarten dürfen, die doch schwerer Verbrechen beschuldigt wurden, im weiteren Verlauf unserer Recherchen verstärkte sich immer mehr der Eindruck, daß man diesen Hinweisen auch gar nicht nachgehen wollte. Sie wurden liegengelassen, nicht bearbeitet, verschleppt, ignoriert oder abgestritten. Als wir an einem entsprechenden Beitrag für das Fernsehmagazin «Monitor» 1990 arbeiteten und kurz vor Ausstrahlung der Sendung Waldemar Schreckenberger – Mitte der achtziger Jahre im Kanzleramt zuständig für die Koordinierung der Geheimdienste – dazu befragten, stritt dieser am Telefon ab, jemals Hinweise auf Terroristen in der DDR bekommen zu haben.

Im Sommer 1990 begannen Beamte des Bundeskriminalamtes, unterstützt vom Zentralen Kriminalamt in Ost-Berlin, mit Ermittlungen zu einem Komplex, der den Vorwurf der Beherbergung von Terroristen noch weit übertraf: Es ging den Ermittlern um die Frage, ob es eine aktive Unterstützung seitens des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR für die Terroristen gegeben hatte. Wieder erfuhr die Öffentlichkeit nichts von den konkreten Vorgängen und Ermittlungsergebnissen. In aller Stille vernahmen die Beamten des Bundeskriminalamtes ehemalige MfS-Offiziere zu so ungeheuerlichen Vorwürfen wie der Ausbildung von RAF-Terroristen an Sprengstoffen, Maschinenpistolen und Panzerfäusten. Nach diesen «Zeugenvernehmungen» durften die Beteiligten allerdings aus «polizeitaktischen Gründen» wieder ihrer Wege ziehen. Erst durch eine weitere Fernsehveröffentlichung von uns, in der wir die Ausbildung an der Panzerfaust, die Christian Klar, Adelheid Schulz, Brigitte Mohnhaupt und andere in der DDR von der Stasi erhalten hatten, auf das Jahr 1981 datierten – und damit vor dem Anschlag auf den Nato-General Frederik Kroesen –, sahen sich die bundesdeutschen Behörden genötigt zu handeln und die entsprechenden verantwortlichen Stasi-Offiziere in Haft zu nehmen. Für ungefähr zwei Wochen machte die «RAF-Stasi-Connection» erneut Schlagzeilen, bis sie wieder aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses rückte.

Ungeachtet der mit Verbissenheit geführten Diskussion um die Stasi-Vergangenheit und ungeachtet der bundesdeutschen Terrorismusphobie, sind die Hintergründe dieser unheiligen Verbindung nicht geklärt – obwohl oder vielleicht gerade weil sich viele weitergehende Fragen und gesamtdeutsche Interessen hinter dieser Terrorallianz zu verbergen scheinen. Niemand – auf beiden Seiten – scheint ein ernsthaftes Interesse an der Erhellung dieser Hintergründe zu haben.

Die Vernehmungsprotokolle der zehn in der DDR inhaftierten RAF-Mitglieder addieren sich mittlerweile zu mehreren tausend Seiten Aussagen, mit deren Hilfe sich die Tatvorgänge des Deutschen Herbstes 1977 und der ersten Hälfte der achtziger Jahre weitgehend aufhellen und rekonstruieren lassen, auch die Geschehnisse um die Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer, die wir hier bis in die Einzelheiten hinein zum erstenmal rekonstruieren können. Selbst die bis heute ungeklärte Frage, wer Hanns Martin Schleyer erschossen hat, kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beantwortet werden.

