Ulrike Sterblich

Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt

Eine Kindheit in Berlin (West)

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Ulrike Sterblich

Ulrike Sterblich, geboren 1970 in Berlin (West), lebt, mit Zwischenstationen in den USA, den Niederlanden, Brasilien und München, immer noch in ihrer Heimatstadt, wo sie Bücher und Kolumnen schreibt und Gastgeberin der Talk- und Lesebühne «Berlin Bunny Lectures» ist.

Über dieses Buch

«Wir nahmen die Linie 1, die nur kurz unter der Erde und danach die ganze Zeit oben entlangfuhr, was an diesem Tag gar nicht so gut war. Olivia, ihre Mutter und die anderen Engländer blickten durch die Fenster auf einen grauen Himmel über kaputten Häusern, auf überwucherte Brachen und Gleisanlagen, die seit Ewigkeiten außer Betrieb waren. Die Engländer sahen gesund und rotbackig aus, sie strahlten und waren bereit, alles ‹lovely› und ‹fantastic› zu finden, während die Leute in der U-Bahn tendenziell so grau und trüb und manchmal auch so kaputt wirkten wie die Stadt draußen, was mir ohne Engländer noch nie so sehr aufgefallen war. Leider reichte mein Englisch nicht aus, um das Kaputte und Graue mit Worten interessant zu machen.

Am Schlesischen Tor in Kreuzberg stiegen wir aus und gingen bis nah ran an die Mauer. Die Engländer staunten sehr. Sie murmelten wieder: ‹The Wall› und machten viele Fotos, von der Mauer und von sich vor der Mauer. Dann stiegen wir alle noch auf eine Aussichtsplattform und guckten rüber in den Osten, wo es eindeutig nicht weniger trüb aussah als im Westen. ‹This is such a shame›, sagte Olivias Mutter. Ich erkannte diese Worte wieder aus dem Lied ‹Such A Shame› von der britischen Gruppe Talk Talk.»

 

Zwischen der Karl-Marx-Straße in Neukölln, Kudamm-Kinos und KaDeWe, zwischen dem Schrebergarten in Britz, Forum Steglitz und Europa-Center – eine Zeitreise zu einem verschwundenen Archipel und den Menschen, die ihn bewohnten: West-Berlin. Schillernd komische Geschichten aus der halben Stadt, die es nicht mehr gibt.

 

«Wenn einer eine Stadt wie Berlin volley nehmen kann, dann ist es Ulrike Sterblich.» (Wolfgang Herrndorf)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Abbildung: Topographische Karte, Blatt: Berlin-Mitte, Stand 1981 [Landesarchiv Berlin, F Rep. 270, Nr. A 240, Blatt 0808]; Foto: Hanns-Jörg Fiebrandt)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62840-5 (2. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-47581-6

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-47581-6

Danach: Prenzlauer Berg

Plötzlich war es dann ja möglich, den Osten einfach so zu betreten. Man musste sich kein Visum besorgen in einem der tristen «Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten» (BfBR) und sich auch nicht mehr durch ganz merkwürdig kulissenhafte Räume an hinter Glasscheiben sitzenden Kontrolleuren in grauen Uniformen vorbeischieben, die mit mindestens so viel willkürlicher Macht ausgestattet waren wie ein Berliner Busfahrer. Nachdem man also ohne diese zweifelhaften Kicks einfach so nach drüben konnte, kam natürlich schnell die Frage auf, wo man vielleicht mal ausgehen könnte, abends in Ost-Berlin. Das war, bevor die vielen Wessis aufkreuzten und da was aufmachten, diese ganzen Bars und diese Clubs.

Es hieß, man solle nach Prenzlauer Berg fahren, da gäbe es auf jeden Fall ein paar Läden, in denen die Jugend tanzt und trinkt, so um den Senefelderplatz herum. Ich notierte mir die beiden Namen und stellte dabei fest, dass Ost-Berlin ganz normal mit drin war in meinem zerfledderten Falk-Plan. Das war mir jahrelang überhaupt nicht aufgefallen. Entsprechend unzerfleddert war der rechte Teil vom Stadtplan. Der Senefelderplatz ließ sich einfach über das Straßenverzeichnis finden, so wie die Plätze im Westen auch. Der einzige Unterschied war, dass die Häuserblocks auf der Westseite rosafarben und im Osten grau eingezeichnet waren.

Als Holger und Mariola mich abholten, setzte ich mich mit dem Falk-Plan auf den Beifahrersitz neben Holger. Mariola stieg hinten ein, obwohl es ihr Auto war und sie sonst immer fuhr. Sie wirkte etwas lustlos.

Wir wollten auf jeden Fall durchs Brandenburger Tor in den Osten fahren, aber das war noch gar nicht möglich. Wir fuhren also doch nicht auf jeden Fall durchs Brandenburger Tor, sondern daran vorbei und dann durch den offenen Grenzübergang Invalidenstraße. Danach verfuhren wir uns sofort. Zwar hatte ich den Stadtplan auf den Knien, aber das nützte uns wenig, weil Holger mit dem Phänomen Straßenbahn nicht zurechtkam. Er konnte nie so fahren und so abbiegen, wie ich es ihm sagte, weil immer irgendwo Schienen waren und die Verkehrsführung auch sonst so sonderbar war, dass er irgendwann nur noch fluchte. Wenn ich sagte: «Jetzt rechts!», schrie er: «Ja, wie denn bitte!», und dann mussten wir Ewigkeiten auf derselben großen Straße weiter geradeaus fahren, weil in deren Mitte eine Straßenbahntrasse entlangführte und kilometerweit keine Wendemöglichkeit vorgesehen war. Die schlechte Straßenbeleuchtung tat ein Übriges, deswegen hatten wir überhaupt erst die Seitenstraße verpasst, in die wir eigentlich einbiegen wollten.

Mariola bekam noch miesere Laune. Sie hatte sowieso schon keine große Lust auf den Osten gehabt, wo es ihrer Meinung nach einfach nur genauso aussah wie in Polen, also, was sollte sie da.

«Man soll sich hier verfahren», sagte sie. «Das ist Strategie.»

Ich hielt diese Einschätzung bestenfalls für eine Mischung aus Wahrheit und Propaganda. Allerdings sah es wirklich trist aus, dieses graue, kaputte Ost-Berlin im Graupelregen. Schließlich bogen wir doch noch irgendwo ab und entdeckten nach einigen Runden um ein paar Häuserblocks eine kleine Gaststätte. Holger stellte das Auto direkt vor der Kneipe ab, Parkplätze gab es reichlich. Drinnen im Lokal war es schummrig und gut gefüllt. Manche Leute saßen, manche standen. Wir blieben stehen, orderten ein billiges Bier und erfragten vom Mann hinterm Tresen Hinweise darüber, wo wir sonst noch hingehen könnten, hier in der Gegend, worauf er uns ein fußläufig erreichbares Tanzlokal empfahl. Daraus, wie lang der Weg dorthin tatsächlich war, konnten wir später schließen, dass man im Osten offenbar Strecken als fußläufig bezeichnete, für die wir ganz klar das Auto genommen hätten, zumal bei nasskalter Witterung.

