Sehr geehrter Herr M.

Inhaltsverzeichnis

Wer sich oder andere in einer oder mehreren Figuren dieses Buches zu erkennen meint, hat wahrscheinlich recht.

Amsterdam ist eine existierende Stadt in den Niederlanden.

Cootje Koch-Lap

(1914–1971)

 

Herman Koch

(1903–1978)

right. Pull the left one [throttle] back.

COPILOT: Pull the left one back.

Approach: At the end of the runway it’s just

wide-open field.

COCKPIT UNIDENTIFIED VOICE: Left throttle, left, left, left left …

COCKPIT UNIDENTIFIED VOICE: God!

Cabin: [Sound of impact]

Malcolm MacPherson
The Black Box

Sehr geehrter Herr M.,

 

als Erstes möchte ich Ihnen mitteilen, dass es mir inzwischen besser geht. Das tue ich, weil Sie wahrscheinlich gar nicht wissen, dass es mir jemals schlecht gegangen ist. Sehr schlecht sogar, aber darauf komme ich später noch zurück.

In Ihren Büchern beschreiben Sie häufig Gesichter, aber versuchen Sie doch mal, meines zu beschreiben. Unten an der gemeinsamen Haustür oder im Aufzug nicken Sie mir höflich zu, aber auf der Straße oder im Supermarkt und gerade noch vor ein paar Tagen, als Sie mit Ihrer Frau im Restaurant La B. saßen, gaben Sie kein einziges Zeichen, dass Sie mich kennen.

Ich kann mir vorstellen, dass der Blick des Schriftstellers die meiste Zeit nach innen gerichtet ist, aber versuchen Sie dann auch nicht, in Ihren Büchern Gesichter zu beschreiben. Obwohl Beschreibungen von Gesichtern, genauso wie Landschaftsbeschreibungen, etwas ziemlich Veraltetes haben – von daher passt das natürlich zu Ihnen. Auch Sie sind ziemlich veraltet, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, und ich meine das nicht nur hinsichtlich Ihres Alters – ein Mensch kann alt sein und doch noch lange nicht veraltet – Sie aber sind beides: alt und veraltet.

Sie saßen mit Ihrer Frau an dem Fenstertisch. Wie immer. Ich saß an der Bar – auch wie immer. Als ich gerade einen

Frauen haben ein besseres Gedächtnis für Gesichter. Besonders für Gesichter von Männern. Frauen brauchen Gesichter nicht zu beschreiben, sie müssen sie nur behalten. Sie erkennen mit einem Blick, ob es ein starkes oder ein schwaches Gesicht ist; ob sie sich auch nur im Entferntesten vorstellen können, von diesem Gesicht ein Kind auszutragen. Frauen wachen über der Qualität der Spezies. Auch Ihre Frau hat Sie einmal so angesehen und entschieden, Ihr Gesicht sei stark genug – es bringe die Spezies nicht in Gefahr.

Dass Ihre Frau bereit war, ein Kind von Ihnen auszutragen, das aller Wahrscheinlichkeit nach zur Hälfte Ihre Gesichtszüge tragen würde, müssen Sie als Kompliment auffassen. Vielleicht sogar als das größte Kompliment, das eine Frau einem Mann machen kann.

 

Ja, es geht mir besser. Als ich heute Morgen sah, wie Sie ihr mit dem Gepäck ins Taxi halfen, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie haben eine hübsche Frau. Hübsch und jung. Über den Altersunterschied maße ich mir kein Urteil an. Ein Schriftsteller braucht eine hübsche, junge Frau. Oder besser gesagt, ein Schriftsteller hat Anspruch auf eine hübsche, junge Frau.

Ein Schriftsteller muss natürlich gar nichts. Er muss Bücher schreiben. Aber eine hübsche, junge Frau kann ihm dabei schon behilflich sein. Vor allem, wenn es eine Frau ist, die ihre eigenen Wünsche ganz zurückstellt. Die wie eine Henne auf seinem Talent hockt und es ausbrütet und alle verjagt, die dem Nest zu nahe kommen. Die auf Zehenspitzen durchs Haus geht, wenn er in seinem Arbeitszimmer sitzt, und ihm

Als ich heute Morgen Ihnen und Ihrer Frau vom Balkon aus zusah, musste ich an diese Dinge denken. Ich studierte Ihre Bewegungen, als Sie ihr die Wagentür aufhielten: galant wie immer, aber auch wie immer viel zu betont, wie einstudiert, so steif und ungelenk; manchmal ist es, als stünde Ihr eigener Körper Ihnen im Wege. Tanzschritte kann jeder lernen, aber nicht jeder kann auch wirklich tanzen. Heute Morgen war der Altersunterschied zwischen Ihnen und Ihrer Frau nur in Lichtjahren auszudrücken. In ihrer Gegenwart erinnern Sie mich manchmal an die Reproduktion eines alten, von Krakelüre überzogenen Gemäldes aus dem siebzehnten Jahrhundert neben einer sonnenüberfluteten Landschaft auf einer Ansichtskarte.