Seit dem Deutschen Herbst, als der Versuch, mit der Entführung Schleyers und der Lufthansa-Maschine «Landshut» die «Stammheimer» Baader, Ensslin, Raspe, Möller und Co. freizupressen, scheiterte, war der Weg der RAF-Generation von 1977 gepflastert mit Niederlagen, Verhaftungen und Toten. Einen Teil der Gruppe trieb diese Entwicklung in den Ausstieg, zu dem der «kleine Bruder», wie die DDR im RAF-Jargon hieß, hilfreich die Hand reichte, der «harte Kern» aber bombte und mordete weiter und rieb sich dabei selber auf. Doch die Selbstzerstörung der Rote Armee Fraktion war nicht zuletzt in der mit dem Aussteigerprogramm legitimierten Stasi-Connection begründet. Die Selbstüberschätzung eines verlorenen Häufchens von Terroristen, die sich am Ziel ihrer Träume wähnten, als sie vom DDR-Staat als Partner im internationalen Klassenkampf vermeintlich akzeptiert wurden, erhielt von diesem «Partner», als es ihm opportun erschien, eine gnadenlose Quittung.

Wie es zu dieser unseligen Allianz zwischen der DDR und dem westdeutschen Terrorismus überhaupt hatte kommen können, ist bis heute weitgehend ungeklärt. Und die Bemühungen um Aufhellung, zum Beispiel in den Prozessen um die ausgestiegenen Ex-Terroristen, bleiben an der Oberfläche. Es werden Tatbeteiligungen und Strafmaße gesucht, nicht Erklärungen für politische Zusammenhänge. Zu bequem scheint die Mußmaßung, der böse Krake Stasi sei eben zu allem fähig gewesen – was ja auch stimmt –, als daß noch jemand die Frage stellen mag, welches konkrete Interesse denn in dieser Verbindung gelegen haben könnte.

Unsere Recherchen legten nach und nach erst den perfiden Kern der RAF-Stasi-Connection frei – eine Liaison, in die die RAF hineintappte, weil sie den letzten Ausweg aus einem Zustand tiefster Orientierungslosigkeit zu bieten schien, während die DDR die West-Terroristen mit strategischer Präzision einfing, aushorchte und für ihre Interessen instrumentalisierte. Die Analyse der Geschehnisse und der Aussagen der Terror-Rentner aus der DDR sowie ihrer ehemaligen Stasi-Genossen läßt sich in einer langen Kette von Hinweisen und Indizien verdichten, die den Schluß zulassen: Vieles an den Niederlagen der RAF bis zu den Verhaftungen des harten Kerns, Adelheid Schulz, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, Ende 1982 war – allem Anschein nach – weder Zufall noch Ergebnis der Aufklärungsarbeit westdeutscher Ermittlungsbehörden, sondern vom Staatssicherheitsdienst der DDR und anderen Gruppierungen gesteuert und herbeigeführt. █ █ Doch die Schlüsse, die wir in diesem Buch ziehen, stoßen bis heute bei fast allen verantwortlichen Kriminalisten oder Nachrichtendienstlern auf Unglauben oder erschreckte Abwehr. Nachfrage █ ist nach wie vor unerwünscht. Einige unserer Gesprächspartner scheinen auch einfach Angst zu haben, es könnten weitere Fakten ans Tageslicht kommen, die noch mehr Ungeheuerlichkeiten über diesen ohnehin schon ungeheuren Terror-Deal aufdecken. Und diese Angst betrifft Personen aus beiden Teilen des heutigen Gesamtdeutschlands.

Dieses Buch ist der Versuch, eines der mysteriösesten Kapitel der jüngsten deutsch-deutschen Geschichte zu beschreiben und seine Hintergründe aufzuzeigen. Unsere Darstellung beruht auf Akten, Ermittlungsergebnissen verschiedenster Stellen und Recherchen bei Behörden und Nachrichtendiensten. Ein solches Projekt ist nicht möglich ohne die Mithilfe von Menschen, die im Besitz erstklassiger Einblicke und Informationen sind und diese – aus unterschiedlichen Gründen – der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Die meisten dieser «Quellen» können hier nicht genannt werden, da sie sonst persönliche oder berufliche Nachteile zu befürchten hätten. Aber sie werden sich hier wiederfinden.