Das Tanzlokal war nur mäßig besucht, und wir fühlten uns deplatziert, weil wir gleich als Westler auffielen. Im Osten als Westler aufzufallen war meiner Meinung nach viel unangenehmer als andersherum. Es war nicht zu leugnen, da musste man Mariola recht geben, dass es im Osten einfach schlechter war als im Westen. Das Bier schmeckte so mittel, die Cola gar nicht, die Musik war nicht der neueste heiße Scheiß aus London, der Sound war schlecht, und um das ostige Interieur super zu finden, würde man erst einmal diesen dreifach gebrochenen Retro-Trash-Geschmack ausbilden müssen. Unser Trip in den Osten hatte einen Beigeschmack von Elendstourismus. Außerdem war es für uns als West-Berliner kaum zu ertragen, plötzlich «Wessis» genannt zu werden, wo doch unser Leben lang andere die Wessis gewesen waren.

Am Ende des Abends setzte sich Mariola wieder ans Steuer; sie fuhr auch besser als Holger. Zur Erholung gingen wir noch ins Rock-It, unsere Stammdisco in der Karl-Marx-Straße, die trotz ihres Namens im Westen lag.

 

All die Kinder aus Westdeutschland, die nach der Wende unkontrolliert nach Berlin strömten, sahen den Osten der Stadt mit ganz anderen Augen. Je westlicher die Prägung, desto faszinierender der Osten. Mariola war als gebürtige Polin rundum immun gegen jede Ostblock-Exotik, aber auch wir waren ja keine Wessis. «Wessis» waren in unserem Sprachgebrauch Leute aus Wessiland, und Berlin, auch West-Berlin, lag mitten im Osten Deutschlands. Geographisch, landschaftlich und architektonisch. Noch nicht einmal die freie Marktwirtschaft, das zentrale Wesensmerkmal des Westens, war jemals vollständig angekommen im Subventionsland West-Berlin. Mit Bröckelfassaden, Leerstand, Brandmauern, Brachen und allgemeiner Kaputtheit waren wir schon vor dem Mauerfall gut bedient gewesen, da gab es wenig Nachholbedarf.

Junge Zuwanderer aus Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen kamen da aus anderen Welten. Schon früher war West-Berlin das große Abenteuer für Schüler auf Klassenfahrt gewesen, aber der Berliner Doppelpack mit dem ruinierten Ostteil war es nun noch viel mehr. Und während das Gebot der Stunde in den Sechzigern Revolution hieß, in den Siebzigern Punk und in den Achtzigern Häuserbesetzung, ging es in den Neunzigern um Party. Die Fete war tot, jedenfalls als Wort, man sagte jetzt nur noch Party. Einige Jahre zuvor hätte ich gesagt, Partys sind Veranstaltungen, bei denen Erwachsene in schicken Klamotten und mit Martini-Gläsern in der Hand um einen Pool herumstehen, während im Hintergrund Bossa-nova-Musik läuft. Feten hingegen wären wild, laut und tanzorientiert. Dieses Bild war aber gekippt, in etwa zeitgleich mit der Mauer. Wer jetzt noch Fete sagte, hatte den Schuss nicht gehört und qualifizierte sich als Hörer von Radiosendern, deren Programmidee es war, die größten Hits der sechziger, siebziger und achtziger Jahre zu spielen. Zusammen mit der Fete wurde auch die Diskothek endgültig eingemottet, ab jetzt hießen Tanzlokale «Clubs». Wer in den Achtzigern einen Taxifahrer nach einem Club gefragt hätte, wäre vor einem Puff abgesetzt worden.

Die Club-Party ging also los, aber ohne mich. Die Neuzugänge aus dem Wessiland dominierten das Gelände, und in meiner von Skepsis zerfressenen Wahrnehmung taten sie dabei so, als würden sie hier alles neu erfinden. Sie übernahmen auch die Stadtmagazine und die Lokalpresse und schrieben nur noch über ihre eigenen neuen Spielplätze im Osten der Stadt. West-Berlin fühlte sich wie das erstgeborene Kind, dem ein frisches, entzückend brüllendes Geschwisterchen die Show stiehlt, indem es einfach in die Windeln kackt.

Ich brauchte überhaupt kein neues Berlin, mein altes Berlin funktionierte noch sehr gut.

 

In meinem alten Berlin machte ich 1990 das Abitur und immatrikulierte mich danach an der Freien Universität im schönen Dahlem. Meine neue Stammstrecke wurde die damalige U-Bahn-Linie 2 (und heutige U3) zwischen Wittenbergplatz und Thielplatz, ein Streckenabschnitt mit fast lächerlich hoher Musikerfrequenz. Allein schon diesen einen, immer sehr ordentlich gekleideten kleinen Südamerikaner mit seiner Gitarre hatte man mindestens einmal am Tag im Waggon stehen, wie er mit fisteliger Stimme ein sentimentales Liebeslied mit «Corazon» drin sang, als hätte ihn jemand dazu verdonnert. Zu seinem Gesang und auch sonst trug er eine vorwurfsvolle Miene zur Schau, vielleicht wegen der Ausbeutung der Dritten Welt.

Im Studium lernte ich nach Berlin zugezogene Westdeutsche erstmals selber und in größerer Zahl kennen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis das passieren würde, denn zugezogene Westdeutsche hatten die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in West-Berlin von jeher dominiert, was man als einheimische Schülerin, die sich vornehmlich in einheimischen Schülerkreisen bewegte, nicht unbedingt mitbekommen hatte. Das war in jedem Fall interessant, und es waren natürlich ein paar ganz Nette dabei. Nach einigen Wochen hatte ich plötzlich Freunde, die gar nicht in Berlin zur Schule gegangen waren und keine Ahnung hatten, wo Bezirke wie Marienfelde und Rudow überhaupt liegen, geschweige denn, wie es da aussieht. Und die das zehn, fünfzehn Jahre später immer noch nicht wussten, es sei denn, sie hatten sich beizeiten auf eine romantische Beziehung mit einem Ureinwohner oder einer Ureinwohnerin eingelassen. Mit der fuhren sie dann hin und wieder zu den am Stadtrand lebenden Eltern und staunten dabei aus dem Auto- oder Busfenster heraus: «Dass das hier noch Berlin ist!»