Ich beobachtete allerdings vor allem Ihre Frau. Und wieder sah ich, wie hübsch sie ist! In ihren weißen Turnschuhen, ihrem weißen T-Shirt und ihren blauen Jeans tanzte sie nur für mich den Tanz, für den Sie in solchen Augenblicken kein Auge zu haben scheinen. Ich sah ihre ins Haar geschobene Sonnenbrille – die Haare hatte sie mit Spangen hinters Ohr gesteckt –, und aus allem, aus all ihren Bewegungen sprach die freudige Erregung der Reiselust, was sie noch hübscher machte, als sie ohnehin schon ist.

Es war, als hätte sie in der Wahl ihrer Kleidung und in jeder ihrer Gesten das Reiseziel schon vorweggenommen. Und wie ich ihr vom Balkon aus so zusah, spiegelte sich in ihrer Erscheinung einen winzigen Augenblick lang der gleißend

Wie lange bleibt sie weg? Eine Woche? Zwei Wochen? Es spielt keine Rolle. Sie sind allein, das ist die Hauptsache. Eine Woche müsste reichen.

Ja, ich habe etwas mit Ihnen vor, Herr M. Sie meinen vielleicht, Sie wären allein, aber ab heute bin ich da. In gewissem Sinn bin ich natürlich schon immer da gewesen, aber jetzt erst recht. Ich bin da und gehe vorläufig auch nicht wieder weg.

Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht – Ihre erste Nacht allein. Ich mache jetzt die Lichter aus, aber ich bleibe bei Ihnen.

Heute Morgen war ich im Buchladen. Es liegt immer noch neben der Kasse, aber das wussten Sie wahrscheinlich schon. Sie gehören vermutlich zu den Schriftstellern, die in einem Buchladen immer als Erstes nachschauen, wie viel Zentimeter von ihrem Werk im Regal stehen. Wahrscheinlich scheuen Sie sich auch nicht, den Buchhändler zu fragen, wie es so läuft. Oder sind Sie in den letzten Jahren doch etwas zurückhaltender geworden?

Auf jeden Fall liegt Ihr Buch in einem hohen Stapel neben der Kasse. Ein Mann hatte gerade ein Exemplar heruntergenommen und wendete es in den Händen hin und her, als könnte man die Qualität am Gewicht ablesen. Ich musste mich beherrschen, ihm nicht zuzurufen: »Legen Sie das wieder hin, es taugt nichts.« Oder: »Das kann ich Ihnen sehr empfehlen, es ist ein Meisterwerk.«

Aber da ich mich zwischen diesen beiden Extremen nicht entscheiden konnte, sagte ich lieber gar nichts. Wahrscheinlich lag es an dem turmhohen Stapel, der eigentlich für sich sprach. Denn alles, was in hohen Stapeln neben einer Kasse liegt, ist ein Meisterwerk. Oder eben das Gegenteil – es gibt nichts dazwischen.

Während der Mann mit Ihrem Buch in der Hand so dastand, sah ich wieder flüchtig Ihr Foto auf der Rückseite. Ich war immer der Auffassung, dass der Blick, mit dem Sie die Welt

Übrigens habe ich Sie noch gar nicht gefragt, wie Sie heute Nacht geschlafen haben. Und was Sie mit dem plötzlich frei gewordenen Platz neben sich gemacht haben. Bleiben Sie auf Ihrer Seite liegen, oder haben Sie sich etwas mehr in die Mitte des Bettes geschoben?

Gestern Abend hatten Sie eine CD eingelegt, die Sie nie hören, wenn Ihre Frau da ist. Ich hörte Sie in der Wohnung umhergehen, als wollten Sie sich vergewissern, dass Sie wirklich allein waren – alle Fenster rissen Sie auf, auch die Balkontüren. Wollten Sie etwas verjagen oder austreiben? Etwa den Geruch Ihrer Frau? Während Verliebte die Nase in ein Kleidungsstück der abwesenden Geliebten stecken, reißen Menschen, bei denen die Liebe erloschen ist, die Fenster auf, so wie man einen alten Anzug, der zu lange in der Mottenkiste gelegen hat, lüftet, obwohl man weiß, dass man ihn nie mehr tragen wird.

Sie standen auf dem Balkon und sangen mit. Es ist nun nicht gerade die Art Musik, für die ich mich erwärmen kann, andererseits verstehe ich, dass jemand, der diese Art Musik mag, solche Bücher schreibt wie Sie. Sie hatten die Musik übrigens ganz schön laut aufgedreht, an der Grenze zur Ruhestörung. Aber in diesen Dingen bin ich nicht kleinlich. An Ihrem ersten Abend alleine wollte ich kein Spielverderber sein.

Warum haben Sie sich damals eigentlich nicht getraut, selbst herunterzukommen und sich bei mir wegen der zu lauten Musik zu beschweren? Warum haben Sie Ihre Frau geschickt?

Ich bat sie hereinzukommen, doch weiter als bis in die Diele wollte sie nicht. Aber sie sah sich doch rasch verstohlen in meiner Wohnung um. Ich betrachtete ihr Gesicht und roch etwas – einen Geruch, von dem ich nicht wollte, dass er gleich wieder verschwand.

Als ich Stunden später ins Bett ging, hing dieser Geruch immer noch in der Diele. Ich blieb so lange in der Dunkelheit stehen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Jedenfalls riss ich weder Türen noch Fenster auf, um ihn zu vertreiben. Ich wartete geduldig, bis er es selbst an der Zeit fand, sich zu verziehen.