Die Hintergründe des Terror-Deals zwischen RAF und Stasi – und vielleicht auch noch anderer Dienste – werden nicht vollkommen lückenlos beschrieben werden können. Viele Akten sind nicht zugänglich oder vernichtet. Bis zur Drucklegung dieses Buches war es nicht möglich, Einblick in die Aktenbestände der Behörde des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, Gauck, zu erhalten. Die gesetzlichen Grundlagen für die Aufarbeitung der schriftlichen Zeugnisse der Stasi-Herrschaft bestehen zwar mittlerweile, doch der Zugang zu den Terrorakten der DDR-Staatssicherheit ist nach wie vor strengen Restriktionen unterworfen und steht in erster Linie Strafverfolgern und Diensten offen, die an einer Veröffentlichung der meisten Vorgänge kein Interesse zeigen. Dennoch ist vieles zu beweisen und zu belegen, vieles kann erhärtet werden, einiges bleibt These, Spekulation oder offene Frage. Insbesondere was die mögliche Involvierung bundesdeutscher Dienste, namentlich des Bundesnachrichtendienstes, in die hier geschilderten Vorgänge anbetrifft, der auch 1985, nach den ersten Hinweisen auf RAF-Aussteiger in der DDR, die Mithilfe bei der Ermittlung verweigerte, weil er seine eigenen «Quellen» nicht gefährden wollte. Daß auch der BND den Nachrichtenumschlagplatz Naher Osten in den hier in Frage kommenden Jahren «abzuschöpfen» wußte █ liegt auf der Hand. Was über den Umweg Aden in die bundesdeutschen Nachrichtenkanäle geflossen sein könnte, vielleicht sogar unter aktiver Steuerung der Stasi, und was dieses in puncto Zeitpunkt und Umfang der «Erkenntnisse» der bundesdeutschen Behörden bedeutet haben mag, auch diesen Fragen geht dieses Buch nach.

Daß das Bild des Staatsfeindes Nummer eins, Rote Armee Fraktion, heute relativiert werden muß, ist nur eines seiner Ergebnisse. Auch wenn Christian Klar und Genossen dies sicher nicht gerne hören werden, so lassen unsere Recherchen kaum einen anderen Schluß zu als den, daß sie mehr und mehr in die Rolle eines Stasi-Mündels gerieten. Sie wurden nicht nur schon viel früher, als die offiziellen Kontakte zur Staatssicherheit sie glauben machen sollten, von der Stasi «abgeschöpft» und unter den Operativvorgängen «Stern», «Stern I» und «Stern II» erfaßt – auch dazu hat dieses Buch einiges zusammengetragen –, sondern sie waren ein zeitweilig willkommener Büttel der Stasi, genauer: der DDR-Interessen in der politischen Großwetterlage. Als diese sich änderte, änderte sich auch das Verhältnis des Waffenbruders zu den Terroristen, deren unbezähmbarer Wille, weitermachen zu wollen, zunehmend lästig wurde.

Der Mythos «RAF», der nach dem Deutschen Herbst von 1977 nicht zuletzt durch die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden und die Politik ins Überlebensgroße stilisiert wurde, wird in diesem Buch seine realsozialistische Brechung erfahren. Von seiten der RAF war die Stasi-Connection Ausdruck der Flucht eines geschlagenen Häufleins, das sich «Armee» nannte, in internationale staatliche Zusammenhänge, die helfen und schützen sollten. Was daraus entstand, war ein alptraumhaftes Dreiergespann: die RAF, die DDR und die Palästinenser. Für eine Partei sollte sich das, was als unschlagbare Allianz gedacht war, als lebensgefährliche Illusion erweisen. Profitiert hat von dieser «Troika» hauptsächlich ein Vierter. Bei aller polemischen Propaganda gegen die DDR als Terroristenherberge kann es den bundesrepublikanischen «Diensten» doch nicht unlieb gewesen sein, daß ein Teil der Top-Terroristen in der kleinbürgerlichen Idylle des DDR-Staates domestiziert und eingegliedert worden war und der andere ihnen – wenngleich unter so mysteriösen Umständen, daß nicht einmal das Bundeskriminalamt selbst an das Wunder glauben mochte – in den jungfräulichen Fahndungsschoß fiel.

Die RAF-Stasi-Connection – eine unglaublich deutsche Geschichte.