Zum Ausgleich hatten die Studenten aus Westdeutschland aber, kaum waren sie hier, sofort ihre Fühler in den Osten ausgestreckt und wussten immer, in welche Clubs man gerade ging. Dabei nahmen sie weiterhin an, dass ich mich am besten auskennen müsste, so als Berlinerin. Sie waren sich nicht darüber im Klaren, dass sie eigentlich zwei Städte gleichen Namens bewohnten, von denen mir die eine genauso neu war wie ihnen.

Nur ganz langsam gewöhnte ich mich überhaupt an den Gedanken, den Osten in meine alltäglichen Bewegungen durch die Stadt mit einzubeziehen. Um von Kreuzberg nach Wedding zu kommen, zum Beispiel, fuhr ich noch lange auf den vertrauten Wegen um Mitte herum, bis mich bei irgendeiner Gelegenheit eine – natürlich westdeutsche – Kommilitonin darauf aufmerksam machte, dass ich einen Umweg nahm. An den einst bizarren Geisterbahnhöfen der U-Bahn-Linien 6 und 8 hielten jetzt die Züge. Man konnte dort einfach zum Spaß aus- und wieder einsteigen, sogar an der Station mit dem fast schon karikaturistisch-sozialistischen Namen «Stadion der Weltjugend».

 

In den achtziger Jahren waren die ersten «coolen» Reiseführer herausgekommen, solche, in denen Insider-Tipps zu Kinolandschaft, Shopping-Möglichkeiten und das Nachtleben Vorrang hatten vor den konventionelleren Informationen über Historie und Öffnungszeiten von Museen. Gerade unter West-Berlin-Besuchern gab es einen erhöhten Bedarf an Antworten auf Fragen wie: Wo ist es wild, wo ist es cool, wo chic und wo abgerissen, wo alternativ, wo lesbisch oder schwul, und wie muss man aussehen, um dabei nicht negativ aufzufallen.

Hin und wieder wurde in solchen Stadtführern auch auf eine junge Berliner Spezies hingewiesen, die mit hippen Neondiscobesuchern und anderem Szenevolk wenig gemeinsam hatte: die «Vorstadtjugend». Diese bevölkerte laut Reiseführer am Wochenende den Ku’damm, fiel in Kinos und Diskotheken ein und nervte dabei total rum. So wie es die Vorstadtjugend überall und zu allen Zeiten tat und tut und tun wird.

In West-Berlin allerdings gab es, in Ermangelung von Vorstadt, tatsächlich gar keine Vorstadtjugendlichen. Es gab allenfalls den Stadtrand. Und die Jugendlichen, die dort wohnten, waren mit der Innenstadt viel stärker verbunden als echte Vorstadtjugendliche in echten Vorstädten, allein schon deshalb, weil vom West-Berliner Rand aus gesehen der Blick automatisch in die Stadt gerichtet war, denn drumherum verlief ja die Mauer.

Es gab da also die große Gruppe derer, die im Berlin der Achtziger noch zu jung waren, um zu irgendeiner interessanten oder gesellschaftlich relevanten Szene zu gehören, die aber immer dabei waren, wenn die anderen am Inszenieren, Posen und Machen waren. Die selber noch nicht prägten, aber ihrerseits geprägt wurden, vom großen Getriebe West-Berlin, mit allen seinen Sonderlichkeiten.

Diese Jugendlichen, das waren wir.

Das Stadion der Weltjugend wird 1950 anlässlich des ersten «Deutschlandtreffens der Jugend» im Ost-Berliner Bezirk Mitte errichtet, wo es das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Polizeistadion ersetzt und zunächst Walter-Ulbricht-Stadion heißt. Bei Umbauten im Folgejahr werden die Stadiontribünen mit den Trümmern des kurz zuvor gesprengten Berliner Stadtschlosses aufgefüllt. Für die 10. Weltfestspiele der DDR wird es 1973 abermals umgebaut und bekommt nun den Namen «Stadion der Weltjugend». Auch der angrenzende U-Bahnhof wird umbenannt, was allerdings nur für die West-Berliner Bevölkerung sichtbar ist, da der obere Zugang zur U-Bahn-Station verschlossen und kaum sichtbar ist, während von unten die West-Berliner Passagiere den Bahnhof ohne Halt durchfahren (siehe Kapitel «Geisterbahn»). 1992 wird das Stadion der Weltjugend abgerissen. Im Jahr 2005, nach dreizehn Jahren Zwischennutzung als Golf- und Volleyballplatz, kauft der Bundesnachrichtendienst das Gelände und beginnt dort im Oktober 2006 mit dem Bau seiner neuen Superzentrale.

Davor: Alt-Mariendorf

Der U-Bahnhof Alt-Mariendorf war einer der beiden Endbahnhöfe der Linie 6, und wie auf Endbahnhöfen üblich, warteten meistens auf beiden Gleisen Züge, in die man sich schon hineinsetzen konnte, bevor sie losfuhren. Manchmal allerdings gab es einen Zug, in den durfte man nicht einsteigen, weil er die Strecke Richtung Tegel nicht zurück-, sondern zur Wartung in den Betriebsbahnhof fahren würde. Der Schaffner brüllte dann «NICHT einsteigen» in sein Mikrophon, in einem Ton, als würde er mit einer besonders begriffsstutzigen Horde von Kindern schimpfen.

Nicht immer ganz zu Unrecht. Eines Morgens standen wir auf dem Bahnhof, die diensthabende Schaffnerin schrie: «NICHT einsteigen!», und plötzlich rannte Heike wie besessen los, sprang in den leeren Zug, die Türen schlossen sich hinter ihr, und der Zug rollte Richtung Betriebsbahnhof. Wir sahen Heike, wie sie uns durch eines der Fenster vollkommen entsetzt anguckte. Sie presste eine Hand gegen das Glas, ihr Mund ging auf und zu, aber man hörte sie nicht. Dann, kurz bevor Heike im Tunnel verschwunden wäre, brüllte die Schaffnerin: «ZUG ANHALTEN!» Der Zug hielt, die Türen gingen wieder auf, und Heike durfte aussteigen. Die Schaffnerin rief: «Und ick sach noch laut und deutlich: ‹NICHT einsteigen!› Dit nächste Mal hörnse mal zu, wat ick hier ansage, junge Dame.»

«Sag mal, Heike», meinte Nicole, als wir in der richtigen U-Bahn saßen und durch den Tunnel fuhren, «was wolltest du eigentlich im Betriebsbahnhof?»

«Ach, Mann», sagte Heike und holte ein Heft aus ihrer Schultasche. So einfach sollte Heike nun nicht zur Tagesordnung übergehen können, fand ich und legte meine Hand auf ihre Schulter: «Du musst schon auch zuhören, wenn man dir laut und deutlich etwas sagt, Heike!»

«Ist ja gut jetzt.»