Natürlich ist sie heute nicht mehr das Mädchen, das sie war, als sie Sie damals für die Schülerzeitung interviewte, das konnte ich an dem Abend wieder einmal aus nächster Nähe feststellen. Wie drückten Sie es so treffend aus? »Eines Tages kam sie mit einem Notizblock unter dem Arm und einer langen Liste mit Fragen zu mir, und im Grunde sind die noch lange nicht alle abgehakt.«

Was war wohl ihre erste Frage? »Warum schreiben Sie?« Eine typische Frage von Schulmädchen. Und was haben Sie geantwortet? Wie würden Sie heute diese Frage beantworten?

Bei Tisch sind Sie ziemlich einsilbig. Nicht als ob ich etwas verstehen könnte, wenn geredet würde, aber Stimmen dringen doch leicht durch die Decke. Ich kann sogar das Klappern des Bestecks hören und im Sommer, wenn Sie die Fenster offen haben, das Nachschenken des Weins.

Während Sie das Essen kauen, sind Sie in Gedanken noch in Ihrem Arbeitszimmer. Reden können Sie mit Ihrer Frau nicht darüber. Sie würde es ohnehin nicht verstehen, sie ist schließlich eine Frau.

Daher herrscht bei Ihren Mahlzeiten tiefes Schweigen, das nur hin und wieder von einer Frage unterbrochen wird. Ich

Wenn ich keine Antwort höre, machen Sie eine Kopfbewegung, reden kann der Kopf nicht, er ist schließlich im Arbeitszimmer geblieben.

Später, nachdem Sie vom Tisch aufgestanden sind, räumt Ihre Frau ab und stellt die Gläser und Teller in die Spülmaschine. Danach begibt sie sich in das Zimmer zur Straße, wo sie bleibt, bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen.

Mir ist immer noch nicht klar, wie Ihre Frau diese Stunden verbringt. Liest sie? Schaut sie fern, so leise wie möglich oder ganz ohne Ton?

Oft stelle ich mir vor, dass sie einfach nur dasitzt – eine Frau in einem Sessel, ein Leben, das sich fortbewegt wie die Zeiger einer Wanduhr, an der nie jemand die Zeit abliest.

Es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ich inzwischen Musik aufgelegt habe. Ihre Art Musik ist es sicher nicht. Es ist jetzt so laut wie an dem Abend, als Ihre Frau herunterkam und mich bat, die Musik etwas leiser zu stellen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie nicht herunterkommen. Sie brauchen jemanden, den Sie schicken können, Sie machen solche Sachen nicht selbst. Deshalb habe ich die Musik noch etwas aufgedreht. Man könnte durchaus von Ruhestörung sprechen, würde ich sagen.

Ich habe keinen festen Plan. Es tut mir nur im Herzen weh, dass eine so hübsche, junge Frau an Ihnen hängen bleibt, in Ihrer Gesellschaft verwelkt.

Jetzt höre ich aber doch tatsächlich die Klingel, Sie sind resoluter, als ich dachte.

»Könnten Sie die Musik vielleicht etwas leiser stellen?«

Ich werde nicht versuchen, Ihr Gesicht zu beschreiben, das Beschreiben von Gesichtern überlasse ich gerne Ihnen.

»Aber natürlich«, sage ich.

Ich habe richtig geschätzt.

Morgen signieren Sie in der Buchhandlung, ich sah das Poster mit der Ankündigung im Schaufenster hängen. Wie viel Leute werden wohl kommen? Viele, wenige, gar keine? Manchmal besagen die hohen Stapel neben der Kasse gar nichts. Manchmal regnet es, manchmal scheint die Sonne.

»Es wird wohl am Wetter liegen«, sagt der Buchhändler, wenn gar keiner kommt.

Aber einer kommt auf jeden Fall. Ich.

Bis morgen.

Ich frage mich manchmal, wie sich das wohl anfühlt, Mittelmäßigkeit. Von innen, meine ich, für die mittelmäßige Person selbst. Inwieweit ist sie sich ihrer Mittelmäßigkeit bewusst? Fühlt sie sich in ihren mittelmäßigen Kopf eingesperrt, rüttelt sie an Türen und Fenstern, will sie rausgelassen werden? Doch weit und breit keiner, der sie hört?

So stelle ich es mir oft vor, wie einen bösen Traum; ein verzweifelter Hilfeschrei. Die mittelmäßige Intelligenz weiß, dass es die Außenwelt gibt. Sie riecht das Gras, sie hört das Rauschen des Windes in den Bäumen, sie sieht das Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfällt – aber sie weiß auch, dass sie dazu verdammt ist, ihr Leben lang drinnen zu bleiben.

Und wie geht sie mit dieser Erkenntnis um? Spricht sie sich Mut zu? Begreift sie, dass es nun mal Grenzen gibt, die sie nie überschreiten wird? Oder redet sie sich ein, alles sei halb so schlimm, schließlich habe sie doch am Morgen noch ohne nennenswerte Anstrengung das Kreuzworträtsel in der Zeitung gelöst?