Die Wende

Eine Anzeige

Der junge Mann, der am 13. Juni 1985 die Polizeiwache in dem kleinen schwäbischen Ort Möglingen betritt, macht einen unsicheren Eindruck. Er schaut sich zögernd um, ehe er sich einen Ruck gibt und an einen der diensthabenden Beamten wendet. Seine Scheu ist verständlich. Der Mann ist Anfang Zwanzig und ehemaliger DDR-Bürger. Der Umgang mit der Staatsmacht kostet ihn Überwindung. In der Bundesrepublik verbringt er seine Tage vorwiegend in einem Übergangswohnheim in Nürtingen, einem kleinen Nachbardorf. Doch er will sich nicht über Streitereien mit seinen Mitbewohnern beschweren. Die Meldung, die er an diesem Tag machen will, ist für die Beamten geradezu sensationell.

Der Übersiedler deutet auf das Fahndungsplakat, das seit Jahren in jeder Polizeistation der Republik hängt, und das jeder Bürger kennt. «Terroristen», «Vorsicht Schußwaffengebrauch» – Schlagworte, die den Staatsfeind Nummer eins der Bundesrepublik charakterisieren sollen: die Mitglieder der Rote Armee Fraktion. Die Beamten in Möglingen erhalten eine Mitteilung, von der die bundesrepublikanischen Fahndungsbehörden seit Jahren nur träumen können. Der Krankenpfleger aus der DDR erklärt, er wisse, wo sich Silke Maier-Witt aufhalte.

Die mutmaßliche Terroristin der RAF, gesucht wegen des Anschlags auf die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe und der Entführung Hanns Martin Schleyers 1977, lebe unter einem falschen Namen in Erfurt. Über ein Jahr lang habe er Silke Maier-Witt jede Woche an der Medizinischen Fachschule «Walter Krämer» in Weimar getroffen. Sie sei dort in eine Klasse mit ihm gegangen, um sich zur staatlich examinierten Krankenschwester ausbilden zu lassen. Der so plötzlich aufgetauchte Zeuge gibt den staunenden Beamten eine exakte Personenbeschreibung der Gesuchten. Als besondere Kennzeichen war ihm in den Diskussionen an der Fachschule aufgefallen, daß Silke Maier-Witt leicht aufbrausend war und bei Erregung schnell rote Flecken im Gesicht und am Hals bekam. Sie sei oft unsachlich und cholerisch gewesen. Der Übersiedler kann ihre Statur, ihr Alter und ihre Größe präzise beschreiben. Für ihn gibt es keinen Zweifel, daß die Frau auf dem Fahndungsplakat die gleiche ist, mit der er in Weimar die Schulbank gedrückt hat.

Obwohl die Beamten alles protokollieren, was er erzählt, beschleicht ihn der Eindruck, nicht ernst genommen zu werden. Die Vorstellung, eine der meistgesuchten Terroristinnen der Rote Armee Fraktion könnte sich in der DDR aufhalten und dort ein ganz normales Leben führen, dürfte die Beamten in Möglingen allerdings auch überfordert haben. Die Personalien des Hinweisgebers werden aufgenommen, und mit dem freundlichen Hinweis der Beamten, er möge sich zur Verfügung halten, schickt man ihn nach Hause.

Was sich daraufhin in den folgenden Wochen abspielte, war durchaus geeignet, den Neu-Bundesbürger an der Effizienz der Ermittlungsbehörden West zweifeln zu lassen. Es geschah nämlich erst einmal gar nichts.

Kaum ein halbes Jahr, nachdem ein Kommando der RAF den MTU-Manager Ernst Zimmermann in seinem Haus in Gauting erschossen hatte, braucht der Hinweis auf ein gesuchtes RAF-Mitglied mehr als zwei Wochen, bis er beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden eingeht. Dort überprüfen die Fahnder am übernächsten Tag erst einmal die Personalien des Zeugen, bevor sie weitere sechs Tage später zwei Beamte in das Übergangswohnheim nach Nürtingen schicken, um eine erneute Vernehmung durchzuführen. Sie bringen Fotos von Silke Maier-Witt mit und sprechen mit dem Zeugen nochmals alle Details der Personenbeschreibung durch. Obwohl sich die Beschreibungen in allen Punkten decken und der junge Mann felsenfest dabei bleibt, es handele sich bei seiner Mitschülerin um Silke Maier-Witt, hat er immer noch das Gefühl, man würde ihm nicht glauben. Die Vernehmung dauert den ganzen Vormittag, dann fahren die Fahnder des BKA zurück nach Wiesbaden.

