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Inhalt
Intro
Monumentaler Größenwahn
Überflug in Bodenhöhe
Rasender Stillstand – zehn Jahre Plaza de Mayo
Borges, das Aleph und der Glamour
Recoleta – das Paris des Südens
Urbane Wildnis – Reise im Colectivo
Überlebensstrategien
Migration schafft Lebensart
Anarchie im Alltag – das jüdische Viertel Once
Dreißig Jahre Underground
Milonga – nächtliche Runde
Skalpell und Seelenhei
Kunst, Kommerz und Neocriollo
Fusionsfisch oder Sauerkraut?
Kultur in der Pralinenschachtel
Schlachtfeld Dinnertable
Intro
Um ein Uhr früh ist der Abend noch nicht Nacht. Die Bars sind voll, die Restaurants noch, die Clubs bereits geöffnet: In Buenos Aires schlägt die letzte Stunde urbaner Mobilität. Der Verkehr auf den Avenidas schwillt noch einmal an, Linienbusse drängeln Richtung Zentrum, Taxis laden die nächste Fuhre. Vor Clubs wie dem Niceto, Crobar oder Pacha bilden sich lange Schlangen, die Jugend wartet auf Einlass. Ich suche mein Auto. Schließlich entdecke ich unweit des Platzes, wo ich drei Stunden vorher korrekt auf der rechten Straßenseite geparkt habe, in der Gosse eine rote Drucksache mit der Adresse des Sammelplatzes für Abschleppdienste. Ich winke einem Taxi, nenne die Anschrift im Niemandsland zwischen den Avenidas Alcorta und Libertador, bemühe mich, meinen Ärger herunterzuschlucken. Abgeschleppt zu werden ist nicht teuer in Buenos Aires, knapp sechzig Pesos, nicht einmal fünfzehn Euro. Plus Taxi und vergeudete Zeit.
Auf dem gut beleuchteten Parkplatz erkenne ich unter einem halben Hundert anderer Opfer polizeilicher Willkür meinen Wagen; jetzt gilt es zu zahlen. Ein Uniformierter weist mich zu einem Container zwecks Übergabe des Lösegelds. Vor dem Schalter des diensthabenden Beamten warten zwei Damen, elegant, distinguiert, fehl am Platz. Blonde Haare, Kostüm von Chanel, rote Jacke über schwarzweißkariertem Rock. Vivienne Westwoods schweres Parfum Boudoir erfüllt den Raum; der Duft gehört einer rauchigen Stimme, die mit drohendem Unterton persönliche Bekannte in nächster Umgebung von Staatspräsident Kirchner aufzählt. Das hier sei städtisches Territorium, wimmelt der Kassierer trocken ab und verweist auf die Rechnung. Mastercard und Visa sind willkommen.
Empört wendet sich die Kreditkartenbesitzerin mir zu, um moralische Unterstützung heischend. Eine Unverschämtheit, sie verpasse wichtige Termine. Nächtliche Termine? Sie verzieht keine Miene – könnte sie auch nicht. Unter der blonden Mähne ein überproportionierter Mund, volle Lippen dank Eigenfettinjektion, botoxglatte Stirn, die Augenwinkel zum Katzenblick schräg in die Höhe geliftet. Mindestens siebzig ist sie – oder: er? Eine runzlige Hand unterschreibt den Kartenbeleg, zitternd vor Wut. Der Beamte überlässt ihr eine Durchschrift, nennt die Nummer des Stellplatzes. Mit tiefer Stimme mischt sich die Freundin ein: Ob er wisse, was denn das nun bedeute, allein und auf hohen Absätzen in die dunkle Nacht? Auf diesen gefährlichen Abstellplatz? Und was ist mit Parkservice?
Monumentaler Größenwahn
Arroganz ist das Privileg der Unvollkommenen. Perfekte Schönheit kann sich lässige Freundlichkeit erlauben, manchmal sogar die Offenheit, dem Reisenden die Arme zum Willkommen auszubreiten: Städte wie Rom, Rio, Prag oder Florenz winken ihren Besuchern einladend zu. Buenos Aires dagegen wirkt erst einmal eingebildet, sogar abweisend – zu breite Straßen, zu gerade Linien, zu rechte Winkel. Aus der Luft verspricht strenges Schachbrettmuster koloniale Ordnung, vielspuriger Autoverkehr einen Albtraum für Fußgänger, kilometerlange Grünstreifen gepflegte Langeweile. Doch in Bodenhöhe schmilzt die aristokratische Grandezza – aus der Vogelperspektive hochnäsig wirkende Geometrie zerfällt in viele Facetten, in Schönheit und Flickwerk, Luxus und Überlebenskampf.