Meiner Ansicht nach gibt es eine Faustregel, und die lautet, dass man Menschen mit überdurchschnittlicher Intelligenz daran erkennt, dass sie nie ein Wort darüber verlieren. Es ist so wie mit Millionären. Es gibt solche in Jeans und zerlöcherten Strickpullis, und solche in Autos mit offenem

Sie sind mehr der Cabrio-Typ. Auch bei Regen und Wind fahren Sie mit offenem Verdeck an den Straßencafés der Strandpromenade entlang. »Schon in der Vorschulklasse bin ich durch außergewöhnliche Intelligenz aufgefallen.« Es ist ein Thema, dem man (zu oft, bis zum Gehtnichtmehr) in Ihrem Werk und in Ihren Interviews immer wieder begegnet. »Mein IQ ist ein klein wenig höher als der Albert Einsteins.« Und so könnte ich noch eine Weile fortfahren – »Wenn man, wie ich, über eine Intelligenz verfügt, die sich bei kaum zwei Prozent der Bevölkerung findet …« –, doch warum sollte ich? Es gibt Frauen, die laut sagen, alle Männer würden sich nach ihnen umdrehen, und es gibt solche, die das nicht auszusprechen brauchen.

Eigentlich muss man Ihr Gesicht sehen, wenn Sie sich Ihrer Intelligenz brüsten. Ihr Gesicht und Ihren Blick. Es ist der Blick des Hasen, der die Entfernung bis zur anderen Seite der Autobahn falsch eingeschätzt hat – und zu spät einsieht, dass er den heranrasenden Scheinwerfern nicht mehr ausweichen kann. Kurzum: ein Blick, der selbst keine Sekunde an das glaubt, was er behauptet, und eine panische Angst hat, schon bei der ersten Fangfrage aufzufliegen.

Ein mittelmäßiger Schriftsteller ist zu lebenslanger Haft verurteilt. Er muss weitermachen. Den Beruf kann er nicht mehr wechseln, dafür ist es zu spät. Er muss weitermachen bis zum bitteren Ende. Bis der Tod ihn holt. Nur der Tod kann ihn aus seiner Mittelmäßigkeit erlösen.

Er ist ganz passabel, sagen wir über den mittelmäßigen Schriftsteller. Das ist für ihn das maximal Erreichbare, ganz passabel geschriebene Bücher zu produzieren. Man muss in der Tat mittelmäßig sein, um mit dieser Erkenntnis leben zu

 

Die Schlange in der Buchhandlung war gar nicht so kurz. Es hatte geregnet, dann kam die Sonne durch. Die Leute standen bis zur Tür, aber im Laden, nicht draußen. Für einen Bestsellerautor vielleicht etwas dürftig. Keine Schlange bis auf die Straße, bis um die nächste Ecke, nein, eine Schlange, wie sie zu erwarten war bei einem Schriftsteller, für den sich in den letzten zehn Jahren immer weniger Leute interessieren. Viele Frauen im vorgerückten Alter. Im weit vorgerückten Alter, muss ich wohl leider sagen – Frauen, denen niemand mehr hinterherschaut.

Ich nahm mir ein Exemplar von Befreiungsjahr vom Stapel und stellte mich hinten an. Vor mir stand ein Mann. Der einzige Mann außer mir. Man sah ihm an, dass er nicht aus freien Stücken hier war, sondern seine Frau begleitete, wie man als Mann mit seiner Frau zu IKEA geht. Am Anfang heuchelt er noch Interesse für ein elektrisch verstellbares Bett oder eine Kommode, doch schon bald atmet er schwerer und wirft immer verzweifeltere Blicke Richtung Kasse und Ausgang, wie ein Hund, der nach langer Autofahrt den Wald riecht.

Folglich war es auch seine Frau, die Ihr Buch in der Hand hielt, nicht er. Frauen haben mehr Zeit als Männer. Nach dem Staubsaugen schlagen sie ein Buch – Ihr Buch – auf und fangen an zu lesen. Und abends im Bett lesen sie immer noch. Wenn ihr Mann sich auf die Seite dreht und ihnen die Hand auf den Bauch legt, unweit des Nabels oder knapp unter den Brüsten, schieben sie sie weg. »Lass mich, noch ein Kapitel«, sagen sie und lesen weiter. Manchmal haben Frauen Kopfschmerzen oder ihre Tage, manchmal lesen sie ein Buch.

Ich werde auch diesmal nicht den Versuch unternehmen, Ihr Gesicht zu beschreiben. Die Miene, die Sie aufsetzten, als ich mein Exemplar von Befreiungsjahr vor Sie hinlegte. Ich

»Ist es ein Geschenk?«, fragten Sie mich, wie Sie das auch meinen Vorgänger gefragt hatten. Sie betrachteten mein Gesicht, das Gesicht, das Ihnen irgendwie bekannt vorkam.

»Nein, es ist für mich selbst.«

Sie signieren mit einem Füller. Einem Füller, auf den Sie nach jeder Signatur oder persönlichen Widmung die Kappe wieder aufschrauben. Sie haben Angst, er würde sonst austrocknen. Sie haben Angst, Sie würden selbst austrocknen, könnte ein Amateurpsychologe schlussfolgern, um Sie dann aufzufordern, etwas mehr über Ihre Eltern und Ihre Kindheit zu erzählen.