Es war aber noch nicht gut, denn Anja wollte auch noch mal: «Schnell warst du! Trainierst du heimlich?»

Jeden Morgen trafen wir uns unterirdisch auf dem U-Bahnhof Alt-Mariendorf, um zusammen zur Schule zu fahren: Nicole, Anja, Heike und ich. Alt-Mariendorf war die südliche Endstation der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden U6, und im Berliner Süden, da wohnten wir. Präziser gesagt: Wir wohnten im mittleren Süden von West-Berlin, dort, wo die große, abenteuerliche Stadt ganz besonders langweilig war, in den spießigen Tempelhofer und Steglitzer Unterbezirken Lankwitz, Mariendorf und Marienfelde. Weiter westlich lag Zehlendorf, da waren die Leute allgemein reicher und akademischer. Weiter östlich war Neukölln mit den Unterbezirken Britz, Buckow, Rudow und Gropiusstadt, wo die meisten unserer Mitschüler zu Hause waren. Unsere Schule befand sich in Nord-Neukölln, und da ging die Fahrt morgens auch hin, an jedem Schultag, eine Dreiviertelstunde hin und eine Dreiviertelstunde zurück, sieben Jahre lang, von 1983 bis 1990.

 

In Neukölln, Postbezirk 1000 Berlin 44, lebten auch meine Großeltern. Sie bewohnten eine Zwei-Zimmer-Altbauwohnung mit Dielenboden und Stuck an der Decke, in der sie acht Kinder großgezogen hatten. Vom Balkon aus konnten sie ihre Kirche auf der anderen Straßenseite sehen, und die aus Breslau vertriebenen Nonnen vom Orden der Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau gründeten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur eine Straße weiter eine katholische Schule. Das waren die wichtigsten Eckdaten für ein intaktes nachbarschaftliches Umfeld. Der Opa ging Unterschriften sammeln für die staatliche Anerkennung der Schule, und selbstverständlich wurden alle acht Kinder dort eingeschult, sieben Töchter und ein Sohn.

Die jüngsten Kinder wohnten noch zu Hause, als die älteren schon die ersten Enkel in Obhut gaben, damit sie von Oma Berge handgeriebener Kartoffelpuffer mit Apfelmus serviert bekamen, dazu Malzbier und hinterher selbstgebackenen Streuselkuchen. Wenn sie mit umgebundener Schürze in der Küche vor sich hin werkelte, sang sie dabei ausgedachte Lieder mit merkwürdig bedeutungslosen Texten, in denen zum Beispiel «Bauze» auf «Plauze» gereimt wurde.

Als kleines Kind blieb ich oft bei den Großeltern über Nacht und ging sonntags an der Hand meiner Oma mit zur Kirche, ein rotes Backsteingebäude mit hohem Kirchturm, das trotz seiner Andersartigkeit mittendrin in der Häuserfassade stand. Der Opa war nicht ganz so verlässlich beim Kirchgang dabei, meistens kam er entweder später und stellte sich hinten in die letzte Reihe, oder er blieb einfach zu Hause in seinem Sessel sitzen und las die Zeitung. Wenn die Oma sich darüber beschwerte, ging er manchmal so weit zu behaupten, die Kirche sei kein Frosch, sie hüpfe nicht weg.

Es war eine Eigenart der Kirche, extrem lange zu dauern. Länger als sonst irgendetwas, das ich kannte. Meine Oma saß mal, und mal stand sie, dann kniete sie wieder. Ich machte Spiele mit meinen Fingern, deren Unterhaltungswert sich bald erschöpfte. Danach sah ich mir die Bilder an. Auf einem großen Wandgemälde vorn neben dem Altar war etwas Ovales, Braunes drauf, das vielleicht ein Brot war oder ein Schuh, vielleicht auch ein Klumpen Matsch. Vieles in der Kirche war irgendwie unklar. Während der Gabenbereitung zum Beispiel sprach die Gemeinde den kryptisch-eindrucksstarken Satz: «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.» Ich machte mir viele Gedanken darüber, wie und wann es wohl dazu käme, das der Herr einginge unter einem Dach. Bei Pflanzen wusste ich, dass man sie gießen muss, damit sie nicht eingehen. Aber der Herr?

Es gab viel Hall in der Kirche. Schon wenn etwas Kleines herunterfiel, hörte man es überall. Ich musste mich sehr zusammenreißen, nicht laut in die Stille zu rufen, um den Hall zu testen. Ab und zu wollte meine Oma mir zeigen, wie ich die Hände zum Gebet falten solle, dann guckte ich schnell weg, oder ich tat so, als wäre es mir nicht möglich, meine Hände so zu halten wie sie ihre. Danach blätterte ich im Gesangbuch, wo es seit dem letzten Mal auch nichts Neues zu entdecken gab, und irgendwann, wenn ich kurz davor war, vor Langeweile zu kollabieren, sang der Pfarrer schließlich: «Gehet hin in Frieden.»

«Dank sei Gott, dem Herrn», sang meine Oma, und die Orgel ertönte zum Schlusslied. Am Ende machten alle noch eine Kniebeuge neben der Bank, tauchten die Hand ins Weihwasserbecken und bekreuzigten sich. Ich hüpfte raus ans Licht und sprang die drei Stufen der Steintreppe vor der Kirche im Ganzen hinunter.

Oma klemmte ihre Handtasche unter und sagte: «So, dann werd ich jetzt mal Mittag machen.»

 

Gut zwanzig Jahre später, nachdem die Mauer gefallen und beide Großeltern gestorben waren, brachte es ihre Gegend zu deutschlandweiter Prominenz als amtlich beglaubigter Problembezirk mit hoher Arbeitslosigkeit, hohem Ausländeranteil und hoher Jugendkriminalität. In der Berichterstattung über soziale Missstände in Neukölln wird immer wieder gern darauf verwiesen, wie viele Geschwister der Intensivstraftäter XY hat und wie viele Mitglieder die Familie Z., wobei diese Familien meist nicht Familien, sondern Clans genannt werden. Offenbar haftet Großfamilien, wenn sie nicht gerade von Adel sind, nach wie vor etwas gesellschaftlich Suspektes an.

Meine Großeltern kamen zwar nicht aus dem Nahen Osten nach Neukölln, wie die meisten Zuwanderer heute, sondern aus Ostpreußen, und als Religion hatten sie den Katholizismus im Schlepptau. Aber eine Großfamilie auf engstem Raum gründen, das konnten sie auch.