Buenos Aires ist eine Promenadenmischung, eine seltsame Verbindung von Konzept und Mimikry. Aus der Ferne wirkt es wie ein großer Wurf der Moderne, im Nahkampf überrascht das Chaos kultureller Kakophonie. Der Reichtum dieser Stadt liegt in der Vielfalt ihrer Einzelteile. Zu über achtzig Prozent mögen die Einwohner Nachfahren europäischer Einwanderer sein, aber was von oben geschlossen europäisch scheint, ist in Wirklichkeit ein Mosaik von Nationen, Regionen, Traditionen, Religionen. Ein Mikrokosmos jagt den anderen: Spanisches, sizilianisches, kalabrisches, genuesisches, jüdisches, englisches, nordgriechisches, armenisches, bayrisches oder pariserisches Ambiente wechseln ab. Flanieren im Gleichschritt ist hier unmöglich, man tanzt urbanen Tango, Chaos und Schönheit ergänzen sich im Wechselschritt.
Straßen, Häuser, selbst die Gesichter der Passanten ändern sich mit jeder Kreuzung. Kein Viertel gleicht dem anderen. Ein Stadtteil wie Palermo, von lässiger Eleganz, brodelnd vor Leben, zerfällt in das junge Alt-, das reiche Klein-, das modische Soho- und das künstliche Hollywood-Palermo, wo sich neben Film- und Fernsehfirmen durchgestylte Bars und Boutiquen eingenistet haben. Im Gegensatz dazu kommt das benachbarte Colegiales ohne Parks und Zeitgeist aus; es ist stolz auf seine Flohmärkte und strotzt vor spießigen Einfamilienhäusern, kleinen Läden, Eckkneipen, Parrillas genannten Fleischrestaurants. Hier arbeiten die Filmproduzenten nicht, hier wohnen sie.
Dann folgt im Norden Belgrano, ein Traditionsviertel mit gepflasterten Platanenalleen, luxuriösen Wohntürmen und phantasievollen Villen, deren Architektur abwechselnd an Marbella, London, Miami und den Schwarzwald erinnert. In der entgegengesetzten Richtung, im südöstlichen San Telmo, dem historischen Schauplatz erster Besiedelung, wechseln sich Künstlerkneipen, Theater und Antiquitätenläden ab mit heruntergekommenen Herrschaftshäusern aus dem späten achtzehnten Jahrhundert. La Boca, dessen Hafen einst das frische Blut vor allem aus Genua kommender italienischer Einwanderer ausspuckte, ist bis auf den Caminito – eine Touristenmeile mit farbigen Hausfassaden, müden Straßenmusikern und schlechten Tangokneipen – eine Armensiedlung, die nach Abwasser stinkt. Die südlichen Viertel Pompeya, Flores, Constitución ähneln noch am ehesten dem Bild, das man sich von Metropolen in Schwellenländern macht – Ameisengewimmel, Straßenhandel, Völkervielfalt, ins Auge stechende Bedürftigkeiten.
Buenos Aires lebt von der Vielfalt der Identitäten, Stile, Kulturen. Bestes Beispiel: Barrio Norte mit dem eleganten Recoleta, auch »Paris des Südens« getauft, benannt nach einem Kloster des Franziskaner-Ordens. Ein Viertel mit altem Geld und kultivierten Neureichen, mit Luxushotels und Literatencafés. Es ist Heimat der Lebenden, Toten und Unsterblichen. Im Schatten mächtiger Gummibäume beschwören Touristen in der Avenida Quintana den Geist eines Jorge Luis Borges, den sie wahrscheinlich nie gelesen haben. Ehemalige Privatresidenzen mit 120 Zimmern und mehr dienen heute Frankreich, Brasilien oder Großbritannien als Botschaft. Das eigentliche Reich der Toten und Unsterblichen aber ist der Friedhof Recoleta, auf dem niemand Geringeres liegt als Evita, María Eva Duarte de Perón, Frau eines gewählten Diktators, der sich in Größenwahn und Eitelkeit als Mussolini Südamerikas verstand, aber im Gegensatz zum Duce ein gewaltloses Ende fand. Seine Evita war eine mit Diamanten behängte Fee der Armen, mit 33 Jahren im Christusalter verstorbene Ikone eines autoritären Populismus, der bis heute das Land beherrscht.