»Und Ihr Name?« Die Kappe war schon ab, der Füller schwebte über der Titelseite des Buches, ich musste an etwas denken. Ich betrachtete Ihre Hand mit dem Füller, Ihre alte Hand mit den deutlich sichtbaren Adern. Solange Sie atmen, wird das Blut Sauerstoff zu Ihrer Hand transportieren – solange können Sie auch an einem Tisch in einer Buchhandlung sitzen und ganz passabel geschriebene Bücher signieren.

Woran ich dachte, war dies: Ich dachte an Ihr Gesicht über dem Gesicht Ihrer Frau, Ihr Gesicht in einem halbdunklen Schlafzimmer, Ihr Gesicht, das sich langsam dem ihren nähert. Ich dachte von der Perspektive Ihrer Frau aus, wie sie Ihr Gesicht näher kommen sieht: die alten wässrigen Augen, das Weiße darin nicht mehr ganz weiß, die zerknitterten, schrundigen Lippen, die alten Zähne, nicht gelb, sondern vorwiegend grau, der Geruch, der zwischen diesen Zähnen hindurch die Nase Ihrer Frau erreicht. Es ist der Geruch, den

Der Geruch ist durchdringender als der gewöhnliche Altmänner-Geruch: der Geruch von Windeln, von Hautschuppen, von absterbendem Gewebe. Trotzdem muss es vor mehr als drei Jahren eine Nacht gegeben haben, in der sie in alldem eine Zukunft gesehen hat. Eine Nacht, in der sie beschloss, ein Kind von diesem ungemütlich riechenden Gesicht könnte eine Investition in ebendiese Zukunft sein.

Dass Ihre Frau eine Zukunft vor sich sah, das kann ich mir gerade noch vorstellen. Aber welche Zukunft sahen Sie? Sie hat ein Kind gesehen, das zuerst in ihr und dann außerhalb von ihr wachsen würde. Aber Sie? Wie sehen Sie sich demnächst am Eingang der Grundschule stehen, zwischen den jungen Müttern? Als ein zwar alter, aber berühmter Vater? Halten Sie kurzum Ihre Berühmtheit für einen Freibrief, in einem viel zu hohen Alter noch ein Kind in die Welt zu setzen?

Denn welche Zukunft gibt es für sie, für Ihre Tochter? Sie brauchen nur einen Blick auf den Kalender zu werfen. Diese Zukunft gibt es gar nicht. Im günstigsten Fall wird sie irgendwann mitten in ihrer Gymnasialzeit nur noch die Erinnerung an den Vater haben. Mitten im sogenannten schwierigen Alter, in dem ihre Mutter damals als Redakteurin der Schülerzeitung bei Ihnen klingelte.

Ich nannte meinen Namen, und wieder sahen Sie mich an, als würde Ihnen in weiter Ferne etwas dämmern – als hörten Sie ein Lied, das Ihnen bekannt vorkam, ohne dass Sie auf den Namen des Sängers oder der Sängerin kommen konnten.

Die Feder Ihres Füllers fuhr kratzend über das Papier. Sie bliesen kurz auf die Tinte, bevor Sie das Buch zuschlugen – und ich roch den Geruch. Sie sind schon fast nicht mehr da. Eine einzige Signatur, eine einzige Widmung auf der Titelseite Ihres Buches trennt Sie vom Grab und der

Und Ihre Frau? Ach, sie wird noch eine Weile die Witwe spielen. Vielleicht wird sie ihre Aufgabe sogar ernst nehmen und einem Biografen verbieten, aus Ihrer persönlichen Korrespondenz zu zitieren. Aber besonders wahrscheinlich scheint mir das nicht. Das Unter-Verschluss-Halten der Korrespondenz ist eher etwas für alte Witwen. Die Witwen ohne Zukunft. Ihre Frau ist jung. Sie wird schon bald an ein Leben ohne Sie denken. Wahrscheinlich denkt sie schon jetzt ab und zu daran.

Und wenn Ihre Tochter dann mit achtzehn einen offiziellen Ausweis (einen Pass, einen Führerschein) beantragt, wird man sie schon auffordern, ihren Nachnamen zu buchstabieren. Vielleicht wird sie noch sagen: Ich bin die Tochter von …

Von wem?

Ja, so wird es enden. Sie werden nicht in Ihrem Werk

Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher Ihre Tochter als Privatperson sehr diskret behandelt habe. So habe ich sie beispielsweise nicht beschrieben. In Situationen, in denen sie anwesend war, habe ich sie aus meiner Schilderung ausgespart. In Sensationsblättern werden manchmal die Gesichter von Prominenten-Kindern auf Fotos unkenntlich gemacht, um ihr Privatleben zu schützen. So habe ich auch die Anwesenheit Ihrer Tochter vorgestern beim Abschied nicht erwähnt. Ich erinnere mich, wie sie Ihnen durch das Rückfenster des Taxis zuwinkte. Vom Balkon aus sah ich ihr winkendes Händchen. Ihr Gesicht sah ich auch, aber ich beschreibe es nicht.