Am 25. Juli 1985 treffen sich Mitarbeiter des Bundeskriminalamts mit Angehörigen des Bundesnachrichtendienstes, der für die Aufklärung im Ausland zuständig ist. Nachrichtendienstlich war die DDR zu dieser Zeit Ausland, und die Beamten des Bundeskriminalamts durften und konnten dort keine eigenen Ermittlungen durchführen. Die Beamten des Bundesnachrichtendienstes werden gebeten, über ihre Arbeitsbereiche «operative Beschaffung» und «rezeptive Aufklärung» den Hinweisen auf Silke Maier-Witt nachzugehen. Auf gut deutsch: Sie sollten ihr Agentennetz nutzen, um die Terroristin zu finden.

Doch da hatten die Kriminalisten in Wiesbaden aufs falsche Pferd gesetzt, denn der Bundesnachrichtendienst war ganz und gar nicht gewillt, für die Terroristenfahnder die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Volle sechs Monate später kam der Ermittlungsauftrag aus Pullach zurück, mit dem lakonischen Hinweis versehen, daß die Ermittlungen ergebnislos verlaufen seien und das BKA sich doch auf dem offiziellen Weg an die Behörden der DDR wenden solle, worauf dieses nach Rücksprache mit der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe aber vorerst verzichtet.

In ihrer Ermittlungsnot beschließen die BKA-Fahnder, den Zeugen ein weiteres Mal aufzusuchen und ihn zu fragen, ob er nicht noch einmal in die DDR fahren könne, um die neue Identität der angeblichen Silke Maier-Witt herauszufinden. Der Mann glaubt seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Seinen zaghaften Einwurf, daß dies für ihn reichlich gefährlich werden könne, lassen die Beamten nicht recht gelten. Man könne ihn doch mit falschen Papieren ausstatten, schlagen sie vor. Er lehnt ab, macht aber einen anderen Vorschlag. Über seine in der DDR lebende Braut glaubt er, den Namen von Silke Maier-Witt herausfinden zu können.

Dem Übersiedler und seiner Freundin haben es die bundesdeutschen Behörden zu verdanken, daß sie schließlich am 9. Mai 1986 – fast ein Jahr nach dem ersten konkreten Hinweis – den Alias-Namen von Silke Maier-Witt erfahren: Angelika Gerlach, wohnhaft in Erfurt.

Inzwischen haben die Beamten mit weiteren Übersiedlern aus der DDR gesprochen, die ihnen bestätigen, daß sich eine Person ähnlich der Silke Maier-Witt in Erfurt und Weimar aufhalte. Das BKA muß davon ausgehen, daß die Hinweise auf die mutmaßliche Terroristin in der DDR zutreffend sind. Zu eindeutig, zu konkret und übereinstimmend sind die Personenbeschreibungen. Besonders die roten Flecken im Gesicht waren auch einer weiteren Zeugin aufgefallen, die mit Silke Maier-Witt an der Medizinischen Akademie in Erfurt gearbeitet hat.