Die katholische Schule in ihrer Nähe hatte sich seit ihrer Gründung im Jahr 1948 erheblich vergrößert. Sie war zweimal umgezogen und hatte sich in eine Grund- und eine Oberschule geteilt. Die Oberschule erhielt in den sechziger Jahren ein großzügiges Areal auf dem Gelände einer Kleingartenkolonie, mit zwei eigens gebauten Schulhäusern, einer Turnhalle, zwei Schulhöfen, Laubengängen und Blumenbeeten. Hinter dem einen Schulhof lag das Wohnhaus der Ordensschwestern, von denen seit Schulgründung nicht mehr allzu viele übrig waren. Diejenigen, die noch lebten, waren hochbetagt, und Neuzugänge waren kaum zu verzeichnen.

Es gab noch mehr katholische Schulen in Berlin: neben einigen Grundschulen zum Beispiel das Canisius-Kolleg im Bezirk Tiergarten, wo man, für Berlin ungewöhnlich, schon in der fünften Klasse aufgenommen wurde und Latein als erste Fremdsprache hatte. Die Jesuitenschule befand sich in einem merkwürdigen Niemandsland zwischen den unendlichen Weiten des Tiergartens und großen, verwunschenen Grundstücken, auf denen pittoreske Ruinen verlassener Botschaftsgebäude der ehemaligen Achsenmächte unter dichtem Gestrüpp vor sich hin verfielen. In Charlottenburg war die Liebfrauenschule, in Schöneberg St. Franziskus und im Berliner Norden hatten sie die Salvator-Schule – aber mit dem Norden hatten wir noch weniger zu tun als mit Zehlendorf. Bis heute hält sich die informelle Grenze zwischen Nord- und Süd-Berlin weitaus hartnäckiger als die zwischen Ost und West.

Morgens in der U-Bahn verglichen wir unsere Hausaufgaben oder fingen überhaupt erst damit an. Manchmal, wenn es sehr ruckelte oder der Zug plötzlich bremste, hatte man einen langen, ausgerutschten Strich im Heft. Überhaupt fielen die in der Bahn erledigten Hausaufgaben generell krakelig aus und konnten von den Lehrern leicht als U-Bahn-Werke identifiziert werden. Ab und zu wurden Grundsatzvorträge darüber gehalten, dass Aufgaben konzentriert und sorgfältig zu Hause und nicht husch, husch auf den Knien in der Bahn gefertigt werden sollten, es heiße schließlich Hausaufgaben und nicht U-Bahn-Aufgaben, das war dann der Spruch dazu. Allerdings war es nun einmal so, dass wir jeden Morgen eine Dreiviertelstunde in der U-Bahn saßen, wo es sonst nicht viel zu tun gab, während es nachmittags nach der Schule sehr viel zu tun gab. Die U-Bahn bot sich deshalb sehr wohl dafür an, dort Aufgaben zu erledigen, wie auch immer sich diese nannten. Schließlich wollten wir nicht die ganze Fahrt lang auf die gereimte Brot-Reklame über den Zugfenstern starren: «Janz wurscht, wat druffliecht – eens ist wichtig: mit Paech-Brot liechste imma richtig!» Oder: «Beim Jawort schweigt die junge Braut, weil sie noch schnell ein Paech-Brot kaut!» Dann schon lieber Hausaufgaben.

Neben Nicole, Anja, Heike und mir stiegen noch andere Schüler unserer Schule jeden Morgen am Bahnhof Alt-Mariendorf ein. Zum Beispiel der Angeber und Napoleon. Der Angeber war groß und hager mit einem spitzen Adamsapfel und einem Aktenkoffer als Schultasche. Napoleon war kleiner als der Angeber, hatte einen sportlichen Rucksack und wirkte auf undefinierbare Art französisch. Wenn beide im Zug nebeneinandersaßen, sah man Napoleon kaum jemals reden, denn der Angeber redete die ganze Zeit. Ob Napoleon ihm dabei zuhörte, war schwer zu sagen, es schien aber nicht so. Der Angeber guckte manchmal auch zu uns rüber oder sagte hallo, Napoleon aber sagte nie hallo. Er beachtete uns gar nicht. Wir fanden beide ziemlich stulle, beobachteten sie aber genau, wo sie uns nun mal jeden Morgen, und oft auch noch am Nachmittag, gegenübersaßen. Jedenfalls so lange, wie sie auf unserer Schule waren, denn der Angeber und Napoleon waren zwei Stufen über uns. Als wir sie nicht mehr trafen, vermissten wir sie ein bisschen, und Anja gestand, dass sie Napoleon «eigentlich ganz süß» gefunden habe.

«Ich seh den manchmal in der Kirche», meinte Nicole. «Soll ich es ihm sagen?»

«Spinnst du?», rief Anja, und dann mit Nachdruck: «Wehe!»

Anja war sehr blond und bekam schnell einen roten Kopf.

Wenn wir in der U-Bahn keine Hausaufgaben machten, langweilten wir uns und wurden zur Pest. Heike hatte dieses Spiel erfunden, bei dem wir einem beliebigen Fahrgast entgeistert auf die Schuhe starrten und dabei tuschelten. Höchst verunsichert versuchten unsere Opfer irgendwann, die eigenen Schuhe möglichst unauffällig zu inspizieren. Dabei konnten sie natürlich nichts Besonderes entdecken. Sie warteten ein paar Augenblicke ab und sahen dann abermals und genauer hin. Danach guckten sie auf unsere Schuhe, und irgendwann stiegen sie aus, oder wir, und das Rätsel wurde niemals aufgelöst. Wahnsinnig komisch fanden wir das.

Manchmal setzten wir uns nicht nebeneinander, sondern verteilten uns im Waggon und taten so, als würden wir uns nicht kennen. Dabei versuchten wir vorsätzlich, nicht zu lachen, was ein probates Mittel war, grandiose Lachanfälle zu evozieren. Deren plötzliches Auftreten konnten die anderen Mitfahrenden wiederum nicht einordnen, was wir grässlicherweise wieder total komisch fanden und woraufhin wir noch mehr lachen mussten. Alle anderen waren natürlich schwer genervt, besonders Napoleon.

Die meisten Menschen sahen es uns aber letztlich nach. Sie dachten vielleicht: Ach, die armen Mädchen in dieser engen grauen Stadt, wenigstens lachen sie.

Auguste Viktoria Friederike Luise Feodora Jenny von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, Gemahlin von Wilhelm II. und letzte deutsche Kaiserin, engagiert sich als Schirmherrin des «Evangelischen Kirchenbauvereins» zum Ende des 19. Jahrhunderts für die Errichtung evangelischer Kirchen in Berlin. Gleichzeitig ordnet sie an, dass katholische Kirchen nicht frei stehend, sondern in die Häuserfronten hineingebaut werden müssen.