Auch aus Ihrem gemeinsamen Abendessen habe ich sie weggelassen, weil Sie das ohnehin schon getan haben. Noch vor dem Abendessen bringt Ihre Frau Ihre Tochter ins Bett. Vor dem schweigenden Abendessen. Sie haben natürlich das gute Recht, Ihre Tochter vorher abzuspeisen und ins Bett zu stecken. Es gibt Eheleute, die glauben, auf diese Weise ein bisschen was von der romantischen Zeit, als sie noch zu zweit waren, in die Gegenwart hinüberretten zu können. Etwas von der Zeit, als sie noch keine Kinder hatten. Aber wie soll das gehen, wenn Ihre Tochter älter wird? Wird sie sich wie ihre Mutter mit Ihrem Schweigen zufriedengeben? Oder wird sie Sie mit Fragen löchern? Fragen, aus denen Sie einen Nutzen ziehen könnten. Die Sie zu einem vollständigeren Menschen machen könnten – schon jetzt, obwohl sie noch keine vier ist.

Es gibt Kriege, in denen nur militärische Ziele unter Beschuss genommen werden, und es gibt Kriege, in denen jeder zur Zielscheibe werden kann. Sie wissen besser als jeder andere, welche Kriege ich meine. Sie schreiben darüber. Zu oft nach meinem Geschmack. Auch Ihr letztes Buch greift wieder auf den Krieg zurück. Genau genommen ist der Krieg Ihr einziges Thema.

Ich könnte Ihnen neues Material besorgen. Frauen und Kinder sind inzwischen im Luftschutzkeller untergebracht. Nichts hindert mich daran, Ihnen neues Material auf dem Silbertablett zu präsentieren. Dass ich Sie dabei als militärisches Ziel betrachte, sollten Sie als Kompliment auffassen.

Ganz neu ist das Material übrigens nicht. Man könnte besser von altem Material unter neuem Gesichtspunkt sprechen.

Ich gehe jetzt nach Hause.

Ich werde erst Ihr Buch lesen.

Heute Morgen sind Sie früher auf als sonst. Dabei ist doch Samstag. Als ich Sie ins Bad gehen hörte, war es auf dem Wecker neben meinem Bett neun Uhr. Den Geräuschen nach zu urteilen, haben Sie eine Duschwanne aus Edelstahl und einen verstellbaren Duschkopf – am liebsten mögen Sie einen breiten Strahl, jedenfalls klingt es wie ein heftiger Frühlingsschauer auf einem Ölfass, wenn Sie den Hahn aufdrehen.

Ich mache die Augen zu und sehe, wie Sie vorsichtig die Wassertemperatur prüfen. Da haben Sie sich schon ausgezogen, ein gestreifter Pyjama hängt ordentlich über der Rückenlehne eines Stuhls. Sie steigen in die Duschkabine. Das Dröhnen des Wasserstrahls auf dem Stahlboden wird leiser. Jetzt höre ich nur noch das normale Geräusch von Wasser auf einem nackten Körper.

Eigentlich sind Sie eher der Badewannentyp. Endloses Planschen. Kräuter und Öle, schön eincremen danach. Ihre Frau bringt Ihnen ein Glas Wein oder Port, setzt sich auf den Rand der Wanne, lässt die Hand ins Wasser hängen und macht mit den Fingern kleine Wellen. Wahrscheinlich verstecken Sie sich unter einer dicken Schicht Badeschaum – sie soll bloß nicht auf falsche Gedanken kommen! Gedanken über Sterblichkeit zum Beispiel. Oder über Autorenrechte, die im Falle Ihres Todes automatisch auf die direkten Erben übergehen.

Haben Sie Schiffchen? Oder Entchen? Nein, das ist eher

Ich traue Ihnen durchaus zu, dass Sie im Wasser einen fahren lassen. Einen lauten Furz mit ordentlich Luftblasen, der wie ein grollender Donner aufsteigt und ein Loch in den schaumigen Eisberg schlägt. Aber ob Sie dann auch lachen müssen, bezweifle ich. Sie machen ein ernstes Gesicht. Das ernste Gesicht eines Schriftstellers, der alles, was er von sich gibt, ernst nimmt, auch seine eigenen Fürze.

Aber wie auch immer, heute Morgen haben Sie sich ausnahmsweise für eine Dusche entschieden. Dafür hatten Sie zweifellos Ihre Gründe. Vielleicht haben Sie einen Termin und müssen sich beeilen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Sie allein zu Hause sind und niemanden rufen können, wenn Ihnen schlecht wird. Sie wären nicht der erste Schriftsteller, der tot in der Badewanne gefunden wird.

Ich versuche, Sie mir vorzustellen, wie das Wasser an Ihrem Körper herunterläuft. Nicht zu lange, denn angenehm ist die Vorstellung nicht. Meiner Ansicht nach entscheiden sich ältere Menschen eher fürs Duschen, weil sie dann ihren eigenen Körper nicht zu sehen brauchen. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich mich irre. Offenbar haben Sie selbst kein Problem damit. Offenbar macht er Ihnen nichts aus, der Anblick Ihres Körpers, wie er mit all seinen Falten und Runzeln auf die nahe Zukunft hinweist, in der es ihn nicht mehr geben wird.