Der Peronismus steht schon lange nicht mehr für gerechtere Verteilung von Wohlstand, sondern für ein halbes Jahrhundert korrupter Politik und falscher Versprechen. Überall trägt Buenos Aires die Narben dieser politischen Inzucht. Über der elegantesten und arrogantesten Metropole Südamerikas hängt eine Wolke enttäuschter Hoffnung und unerfüllter Sehnsucht. Trotzdem trägt die Stadt den Kopf hoch, unbeirrt an die eigene Größe glaubend. Nirgendwo sonst wird der Lauf der Zeit so eigenwillig auf das Morgen verkürzt – Buenos Aires lebt und überlebt im Glauben an seine Zukunft.
Das schafft Auftrieb, immer wieder, und macht das Heute intensiv, in guten wie in schlechten Zeiten. Und im Augenblick herrschen gute Zeiten: Nach Militärdiktatur in den Siebzigern, Hyperinflation in den Achtzigern und neoliberalem Ausverkauf in den Neunzigern, nach dem weltweit beispiellosen Bankrott einer ganzen Nation zur Jahrtausendwende läuft die Stadt heute nur noch im Vorwärtsgang: Bruttosozialprodukt, Mindestlohn und Konsum steigen zweistellig, die Inflation bleibt gebremst, die Zahl der Armen und Arbeitslosen sinkt. Die Touristen strömen, sogar ein Teil der argentinischen Schulden ist getilgt, allerdings einseitig, ohne Einverständnis der Gläubiger. Nur Weltmeister ist man nicht geworden. Doch gerade im Fußball gibt es immer ein Morgen.
Zum Optimismus gehört der Selbstbetrug. Schon immer stapelt der Porteño gern hoch, hält sich für besser als seine Nachbarn, blickt lieber aufs Wasser als auf die Pampa, das argentinische Binnenland mit seinem unendlichen Horizont, der tausend Kilometer lang von keiner Kuppe gestört wird. Deshalb ist die ideale Art der ersten Annäherung an Buenos Aires der See-, nicht der Land- oder Luftweg. Wobei die angebliche See keine ist, schmutzbraune Fluten verraten den Fluss, selbst wenn er bis zu 200 Kilometer breit ist. Aus den Wassern des vermeintlichen »süßen Meeres«, wie der portugiesische Entdecker Juan Díaz de Solís 1516 die Mündung des Río de la Plata, des Silberflusses, nannte, erheben sich vor dem Auge des Ankömmlings Dutzende von Hochhäusern: moderne und postmoderne, alte und neue, steinerne und gläserne, kühne und biedere, fertige und unfertige. Alle haben sie zwanzig Etagen und mehr und sind trotzdem elegant, geschmackvoll und durchgestylt.
Buenos Aires mag keinen gotischen Dom und keine barocke Kathedrale haben, dafür gibt es die Türme, dem Gott des Geldes geweihte Stelen des Wohlstands. Nicht unregelmäßig gestreut wie in São Paulo, sondern geometrisch gesetzt, zeichnen sie mit System und Geschmack klare Linien, markieren Finanzzentren, Büroviertel, vor allem aber elegante Wohngegenden. Wer etwas auf sich hält, wohnt und arbeitet im fünfzehnten Stock und darüber, mit Blick auf den Río de la Plata. So scheint Buenos Aires auf den ersten Blick auch nach achtzig Jahren noch dem großen Le Corbusier recht zu geben, der bei seinem ersten Besuch 1929 über eine »Stadt im Irrtum« murrte, »die keinen neuen Geist besitzt und keinen alten«. Weil sie vertikal anstatt horizontal wachse, sich nach Europa recke und deshalb in Amerika nie wirklich angekommen sei.