Hermannplatz

Zur Grundschule war ich meistens mit dem Rad gefahren, von Lankwitz nach Marienfelde, jeden Tag ungefähr zwanzig Minuten hin und wieder zurück. Ein unspektakulärer Stadtrandschulweg durch die Ausläufer unserer Neubausiedlung hindurch, über eine vierspurige Straße, an einem Polizei-Übungsgelände vorbei und zum Schluss durch lauschige Einfamilienhausstraßen mit alten Bäumen am Straßenrand. Als es Winter und die Temperaturen ekelhaft wurden, zeigte mir meine Mutter, wie ich mit dem Bus zur Schule käme. Dafür musste ich erst in einen kleinen einstöckigen Bus steigen und dann, am dörflichen Knotenpunkt Lankwitz-Kirche, wechseln in einen großen gelben Doppeldecker der Buslinie 2.

Erstaunlich viele Leute wollten morgens mit dem 2er-Bus fahren, unter anderem die Schüler eines Oberstufenzentrums. Der Bus war, wenn er Lankwitz-Kirche anhielt, bereits gut gefüllt. Sitzplätze gab es keine mehr, weder unten noch auf dem Oberdeck. Trotzdem standen an der Haltestelle all diese Leute, und ich mittendrin. Einmal sah ich im Fernsehen einen Bericht über Tokio und wie eng die Leute da in der U-Bahn zusammenrücken müssen, und mein Vater sagte: «Ach du Scheiße, so schrecklich ist es also in Tokio», aber ich sah keinen Unterschied zum 2er-Bus.

Oft mussten Leute sogar draußen bleiben und auf den nächsten Bus warten, und manchmal war ich darunter. Ab Lankwitz-Kirche rauschte der Bus an den folgenden Haltestellen einfach vorbei, weil sowieso keiner mehr hineinpasste. Als Grundschulkind war ich kleiner als die Schüler des Oberstufenzentrums und trug auch noch diesen Schulranzen auf dem Rücken, einen sperrigen roten Scout. Das machte es nicht leichter. Erleichtern oder erschweren konnten es einem nur die Busfahrer. Manche schlossen einfach die Tür, obwohl noch Leute hineingepasst hätten, oder brüllten Verbote und Kommandos ins Mikrophon. Einige sagten aber auch: «So, jetzt alle mal noch enger zusammenkuscheln, damit wa keen draußen lassen müssen!» Oder: «Achtung, jetzt jeht’s um die Kurve, umfallen kann ja keener.»

An einem besonders kalten Morgen, als sich die Schüler im 2er-Bus schon stapelten, wartete an einer Haltestelle ein kleines Mädchen, kleiner als ich, mit Schulranzen, Wollmütze und Puppe im Arm. Der Busfahrer fragte: «Kiekt ma da draußen, solln wa die Kleene nich noch mitnehm mit ihrer Püppi?» Der ganze Bus johlte: «Mit-neh-men!», und schob sich noch ein bisschen enger aneinander, damit die Kleene einsteigen konnte mit ihrer Püppi.

Viele Buskinder in meinem Alter trugen ihre Monatskarte in einem Lederetui um den Hals, wohl, damit sie nicht verlorengeht. Mir persönlich gefiel das nicht so gut. Noch unschöner als umgehängte Monatskarten fand ich nur die meist roten Zahnspangendosen, die man ebenfalls an einer Strippe um den Hals tragen konnte. Meine Monatskarte hatte ich in einer blauen BVG-Plastikhülle stecken und konnte auch so gut auf sie aufpassen. In der Oberschule stopfte man später alles Mögliche mit in diese blaue Monatskartenhülle hinein; Briefchen, Zettel, Fotos, Notizen. Außen gehörten Aufkleber darauf. Eine dicke Monatskartenhülle mit interessantem Inhalt war ein wichtiger Beleg für den sozialen Status.

Für die Monatskarte selber musste man jeden Monat eine neue Marke kaufen, und zwar an einem Monatsmarkenverkaufsschalter. Davon gab es in der ganzen Stadt aber nur ein paar wenige. Einer war in einem dunklen, verpissten Winkel vom U-Bahnhof Hermannplatz angesiedelt. Wenn man sich dort zum Ende des Monats eine Stunde vor Schalteröffnung einfand, standen schon mindestens vierzig Leute Schlange. Auf die Sekunde pünktlich ging der graue Rollladen vor dem Schalterfenster hoch, und dahinter kam ein übellauniger, teigiger Beamter zum Vorschein, der Machthaber über die Herausgabe der kleinen Klebemarken. Noch etwas später schlängelten sich die Monatsmarken-Aspiranten durch den ganzen Bahnhof, die Wartezeit lag bei bis zu fünf Stunden. Und wehe, man brauchte nicht nur eine neue Marke, sondern auch eine neue Monatskarte, weil die alte abgelaufen war. Dann hatte man besser das ganze korrekt ausgefüllte und korrekt abgestempelte Arsenal von Formularen, Passbildern und Bescheinigungen dabei, sonst wurde man vom teigigen Schalterdiktator angeschnauzt und ohne Monatskarte weggeschickt.

Einmal, bei einer Familienfeier, erzählten meine Tante und mein Onkel von der ewigen Warterei in einem der «Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten», in denen man die Visa für einen Besuch in der DDR beantragen musste. Alle schüttelten entrüstet die Köpfe und sagten, wie schrecklich, diese Schikane, aber ich sah keinen Unterschied zur gängigen Monatsmarkenverkaufspraxis der BVG.

Im Mai 1987 führen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die Möglichkeit des Abonnements für Monatsmarken ein.

Die Passage

Jeden Morgen um acht war der gesamte U-Bahnhof Karl-Marx-Straße rappelvoll mit Katholiken im Alter von zwölf bis zwanzig, die sich unbedingt dort treffen mussten, um, ihrem altersgemäßen Herdentrieb folgend, den Weg bis zur Schule grüppchenweise gehen zu können. Wegen der langen Anfahrtswege vieler Schüler begann der Unterricht erst um Viertel nach acht, oder, im Berliner Sprachgebrauch: um viertel neun. Die BVG beklagte sich in regelmäßigen Abständen bei der Schulleitung über die Verstopfung des Bahnhofs. Daraufhin wurden wir von den Lehrern ermahnt, uns nicht «unnötig» am Bahnsteig aufzuhalten, was wir aus unserer Sicht auch gar nicht taten, denn schließlich trafen wir uns dort, um zusammen zur Schule zu gehen, und das war nicht unnötig, sondern total nötig. Das sah man anders bei der BVG. Die Beschwerde bei der Schule war nur Teil einer größeren, konzertierten Aktion zur Rückeroberung des Bahnhofs, bei der wir unter anderem per Lautsprecher dazu aufgefordert wurden, «den Bahnsteig nach Verlassen des Zuges unverzüglich zu räumen». Wer trotzdem noch dort herumstand, bekam es mit stocksauren BVG-Beamten zu tun, die mit Bußgeldern drohten. Wir sahen uns dann vorübergehend dazu gezwungen, uns oberirdisch zu treffen, vorzugsweise an der Passage.