Soweit ich das von hier aus beurteilen kann, nimmt Ihre Frau nie ein Bad. Dabei hätte sie nun wirklich keinen Grund,

Ich persönlich bedaure das. Denn ich bin nicht aus Stein. Ich bin ein Mann. In diesen zwei Minuten habe ich oft an sie gedacht, genauso wie ich jetzt an Sie denke. Über der Stuhllehne hängt dann kein Pyjama, sondern ein weißes Badetuch oder ein weißer Bademantel. Sie steht unter der Dusche, schließt die Augen und hält das Gesicht in den Strahl. Sie begrüßt das Wasser auf ihren Lidern wie einen Sonnenaufgang, den Beginn eines neuen Tages. Dann schüttelt sie kurz, aber heftig die Tropfen aus dem Haar. In einer Ecke der Duschkabine oder am Fenster des Badezimmers erscheint ein Mini-Regenbogen.

Das Wasser fließt ihr am Hals herunter. Seien Sie unbesorgt über das, woran ich dann denke. Ich werde nicht weiter ins Detail gehen. Ich werde ihre Schönheit nicht besudeln, nicht aus Respekt vor Ihren Gefühlen, sondern aus Respekt vor Ihrer Frau.

Der eigentliche Duschvorgang dauert also kaum zwei Minuten. Trotzdem hält Ihre Frau sich danach noch sehr lange im Bad auf. Manchmal male ich mir aus, was sie dort tut. Manchmal frage ich mich, ob Sie sich das auch noch hin und wieder ausmalen, oder ob Sie es einfach nur zur Kenntnis nehmen.

 

Heute Morgen zweifle ich auf einmal an dem Material. Dem neuen Material, das ich Ihnen zur Verfügung stellen könnte. Gestern Abend habe ich Ihr Buch gelesen, daher die Zweifel. Ja, in der Tat, ich habe Befreiungsjahr an einem Abend ausgelesen. Ich benutze absichtlich nicht Wendungen wie in einem Zug oder Rutsch – ich fing um sieben Uhr an und gegen Mitternacht hatte ich es aus. Nicht, dass ich es nicht hätte weglegen können oder, schlimmer noch, dass ich unbedingt hätte

Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber im Grunde geht es mir mit all Ihren Büchern so. Man beißt hinein und fängt an zu kauen, aber schmecken will es nicht so recht. Es fällt einem schwer, es runterzuschlucken. Einzelne Stückchen bleiben einem zwischen den Zähnen hängen. Andererseits ist es auch wieder nicht so ungenießbar, dass man den Ober an den Tisch winkt und das Ganze zurückgehen lässt.

Ich glaube, es ist alles viel einfacher: Auch der Verzehr einer misslungenen Speise macht uns um eine Erfahrung reicher. Wir haben den Teller leer gegessen. Wir fühlen, wie sich unser Magen auf einen harten Brocken gefasst macht. Vielleicht nehmen wir zum Kaffee noch einen Schnaps, um ihm die schwere Aufgabe etwas zu erleichtern.

So habe ich um Mitternacht, nachdem ich Befreiungsjahr weggelegt hatte, noch den Fernseher angemacht. Ich zappte durch die Kanäle, bis ich beim National Geographic Channel hängen blieb. Ich hatte Glück, es lief gerade eine Sendung, die ich mir immer mit Vergnügen anschaue. Sekunden vor dem Unglück, über Katastrophen in der Luftfahrt. Man sieht, wie die Passagiere – noch völlig ahnungslos – das Handgepäck verstauen und sich anschnallen.

Manchmal fängt es schon früher an. Beim Einchecken. Die Passagiere stellen ihre Koffer auf das Laufband und nehmen die Bordkarte in Empfang. Sie freuen sich auf einen wohlverdienten Urlaub oder das Wiedersehen mit Verwandten im Ausland. Nur wir, die Zuschauer, wissen in dem Moment bereits, dass sie auf ihren Urlaub und den Besuch bei den Verwandten lange warten können. Dass daraus nichts wird.

Zur gleichen Zeit wird am Flugsteig D 14 die Sunny Air Boeing 737 aufgetankt und einer letzten Kontrolle

»Linkes Triebwerk ausgefallen … rechtes Triebwerk ausgefallen … wir sinken auf dreißigtausend Fuß …«

Auf dem Radarschirm im Kontrollturm hört der Punkt plötzlich auf, ein Punkt zu sein.

»Hallo, Sunny Air 1622 …? Hören Sie uns noch, Flug 1622 …? Hallo, Flug 1622?«

Das kommt aber alles viel später. Jetzt geht es um den Anfang. Am Anfang ist alles noch ganz. Meistens denke ich noch weiter zurück. Ich denke an die Passagiere. Wie sie sich an diesem Morgen die Socken und Schuhe angezogen haben. Wie sie sich die Zähne putzten und mit dem Taxi oder dem Zug zum Flughafen fuhren.