Aber natürlich hatte Corbu unrecht, vielleicht war er auch nur verärgert, weil die Porteños – im Gegensatz zu den Brasilianern oder Indern – seine Sozialwohnungen für Schwellenländer ablehnten. Er scheiterte, wie nach ihm Investoren, Weltbanker, Sozialhelfer und andere Besserwisser, am Charakter einer Stadt, die längst ihren eigenen Geist entwickelt hatte. Buenos Aires will weder Neue noch Alte Welt sein, es will einzigartig sein, nicht amerikanisch und nicht europäisch, einfach anders. Mit Sicherheit aber besser und schöner und auf jeden Fall größer.
Deshalb thront mitten in der Stadt ein 67 Meter hoher Obelisk, als wären wir auf den Champs-Elysées und nicht auf der Avenida 9 de Julio. Wie kommt er dahin? Napoleon kann es kaum gewesen sein, ägyptisch ist auch nichts an diesem Ausrufezeichen, das kein massiver Stein, sondern hohles Mauerwerk ist, errichtet 1936 zum vierhundertsten Geburtstag der Stadt. In acht Spuren brausen die Autos auf diesen Obelisken zu, der keiner ist, auf weiteren acht lassen sie ihn links liegen – Weltrekord für eine innerstädtische Promenade. Auch das gleich nebenan liegende, 1908 eingeweihte Opernhaus Colón begnügt sich nicht damit, die größte Oper Südamerikas zu sein; es will sich auch der besten Akustik und der berühmtesten Sänger rühmen können. Erst der Wirtschaftskollaps 2001 beendete diesen Höhenflug: Zum ersten Mal in seiner Geschichte konnte es sich Buenos Aires nicht mehr leisten, über seine Verhältnisse zu leben. Doch es arbeitet wieder dran – zum hundertsten Geburtstag strahlt das Colón runderneuert: Bestuhlung, Bühnentechnik und Besetzung, alles ist wieder vom Feinsten.
Die Selbstbescheidung ist längst Geschichte; an Buenos Aires ist wieder alles so großzügig, gewaltig, überwältigend, dass jeder Besucher sich erst einmal klein fühlen muss. Das gilt auch für das Herz der Bewohner – zu groß, um wahr zu sein. Buenos Aires ist eine Stadt des Mitgefühls; nicht der Gewalt, wie Rio, des ängstlichen Wegschauens, wie Lima, oder der sozialen Kluft, wie Mexiko-Stadt. Kein Gruß ohne Frage nach dem Wohlergehen, kein Einkauf ohne Schwätzchen. Fragen nach dem Weg werden willig und mit Zeit beantwortet, Duzen ist Pflicht, Lakonik gilt als Beleidigung. Der Polizist begrüßt die Autofahrerin mit Küsschen, ehe er das Strafmandat wieder einsteckt. Zeitungshändler geben auch Fremden Kredit, Taxifahrer runden grundsätzlich nach unten ab. Mag die Großherzigkeit manchmal mit einem Schuss Flunkern angereichert und die Viveza criolla, das argentinische Mogeln, weiter Nationalsport sein – alles Kleine bleibt verpönt in dieser Stadt. Besonders der Kleingeist.
Vierzehn Millionen Einwohner im urbanen Ballungsgebiet, das sind mehr als ein Drittel aller Argentinier. Die stolz sind auf ihre Capital, die Hauptstadt, auf die größte Avenida, den breitesten Fluss, die schönsten Frauen, den besten Fußball. Da ist es egal, wenn die Porteñas mit Chirurgie beim Altern mogeln und Maradona beim Toreschießen die Hand Gottes zu Hilfe nimmt. Dass trotz dieses Stolzes das Selbstbewusstsein seine Grenzen hat, dafür sorgen die Psychotherapeuten. Allein im Stadtviertel Villa Freud gibt es von ihnen mehr als in jeder anderen Stadt der Welt. Doch mag niemand, weder Psychiater noch Politiker, die manchmal sympathische, manchmal lachhafte Krankheit beim Namen nennen, die Buenos Aires am Leben hält – den Größenwahn. Ohne Größenwahn kein Glauben an morgen.