Die Passage, ein gründerzeitlicher Durchgang zwischen Karl-Marx- und Richardstraße, war einstmals als prunkvolles Kommerz- und Amüsierzentrum im Herzen Neuköllns angelegt worden, mit Kino und Festsaal und Pipapo. Aber das war vor dem Krieg gewesen. Jetzt war die Passage bröcklig und von zerzausten Neuköllner Stadttauben bewohnt. Die Inhaber der Geschäfte wechselten häufig, und manchmal standen die Läden lange leer. Eine Zeitlang gab es einen subkulturell orientierten Klamottenladen mit einem Doc-Martens-Schuhregal vor der Tür, aber keiner von uns hat ihn jemals betreten. Ich erinnerte mich, dass sich ganz früher das Kartoffelgeschäft «Krohn» an dieser Stelle befunden hatte, in dem meine Oma ihre Kartoffeln kaufte für die Kartoffelpuffer. Damals fand ich nichts Besonderes daran, dass es einen Laden nur für Kartoffeln gab, und auch dass meine Oma ihren Einkauf mit den Worten «Na, haben Sie schöne Kartoffeln heute?» einzuleiten pflegte, war völlig normal.

Irgendwann war dann ein McDonald’s in der Passage, und im September 1989, als wir fast fertig waren mit der Schule, wurde die Passage doch noch rehabilitiert, indem das schöne große Passage-Kino da reinkam, wo achtzig Jahre zuvor schon einmal eines gewesen war. Darüber freuten wir uns, nicht nur wegen der Filme, sondern auch weil es schick und sauber war und damit das Gegenteil vom Möbelladen.

Der Möbelladen war Horror gewesen. Er war das Ranzigste, was man sich vorstellen konnte, und er war riesig. Alles, was später Kino wurde, war vorher Möbelladen. Das große, hohe Foyer war von oben bis unten zugerümpelt mit alten, speckigen Möbeln, und auch draußen in der Passage standen überall die keimigen Sofas herum und ließen sich von den Passage-Tauben vollkacken. Dazwischen saßen die Betreiber des Möbelladens. Sie trugen runde, verspiegelte Sonnenbrillen und lange Bärte, fuhren Harleys und sahen allgemein so aus, als wären sie Mitglieder der zeitgleich erfolgreichen Band ZZ Top. Ein beliebtes Spiel beim Durchgang durch die Passage war es, jemanden überraschend auf eines der Ekelsofas zu schubsen. Es war deshalb ratsam, immer auf der Hut zu sein und nicht zu nah an den Garnituren vorbeizugehen. Das Möbelgeschäft blieb mir ein Rätsel. Es konnte unmöglich Menschen geben, die Geld dafür bezahlten, diese Sachen anzufassen und mit nach Hause zu nehmen. Der tägliche Weg durch die vom Möbelladen dominierte Passage begründete in mir eine tiefsitzende Abneigung gegen Trödelläden und Flohmärkte und deren Geruch und ungerechterweise auch gegen die am Möbelladen völlig schuldlose Band ZZ Top.

Im Jahr 1908 lässt der Kaufmann Paul Dädlich auf einem schmalen Grundstück zwischen Karl-Marx- und Richardstraße das «Rixdorfer Gesellschaftshaus» als Ladenpassage und Amüsierzentrum mit Filmtheater und Ballsaal errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgen Leerstand und Zwischennutzung. 1985 beginnt die Yorck-Kino-Gruppe mit der Restaurierung der alten Kinosäle. Nachdem der ehemalige Ballsaal 1988 bereits vom Musiktheater «Neuköllner Oper» bezogen worden war, eröffnete am 13. September 1989 das neue Passage-Kino.

Unter den Linden

Die Straße war voller Trümmer gewesen, als Oma im Sommer nach Kriegsende mit den ersten sechs von später acht Kindern nach Neukölln zurückkehrte. In der Straßenmitte gab es immerhin einen freigeräumten Trampelpfad. Sie waren gekommen, ohne überhaupt zu wissen, ob das Haus noch stand. Das Gebäude war in Ordnung, aber in der Zweizimmerwohnung hatte man eine fremde Frau einquartiert, deren Haus nicht mehr in Ordnung war, eine Metzgerin namens Frau Gut. Sie schlief fortan im Wohnzimmer, die Oma mit den Kindern im Schlafzimmer. Wo ihre Männer abgeblieben waren, wussten sie beide nicht. Frau Gut wohnte bei ihnen, bis sie endlich eine eigene Bleibe gefunden hatte und die Familie ihr zweites Zimmer wieder selber beziehen konnte.

Ein paar warme Sommerwochen lang hatten sie ihre beiden Zimmer für sich. Dann, an einem Tag im August, an dem sich die Kinder schon wahnsinnig auf das große Weißbrot freuten, das meine Oma aus dem frisch erstandenen Mehl backen wollte, klingelte es an der Tür, und draußen stand die halbe aus Ostpreußen geflüchtete Verwandtschaft. Sieben Frauen und drei Kinder. Sie waren sehr erschöpft, hatten vorläufig keine Unterkunft und großen Hunger. Und die Krätze.

Immerhin konnten einige von ihnen professionell schneidern, und so wurden aus überflüssig gewordenen Textilien diverse Kleidungsstücke improvisiert. Die kleine Gitte bekam zum Beispiel ein sehr schickes, aber übel kratzendes Kleid aus einer alten Soldatenuniform, und nachdem von der endlich überflüssig gewordenen Hakenkreuzflagge das aufgenähte Hakenkreuz abgetrennt war, wurde daraus ein schönes rotes Sommerkleid für Renate.

Kurz vor Weihnachten rappelte der Briefschlitz, und auf die Dielen im Flur fiel eine Postkarte aus Frankreich. Sie war vom Opa, aus französischer Kriegsgefangenschaft. «La Schapelle», las Oma vor mit ihren schon damals nicht so guten Augen. Opa schrieb, es gehe ihm gut und er werde bald wieder da sein. Die Postkarte wurde an die Spitze des Weihnachtsbaums gesteckt, was ein sehr angemessener Ort war, denn Weihnachtsbäume waren Opas große Leidenschaft.