»Haben wir alles? Hast du die Tickets? Hast du die Pässe?«

Ich persönlich bin der Ansicht, Flugschreiber sollten schon viel früher mit dem Aufzeichnen von Daten beginnen. Also nicht nur die letzte halbe Stunde der Gespräche im Cockpit. Das wirkliche Ausmaß einer Katastrophe verbirgt sich vor

Verweilen wir noch einen Augenblick bei der Hand. In den letzten Stunden ihres Daseins hat sie in dreißigtausend Fuß Höhe, während sie sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr neunhundert Kilometern pro Stunde durch die dünne, kalte Luft fortbewegte, noch in einer Zeitschrift geblättert. Sie hat eine Bierdose von der Stewardess entgegengenommen, die Fingerspitzen haben festgestellt, dass die Dose nicht eiskalt, aber doch kalt genug ist. In einem unbeachteten Augenblick hat die Hand mit einem Finger in der Nase gepopelt, dort aber nichts gefunden, was der Mühe wert gewesen wäre. Die Hand ist durchs Haar gefahren. Die Hand hat auf einem Bein in Jeans gelegen – und im Cockpit sieht der Flugkapitän genau in diesem Augenblick seinen Kopiloten von der Seite an und fragt: »Riechst du das auch?« Über ihren Köpfen gehen mehrere rote Lampen an.

Die Maschine sinkt in steilem Winkel und verliert schnell an Höhe. Die Kabine füllt sich mit Rauch. Zu Hause reckt und streckt sich die Katze auf dem Teppich vor dem Ofen und spitzt die Ohren: Da kommt die Nachbarin! Manchmal explodiert das Flugzeug in großer Höhe, ein anderes Mal gelingt es den Piloten trotz zweier ausgefallener Triebwerke gerade noch, die Landebahn des Militärflugplatzes auf der Koralleninsel zu erreichen. Eine Landebahn, die eigentlich für

 

Gestern Abend las ich Befreiungsjahr, und heute Morgen denke ich an Sie, während Sie unter der Dusche stehen. Ich bin mir wie gesagt wegen des neuen Materials noch unschlüssig. Man sagt, bei den meisten Schriftstellern wäre alles schon angelegt, ab einem gewissen Alter kämen keine neuen Erfahrungen mehr hinzu. Das haben Sie selbst mehrmals in Interviews behauptet. Ich höre und sehe Sie das sagen, neulich noch in der Kultursendung am Sonntagnachmittag im Fernsehen.

»Ab einem gewissen Alter nimmt man nichts Neues mehr auf«, sagten Sie – und da der Interviewer Ihnen wohlgesinnt war, tat er so, als vernähme er das zum ersten Mal.

Ich höre kein Wasser mehr. Sie trocknen sich ab, Sie rasieren sich und ziehen sich an. Bei jeder Flugzeugkatastrophe gibt es den einen Passagier, der zu spät kommt und seinen Flug verpasst. In diesem Flugzeug hätte ich sitzen können, denkt er. Das Leben geht weiter – die Socken wandern abends wie immer in den Wäschekorb.

Was, wenn Sie sich damals für eine andere Wohnung interessiert hätten? Aber vielleicht haben Sie die Entscheidung ja Ihrer Frau überlassen. Schließlich ist es eine nette Straße mit alten Bäumen, viel Schatten, kaum Verkehr, so gut wie keine spielenden Kinder. Letzteres ist vielleicht ein wenig schade für Ihre Tochter, darüber hätten Sie sich vielleicht doch Gedanken machen sollen. Aber für einen Schriftsteller, der glaubt, neue Erfahrungen seien nicht mehr nötig, ist es einfach die ideale Straße.

Sie haben sich damals nicht die Mühe gemacht, sich Ihrem neuen Nachbarn vorzustellen. Wozu auch, dafür haben Sie ja Ihre Frau.

Eine kleine, warme Hand.

»Willkommen«, sagte ich.

Bei dieser Gelegenheit fand Ihr Beruf noch keine Erwähnung. Das geschah erst später, als ich die Musik zu laut stellte.

In Sekunden vor dem Unglück kommt ein älteres Ehepaar vor, das zum ersten Mal in seinem Leben fliegt. Die Reise ist ein Geschenk der Kinder. Wie die anderen Fluggäste werden auch diese Eheleute von Schauspielern gespielt. In der Rekonstruktion der letzten Minuten von Flug 1622 finden sie beieinander Trost. Auch die Kinder kommen zu Wort. Die Kinder werden nicht von Schauspielern gespielt. Die Kinder sind echt.

Kurz und gut, ich weiß nicht, ob Sie mit dem neuen Material etwas anfangen können. Deshalb gebe ich es Ihnen einfach so, wie es ist. Sie sind völlig frei, damit zu machen, was Sie wollen. Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie einfach runter.

Es gibt Bücher, in denen der Schriftsteller selbst vorkommt. Als Figur. Oder es kommen Figuren darin vor, die sich mit dem Schriftsteller auseinandersetzen. Sie wissen bestimmt, welche Bücher ich meine. Sie haben sie selbst geschrieben.

Dieser Fall aber liegt anders. Ich bin keine Romanfigur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Während meiner Gymnasialzeit ist etwas passiert, was den Rest meines Lebens bestimmte. Im Gymnasium erproben Jugendliche ihre Kräfte. Sie gehen nicht nur bis an die existierenden Grenzen, sondern überschreiten sie. In Eltern und Lehrern sehen sie nicht mehr Erwachsene, die sie an die Hand nehmen, sondern Hindernisse auf dem Weg zur Selbstentfaltung. Sie zertreten ein Insekt, einfach nur, weil sie wissen wollen, ob das geht, und bereuen es hinterher – oder auch nicht.

Hier beginnt das neue Material. Ich bezweifle, dass Sie etwas damit anfangen können. Aber wie auch immer: Hier beginnt es.