Doch trotz dieser Meldungen kommen die BKA-Beamten nicht weiter. Weitere Ermittlungen über Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz verlaufen im Sande. Am 26. Mai 1986 schreibt ein Beamter des BKA in einem zusammenfassenden Ermittlungsbericht: «Aufgrund der hier aufgezählten Fakten sollte der Hinweis weiter verfolgt werden. Die Fahndungs- und Ermittlungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland sind in dieser Sache ausgeschöpft.» Und weiter, mit einem deutlichen Seitenhieb auf die Kooperationswilligkeit und die Effektivität des Bundesnachrichtendienstes: «Eine erneute Abgabe der Spur an den BND wird für wenig sinnvoll gehalten. Zurückliegend hat der BND kein brauchbares Ergebnis erbracht. Es wurden vielmehr die Ermittlungsmaßnahmen um ca. neun Monate verzögert. Hier entstand der Eindruck, daß der BND nicht gewillt ist, sein in der DDR bestehendes Ermittlungsnetz wegen der Recherchen nach einer Person, von der nur die Vermutung besteht, daß es sich um eine Zielperson handelt, zu gefährden.»

In der Bundesrepublik wird derweil hinter den politischen Kulissen der Besuch des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, vorbereitet.

Ein Ermittler des BKA kommt auf die Idee, bei der Fahndung nach Silke Maier-Witt den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß einzuschalten, dessen hervorragende Kontakte zu offiziellen Stellen und Vertretern der DDR ja wohl bekannt seien. Ob solche Kontakte im Vorfeld oder während des Honecker-Besuchs wirklich zustande gekommen sind, läßt sich heute nicht mehr feststellen.

Die Erfolglosigkeit des Bundesnachrichtendienstes bei der Suche nach Terroristen in der DDR aber hatte Methode, wie sich auch anhand späterer Vorfälle noch zeigen sollte.

Eine Flucht

An einem Tag im Februar 1986 herrscht in einer kleinen Einraumwohnung in Erfurt hektische Aktivität. Ein Mann und eine Frau sind den ganzen Abend und die Nacht über damit beschäftigt, alle Einrichtungsgegenstände der Behausung zu verpacken. Doch hier handelt es sich nicht um einen normalen Umzug. Sorgfältig werden alle handschriftlichen Unterlagen der Bewohnerin zusammengesucht, einige Materialien über ihre letzten Jahre in der DDR werden vernichtet. Dann beginnen die beiden, die Wohnung zu säubern. In der Bleibe in Erfurt dürfen nicht einmal Fingerabdrücke zurückbleiben, die verraten könnten, wer hier sein Domizil hatte. Am Nachmittag dieses Tages war der Mann ganz plötzlich aufgetaucht und hatte der verschreckten Bewohnerin kategorisch Order erteilt, sie müsse ihre Sachen packen. Es gäbe konkrete Hinweise, daß ihre wahre Identität aufgeflogen sei.

Der Mann heißt Gerd Zaumseil, Major des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Seine Aufgabe wird inoffiziell als Betreuungsoffizier definiert. Die Dame, die er zu betreuen beziehungsweise in diesem Falle schnellstmöglich aus Erfurt wegzuschaffen hat, heißt Angelika Gerlach. Seit 1982 arbeitete sie an der Medizinischen Akademie Erfurt in der Augenabteilung als Hilfskrankenschwester und versuchte gleichzeitig, in einem Lehrgang an der Fachschule «Walter Krämer» im benachbarten Weimar ihren Abschluß als Krankenschwester nachzuholen. Ihr wahrer Name allerdings ist Silke Maier-Witt, geboren am 21. Januar 1950 in Nagold in der Bundesrepublik als Tochter eines Schiffsbauingenieurs, im gesamten westeuropäischen Ausland gesucht als Mitglied der Rote Armee Fraktion. Ihre wahre Identität war Gerd Zaumseil natürlich bekannt. Doch er und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR wußten noch viel mehr. Während die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden teils vergeblich, teils gar nicht den Hinweisen auf den Aufenthalt der mutmaßlichen Top-Terroristin in der DDR nachgehen, handelt das Ministerium für Staatssicherheit der DDR sofort. Durch «Quellen», wie sie es nennen, war den Stasi-Offizieren bekannt geworden, daß die bundesdeutschen Ermittlungsbehörden von Übersiedlern aus der DDR exakte Hinweise erhalten hatten. Alarmstufe eins für die Stasi.