Von Beruf war er Tischler und an der Staatsoper Unter den Linden angestellt, wo es zu seinen saisonalen Aufgaben gehörte, den großen Weihnachtsbaum im Opernfoyer zu schmücken. Immer in der Adventszeit beschaffte er die riesige Tanne für die Treppenhalle und richtete sie weihnachtlich her, auch in jenen Jahren, als die nationalsozialistische Partei die Macht übernommen hatte und das Haus gern zum Repräsentieren nutzte. Hermann Göring, der zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt gerade den eigens für ihn ausgedachten Titel «Reichsmarschall» trug, ordnete an einem Tag im Advent an, der Weihnachtsbaumschmücker der Staatsoper möge auch in seinem Heim den Baum beschmücken. Göring wohnte außerhalb von Berlin, in der Schorfheide, auf einem, wie man munkelte, übertrieben großen Anwesen, das er nach seiner verstorbenen Frau Carin «Carinhall» genannt hatte. Und so setzte Opa sich in die S-Bahn, fuhr da raus und dekorierte den Baum von Hermann und seiner aktuellen Frau Emmy Göring. Der zur Verfügung gestellte Baumschmuck war vermutlich der Ausstattung des Opernbaumes nachempfunden, von bunten Hakenkreuzanhängern aus Blech oder ähnlichen Kuriositäten hat Opa jedenfalls hinterher nichts berichtet.

Nun war also wieder Weihnachten, und Opa war nicht da, um den Baum zu schmücken; nur seine Postkarte aus La Chapelle hing daran. Es dauerte noch genau ein Jahr, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte. Pünktlich zum Weihnachtsfest 1946 kam er mit einem Zug aus Frankreich und schmückte den Baum, zu Hause in Neukölln und an der Staatsoper Unter den Linden.

Neukölln und Unter den Linden befanden sich nun allerdings in politisch und wirtschaftlich auseinanderdriftenden Gebieten. Der Arbeitsplatz im Bezirk Mitte gehörte zum sowjetischen, der Neuköllner Wohnort zum amerikanischen Sektor der Stadt. Nachdem Nahrungsmittel lange Zeit nur auf Bezugsschein zu haben waren und alles andere auf dem Schwarzmarkt getauscht wurde, gab es im Sommer des Jahres 1948 endlich neues, stabiles Geld, die D-Mark. Im Sowjetsektor hatten sie die schöne D-Mark aber nicht. Da hatten sie jetzt eine andere Mark, und in dieser Mark bekam Opa sein Gehalt ausgezahlt – mit dem die Oma zu Hause in Neukölln nichts kaufen konnte. Die Kinder wurden zum Einkaufen bis in die sowjetische Zone nach Treptow geschickt. Das war nicht mal eben um die Ecke, sondern ein weiter Weg, vor allem retour, mit vollen Einkaufstaschen.

Opas Anstellung als Bühnentischler an der Oper hatte aber ohnehin bald ein Ende, denn allen Angestellten mit Wohnsitz in West-Berlin wurde alsbald gekündigt. In einem Schreiben teilte man ihnen mit, dass «die Provokationen des kapitalistischen Adenauer-Regimes» diesen Schritt leider unausweichlich machten.

Natürlich hatte zu diesem Zeitpunkt niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten.

1743 wird auf dem Prachtboulevard Unter den Linden die Königliche Hofoper fertig gestellt, der Architekt ist Wenzeslaus von Knobelsdorff. Genau einhundert Jahre später brennt das Gebäude vollständig nieder und wird im Jahr darauf, 1844, als Neubau wieder eröffnet. Nach dem Ende der Monarchie erhält das Haus den Namen «Staatsoper Unter den Linden». Im Zweiten Weltkrieg wird es durch Bomben zerstört; 1941 beginnt der Wiederaufbau. Seit 2010 wird die Staatsoper umfangreich saniert, für die Aufführungen wird vorübergehend das Schillertheater in Charlottenburg genutzt.

Kolonie Alpental

Als Kind blieb ich manchmal eine ganze Woche bei den Großeltern, weil meine Eltern verreist waren. Ich schlief mit der Oma im großen Bett, Opa übernachtete im Wohnzimmer. Im Winter stand Oma sehr früh auf, heizte die Öfen an und legte sich dann wieder hin. Abends wurde ferngesehen.

Im Sommer goss Oma die Geranien auf dem Balkon, und wir fuhren zusammen in den Schrebergarten nach Britz. Britz ist offiziell ein Unterbezirk von Neukölln, der mit dem bekannteren Kiez aber keinerlei Ähnlichkeit aufweist. In Britz lebt man grün und beschaulich, und die Straßen tragen Namen wie Onkel-Bräsig-Straße, Trappenpfad oder Möwenweg. Der Garten gehörte zur Laubenkolonie «Alpental», die am Rande eines Industriegebiets lag, direkt an der Grenze. Ich wunderte mich nicht darüber, dass eine völlig plane Berliner Gartenkolonie in Mauernähe «Alpental» hieß.

Der Weg vom U-Bahnhof Blaschkoallee zur Gartenkolonie war lang für ein Kind, das ohnehin nicht gern lief, dazu staubig und öde. Rechts des Weges lagen Brachen hinter Backsteinmauern, links eine weitgehend unbefahrene Straße mit kaputtem Kopfsteinpflaster und dahinter irgendwelche Lagerhallen für Bretter. Schließlich, nachdem man das Tor zur Kolonie passiert hatte, ging es an einer Reihe von anderen Gärten vorbei. Gärten mit adretten braunen Holzhäuschen, wie man sie in den echten Alpen findet, zum Teil sogar mit Hirschgeweihen dran. Davor jeweils sehr gepflegter Rasen, Tannenbäume, Blumenbeete, plätschernde kleine Brunnenanlagen, Zwerge.

Unsere Parzelle war nicht so. Der Rasen war viel zertrampelter und voller Gänseblümchen und Löwenzahn, und manchmal lagen mengenweise zermatschte Kirschen darauf herum. Der Gesamteindruck war irgendwie uneinheitlich. Mein Opa pflanzte willkürlich hier mal eine Rose und dort eine Tulpe, es gab keine Figuren, Brunnen oder Geweihe, und die Laube war nicht aus Holz, sondern grau verputzt mit einem Vordach aus gelblichem Wellplastik, auch «Berliner Welle» genannt. Die Pächter der anderen, adretteren Anlagen waren vom wochenendlichen Remmidemmi in unserer Parzelle nicht begeistert.

Es war phantastisch. An warmen Tagen wurde das Planschbecken aufgepustet, alle, die kamen, brachten ein paar Snacks mit, und Oma hatte mehrere Bleche voll Streuselkuchen gebacken. Der Tisch und die Liegestühle wurden aus der Laube geholt und unter den Apfelbaum gestellt. Ich drehte mich an einer Hand um die Eisenstange, die das Vordach der Laube stützte, bis meine Handfläche ganz heiß wurde und nach Eisen roch.

Opa hatte einen Herzschrittmacher, und Oma hatte Zucker und schlechte Augen. Wenn sie den Kuchen auf den Tisch stellte, sagte sie: «Nehmt euch! Ich darf ja nicht», und wenn man ihr etwas zeigen wollte: «Ich kann ja nicht sehen.»