Silke Maier-Witt und Gerd Zaumseil verbringen die Nacht in der Erfurter Wohnung. Am nächsten Morgen meldet sich Silke Maier-Witt bei ihrer Arbeitsstelle und bittet um Urlaub, dann setzen sie und Gerd – man redet sich nur mit den Vornamen an – sich ins Auto und fahren in die Hauptstadt der DDR, nach Ost-Berlin. Dort begeben sie sich unverzüglich in ein Objekt der Staatssicherheit, wo sie von zwei weiteren Offizieren erwartet werden: Oberst Günter Jäckel, stellvertretender Leiter der Abteilung XXII, «Internationale Terrorabwehr und Sondertruppen zur Bekämpfung von Demonstranten», sowie Hans Petzold, stellvertretender Unterabteilungsleiter. Die vier sind sich schnell einig. Silke Maier-Witt muß Erfurt sofort verlassen und unter einer neuen Identität an einen anderen Ort gebracht werden. Unverzüglich werden Vorbereitungen dazu getroffen. Gemeinsam mit den Stasi-Offizieren wird überlegt, welche neue Legende man Silke Maier-Witt verschaffen könnte. Es ist klar, daß sie nicht mehr als Krankenschwester arbeiten kann, nachdem diese Tarnidentität einmal aufgeflogen ist.

Doch zunächst reisen sie und Gerd Zaumseil noch einmal nach Erfurt. Maier-Witt kündigt ihre Stelle an der Medizinischen Akademie und ihren Lehrgang an der Weimarer Fachschule, angeblich aus privaten Gründen. Ihre ehemaligen Kolleginnen bekommen sie nicht mehr zu Gesicht.

Zurück in Berlin, beginnt eine fieberhafte Suche nach der Lücke im System, durch die der Aufenthalt des RAF-Mitgliedes in der DDR auffliegen konnte. Es gelang dem Staatssicherheitsdienst auch relativ schnell, den in Frage kommenden Personenkreis sicher einzugrenzen.

Gerd Zaumseil widmete sich im folgenden der Aufgabe, alle Spuren von Silke Maier-Witt in Erfurt zu beseitigen. Dies allerdings recht schlampig: Noch im Juli 1990 befand sich das Personalblatt der Gesuchten in den Unterlagen der Medizinischen Akademie. Zu dem Zeitpunkt, als der Bundesnachrichtendienst in der Bundesrepublik meldete, es gäbe keine Erkenntnisse, hielt sich Silke Maier-Witt noch in Erfurt auf. Hätte das MfS gewußt, welch geringen Einsatz die bundesdeutschen Dienste bei der Fahndung nach ihr aufwendeten, hätten sie sich die umfangreiche und kostspielige Umsiedlungsaktion sparen können.

So wird die angebliche DDR-Bürgerin zunächst in einer Wohnung am Prenzlauer Berg, in der Chodowieckistraße, untergebracht. Die Suche nach einem neuen Wohnort gestaltet sich schwierig. In den nächsten Monaten wechselt sie in Ost-Berlin mehrfach die Wohnung. Sie erhält von Gerd Zaumseil einen vorläufigen Ausweis auf den Namen Sylvia Beyer, außerdem monatlich 600 Mark Unterstützung durch das MfS. Während dieser Zeit steht sie in Diensten des Ministeriums für Staatssicherheit: Sie übersetzt Zeitschriften, Aufsätze, Ausarbeitungen und Teile von Büchern zum Thema Terrorismus. Derweil arbeitet das MfS an ihrer weiteren Zukunft. Sie braucht eine neue Wohnung, eine neue Arbeitsstelle, einen neuen Lebenslauf und einen ungefährdeten Wohnort. Ende 1987 ist es soweit: Die mutmaßliche Top-Terroristin der RAF erhält eine neue, zweite DDR-Identität. So lange wartet Silke Maier-Witt alias Sylvia Beyer. Die von den bundesdeutschen Fahndern gesuchte Angelika Gerlach hat sich inzwischen aus der DDR abgesetzt. Sie ist von einem Ungarn-Urlaub nicht wiedergekommen, so die Version der Staatssicherheit.

Eine Verhaftung

Neubrandenburg ist eine der typischen DDR-Städte, deren schöne Ecken der Besucher gleich wieder verdrängt, weil ihn der Rest so deprimiert. Von Berlin aus führt nur eine schlecht ausgebaute Landstraße in die 130 Kilometer nördlich gelegene 90000-Einwohner-Stadt im Mecklenburgischen. Man erkennt sofort, daß Neubrandenburg mit einer Errungenschaft des Sozialismus besonders gestraft ist: mit den Trutzburgen der Plattenbau-Satellitenstädte, von denen gleich mehrere den historischen Stadtkern umschließen – die sozialistische Leichtbauversion von Berlin-Gropiusstadt. Genauso häßlich, aber zugiger. Einzig als Kaderschmiede der erfolgreichen DDR-Sprinterinnen genießt die Stadt einen Ruf, der sie über die DDR-Grenzen hinaus bekanntmacht.

Am 18. Juni 1990 aber liegt die Stadt nicht im Blick der Sportpresse, sondern im Fadenkreuz der Fahnder des Zentralen Kriminalamts in Ost-Berlin. Nach den politischen Entwicklungen des Vorjahres zeigen sich DDR-Polizisten gegenüber ihren West-Kollegen vereinigungswillig und fahndungsfreudig. Seit einigen Monaten schon hilft die DDR-Polizei, Fahndungsersuchen aus dem Westen zu bearbeiten. An diesem 18. Juni macht sich eine Einsatzgruppe des Zentralen Kriminalamts auf den Weg nach Mecklenburg, nachdem sie ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes auf die entscheidende Spur gebracht hatte.

Es ist Montag nachmittag, und die Beamten wissen, daß sie an zwei Orten zum Erfolg kommen können. In der Ernst-Alban-Straße 22 in einer der Trabantenstädte oder beim VEB Pharma Neubrandenburg, einer der großen Firmen am Ort. Dort verlangen die Beamten, die Leiterin der Informations- und Dokumentationsstelle des Betriebes zu sprechen. Sie ist noch an ihrem Arbeitsplatz. Die Polizisten weisen sich aus und bitten die Frau, ihnen zu folgen. Sie ist eher resigniert als überrascht oder entsetzt. Ohne ein Zeichen des Widerstandes folgt sie der Aufforderung der Beamten.

Silke Maier-Witt alias Angelika Gerlach alias Sylvia Beyer ist verhaftet, das zehnjährige DDR-Exil einer der vermeintlich gefährlichsten Terroristinnen der Bundesrepublik geht zu Ende. Seit Oktober 1987 hatte Silke Maier-Witt unter ihrem neuen Namen Sylvia Beyer in Neubrandenburg gelebt. Die Staatssicherheit der DDR sorgte dafür, daß in ihrer zweiten DDR-Legende die bundesrepublikanische Vergangenheit keine Rolle mehr spielte. Die alleinstehende Sylvia Beyer erhielt die Wohnung in der Ernst-Alban-Straße, deren Einrichtung die Stasi finanzierte. Ihr neuer Job war ihr schon früh avisiert worden, so daß sie sich schon in Berlin auf ihre neue Aufgabe vorbereiten konnte. In den letzten Jahren ihres DDR-Exils gab es keine weiteren Komplikationen mit Nachbarn oder Kollegen, die in bezug auf ihre wahre Identität Verdacht hätten schöpfen können. Die erneute Normalisierung des Lebens als DDR-Bürgerin ging soweit, daß Sylvia Beyer sogar wagte, sich politisch zu organisieren. Sie trat in die SED ein und diskutierte über die Mißstände in ihrem Betrieb mit Kollegen und ihrem Stasi-Betreuer. Erst die Wende in der DDR und die Wiedervereinigung zerstörten ihren Traum vom endgültigen Bruch mit dem Terrorismus und vom Aufbau des Sozialismus im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Am 26. Juli 1990 erklärt Silke Maier-Witt in einem handschriftlichen Vermerk ihre Bereitschaft, sich in die Bundesrepublik Deutschland überstellen zu lassen, um dort auf ihren Prozeß zu warten.

Der Deutsche Herbst